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Sie weilten seit einigen Tagen in der toten Stadt. Ihr Aufbruch von Paris glich einer jähen Flucht. Sie hatten sich plötzlich ein Herz gefaßt, denn sie waren der Lügen und Verheimlichungen, der kurzen Begegnungen und flüchtigen Küsse, der ganzen Misere des Ehebruchs müde. Jede wahre Liebe schämt sich ihrer, wie ein König, der in Lumpen geht, um sich zu retten. Und ihre Liebe war edel und sollte das frei eingestehen. Sie wollte ihren Mann verlassen und er seine Frau, denn ihr Unstern hatte gewollt, daß sie beide unglücklich verheiratet waren. Sie wollten also ihr Schicksal verbessern. Und so war es denn geschehen.
Jetzt besaßen sie sich endlich! Und sie fanden hier alles, was sie brauchten: ein neues Land für ihr neues Leben. Alles fing von vorn an, nichts lag hinter ihnen. Sie kamen sich vor, wie junge Eheleute, wie ein glückliches Paar, das sich genug ist und mit der Ausschließlichkeit jeder tiefen Leidenschaft nach Einsamkeit verlangt und nach einer Stille, in der es nichts hört als sich selbst ...
Sie hatten sich also eine tote Stadt gewählt, die durch Bücher und die Begeisterung der Reisenden in Mode gekommen war, fernab im Norden und im Nebel. Sie schien so weit zu sein und war doch so nahe. Kaum einen Tag Eisenbahnfahrt, und schon waren sie sich wiedergegeben. Paris lag ihnen gleich so fern, und so fern auch ihre Vergangenheit. O, dieser plötzliche Abstand der Fremde und der Reise! Alles war hier so anders, die Leute auf den Straßen, die Häuser, die Färbung der Luft und der Himmel über den Dächern, ein niedriger, tief herabhängender Himmel mit scharf umrissenen Wolken, wie auf einem Gemälde ... Ein Hintergrund ohnegleichen, eine feine, silbergraue Atmosphäre und ein Rost der Zeiten auf den alten Mauern, ein ganzes schillerndes Wunder für Maleraugen. Er hatte sich vorgenommen, hier in der Stille zu arbeiten und diese unvergleichlichen Stadtbilder festzubannen. Es war ein jungfräulicher Gegenstand! Und welch ein Ruhm, das alles zu malen!...
Die beiden Liebenden hatten in einem alten Gasthause am Marktplatz, dem Belfried gegenüber, Wohnung genommen. Sie hatten sich hier eingemietet, weil es so altertümlich aussah mit seinem getreppten Giebel, darunter die rote Ziegelfront mit den frischen weißen Kalkstreifen zwischen den Steinen. Sie hatten auch gelesen, daß der große Michelet auf einer Reise hier vor sechzig Jahren abgestiegen war. Er, der über Weib und Liebe so lichtvolle und zartfühlende Worte geschrieben hatte, würde unsichtbar bei ihnen weilen; sein Bild, das diese Spiegel aufgefangen, würde sie lächelnd umschweben wie ein gütiger Schutzgeist ...
O, Süße der ersten zusammen verlebten Zeiten! Sie hatten sich endlich erobert! Sie begannen sich gegenseitig zu erfassen. Sie begannen auch die Stadt zu erfassen. Es war eine tiefe Trunkenheit ...
Die Tage flossen eintönig dahin. Aber ist das wahre Glück nicht immer eintönig? Sie schlenderten an den Kanälen entlang, in denen ein lebloses Wasser träumt. Bisweilen betrachten sie sich von den Brücken herab in diesem Wasser der Kanäle. Eine leere Flut, in der sich nichts zeigte als ihr Abbild ... Ihre Gesichter schmiegten sich aneinander, aber sie waren ganz bleich, ganz fern, in einem Abstande, der dem ihres Fernseins und der Erinnerung glich. Sie sahen so traurig aus in diesem Spiegel! Es war, als betrübte es sie, nur mehr als ein Abglanz, ein flüchtiges Bild zu sein, das auf dem Wasser bebt und darin versinkt ...
Eine tiefe Schwermut herrschte überall. Und ihre Liebe bekam etwas davon ab, sie wurde matter und zärtlicher. Es war etwas von der Liebe, wie man sie vor der Trennung fühlt. Es war wie Liebe in einem Lande, wo Krieg herrscht, wie in einer Stadt voller Seuchen. Eine Liebe, die durch die Nähe des Todes herausgefordert wird ... Denn hier herrschte der Tod. Die Stadt war wie ein Museum des Todes. Er wollte jeden Tag an die Arbeit gehen. Aber wozu doch wirken und schaffen in dieser Stille, wo alles zerfiel? Voll Überschwang hatte er die Bilder der alten Meister betrachtet, die hier aufbewahrt wurden: Triptychen der Verkündigung und Kreuzigung, Reliquienbehälter mit miniaturhaft feinen Medaillons und Bildern der knieenden Stifter auf den Seitenflügeln – lauter Meisterwerke der alten Maler, deren Finger Gott berührten wie die der Priester! Sie hatten gemalt, wie man betet.
Was sollte man nach ihnen versuchen? Die Vergeblichkeit des Bemühens war zu augenscheinlich. Und dazu der Stachel des Ruhmes, die Vergänglichkeit der Tage, die Grausamkeit des Lebens, das mit den Geschöpfen weniger Mitleid hat als mit den Dingen und alle die gemalten Gesichter dort erhält, während die von Fleisch und Bein zu Gott weiß welchem Schmutz und Staub geworden sind!
Die beiden Liebenden verbrachten die Tage in langsamem Umherstreifen ... Bisweilen gerieten sie wohl auch in eine Kirche. Aber auch hier wich der Bann des Todes nicht... Der Boden war bedeckt mit großen Leichensteinen, unter denen Bischöfe, Erbauer, berühmte Pfarrkinder schliefen, und ihre Namen, Titel, Geburts- und Todestage waren unter dem Schritt der Jahrhunderte allmählich verwischt... Es war ihnen, als ob ihre Liebe über den Tod schritte.
Selbst in den Nächten, in denen Kuß auf Kuß sich folgte, erschraken sie bisweilen über das Glockenspiel, das alle Viertelstunden von dem Belfried herüberschallte. Ein langsamer, unbestimmter Klang, der von weither zu kommen schien, von ihrer Kindheit her und aus dem Schoß der Zeiten ... Es war wie der Fall eines welken Blumenstraußes, wie ein Herbst von Klängen, der seine toten Blätter über die Stadt ausschüttete ... Die Liebenden lauschten, von banger Unruhe ergriffen. Ihre Küsse stockten. Grollte die fromme Stadt ihrer Liebe? Und forderte ihre Lebensglut in diesen stillen Stunden wohl gar den Tod heraus, der hier herrschte? Zögernd suchten sich ihre Lippen wieder, wenn der letzte Schlag verklungen war. Und lange noch behielten ihre Küsse den Nachgeschmack von kalter Asche ...
Auch das Glockenspiel wirkte entmutigend, wie die Nähe des Todes ...
Sie begann sich zu langweilen. Und gerade sie hatte den Gedanken gehabt, hierher zu gehen. Alle Liebenden haben diese Sucht nach Einsamkeit, um nur für sich zu leben. Sie schaffen sich gegenseitig eine neue Welt, in der sie nur zu zweit sind. Aber diese beiden hatten den Tod nicht mitgerechnet, der sich hier plötzlich dazwischendrängte ... Ja, ihre Liebe schritt über den Tod. Alles in der toten Stadt war unaufhörlich im Sterben. Sie war als verwöhnte Pariserin in allen Geruchsempfindungen Meisterin und besaß ein scharfes Unterscheidungsvermögen, eine verfeinerte Entwicklung des Geruchsinnes.
Hier trug alles den Geruch des Todes ... Die alten Mauern an den Kanälen schwitzten aus ... Es war ein Salzgeruch von alten Tränen. Die alten Häuserfronten mit ihren Wasserflecken gemahnten an giftige Tättowierung. In den Kirchen herrschte ein dumpfiger Geruch von Schimmel, abgestandenem Weihrauch und welken Altartüchern, die in der Sakristei vielleicht in einem Schranke moderten, dessen Schlüssel seit Jahrhunderten verloren ist. Derselbe Totenduft verbreitete sich über alle Stadtteile. Es war, als ob Mumiensärge geöffnet worden wären – oder das alte Grab der Zeiten ...
Sie litt unter diesem beharrlichen Geruch, der ihr die Lebensfreude täglich mehr benahm. Vor allem aber schien ihr Geliebter ihr kühler zu werden, ihr wie allem gegenüber. Ihre Küsse wurden seltener. Das Glockenspiel störte sie nachts nicht mehr. Sie schliefen nicht mehr Arm in Arm; ihre Liebe lag zwischen ihnen, so kalt und unbeweglich wie das Wasser der Kanäle zwischen den steinernen Uferborden ... Da sie seine ziellose Lage sah, fragte sie ihn:
»Warum arbeitest du nicht?«
»Morgen,« war die Antwort.
Er antwortete stets »morgen«. Er machte Pläne, wählte einen guten Platz aus, fing auch eine Skizze an, hörte aber wieder auf und verschob es noch einmal. Er spürte keine Arbeitslust, er, der hier so schön zu arbeiten gehofft, der sich zuerst so für diese Anordnung von Kanälen, Baumreihen und Türmen unter einem silbergrauen, einzigen Himmel begeistert hatte! Dieses Licht wiedergeben! Der Maler dieser toten Stadt zu sein, wie Turner der Venedigs ...
Sie war wie für die moderne Kunst geschaffen, ein Ideal der Freilichtmalerei! So dachte er im Anfang. Aber durch irgend einen Zauberspuk begann er, je länger er darin verweilte, je mehr er die Rassenkunst ihrer alten Meister bewunderte und anbetete, ihrem Einfluß allmählich zu erliegen. Die Töne dunkelten ihm auf der Palette, als ob der Schatten jener Toten darauf fiele. Die Linien seiner Zeichnung erstarrten. Er fing an, Jungfrauen, Goldwäger und Stifter zu malen. Er ahmte die alten Meister nach. Nicht lange, so kopierte er sie bereits. Es war ihm, als ob jedes andere Kunstideal als das ihre hier Gotteslästerung wäre. War es nicht lachhaft, unter ihnen seine Persönlichkeit zu wahren? War das nicht armselig wie eine Kerze, die im Sonnenschein brennt? ... Der Maler war besiegt. Auch hier triumphierten die Toten, und der Tod behielt recht über das Leben ... Die tote Stadt ließ die neue Kunst dahinwelken, wie sie die neue Liebe hatte welken lassen.
Die beiden Liebenden wurden immer ernüchterter über einander wie über alles. Er sah so verändert aus, er war mürrisch und langweilte sich ... Er sagte nichts und beklagte sich nicht, aber in seinen Augen schimmerte es wie Heimweh. Sein altes Leben lockte ihn insgeheim. Sprach seine Gefährtin einmal von Paris, so unterbrach er sie schnell, wie um eine Versuchung abzuwenden, der er sich auf die Dauer doch nicht gewachsen fühlte... Eine große Entfremdung keimte zwischen ihnen auf. Die Bande, die sich zwischen ihnen knüpften, schienen gelöst, sie wurden einander gleichgültig. Und wie hatten sie in den Monaten ihrer heimlichen Liebe danach gedürstet, sich so schrankenlos Tag und Nacht anzugehören und nichts zu sehen als sich selbst! Trotzdem war nichts geschehen; keiner hatte dem andern durch die vollständige Intimität ihres gemeinsamen Lebens eine Enttäuschung bereitet. Nichts hatte Anstoß gegeben, kein Streit war entstanden.
Was also ging in ihnen vor? Er ging jetzt fortwährend aus und immer allein ... Er stahl sich für ganze Nachmittage fort, kam spät zurück und legte sich zu Bett, ohne ein Wort zu sagen. Eines Abends erklärte er, daß er einen Brief aus Paris erhalten hätte. Sein Bilderverkäufer schriebe ihm in einer wichtigen Angelegenheit, die er persönlich erledigen müßte.
»Lüge nicht! Du liebst mich nicht mehr. Du willst fort!« sagte sie niedergeschlagen, aber ohne irgend eine innere Erregung, nur traurig, wie man es bei unabwendbaren Dingen ist.
Er versuchte nicht zu leugnen.
»Ja, die Stadt ist daran schuld!« seufzte er.
»Es ist nicht unsere Schuld,« stimmte die Frau bei. »Der Tod ist hier stärker als die Liebe,« sagte sie bleich und betrübt.
Dann saßen sie lange und still und dachten an die tote Stadt, ihre tote Leidenschaft und sich selbst. Sie hatten sich durch das Übermaß ihrer Liebe selbst den Tod gegeben, und nun waren sie auferweckt, wie Lazarus, und mußten ein neues Leben beginnen – ein jeder für sich.