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Chenue fühlte sich sehr unglücklich. Er war wieder einmal umgezogen, nachdem er über seine neue Wohnung alle möglichen Erkundigungen und Auskünfte eingezogen, alle möglichen Fragen gestellt hatte. Diesmal hoffte er eine ruhige Wohnung, stille Nachbarn mit Teppichen und Decken, kurz, einen Dunstkreis des Friedens gefunden zu haben. Kaum war er eingezogen, so überzeugte er sich, daß alle seine Vorsichtsmaßregeln umsonst gewesen waren. Was der Portier ihm beteuert hatte, war nichts als Lüge. Die Mieter über ihm trampelten auf dem blanken Parkett herum. Kein Teppich, nicht einmal eine Strohmatte, die ihre Schritte etwas dämpfte. Es war, als ob sie ihm zum Trotze da oben herumliefen, genau über seinem Kopfe. Und keinen Augenblick Pause! Es war, als ob sie ewig in Unruhe waren, wie wenn ein Verrückter bei ihnen hauste oder sie stets im Umzug begriffen, mit Reisevorbereitungen beschäftigt wären. Es sollte also von neuem beginnen, dieses Martyrium, dieses ewige Gefaßtsein auf den Lärm von Schritten oder das Rücken von Möbeln, das, so wenig laut es sein mochte, ihm doch körperlich weh tat, wie eine Berührung oder ein Schlag.
Chenue war verzweifelt. Er hatte immer diese Angst vor Geräuschen, diese krankhafte Liebe zur Ruhe gehabt. Er erinnerte sich, wie er schon als Knabe im Elternhause, das dicht neben einer alten Kirche lag, unter der Glocke gelitten hatte. Es krampfte sich ihm jedesmal alles zusammen, er fühlte sich vergewaltigt, mit der Glocke hin- und hergeschwenkt und wartete mit wahrer Herzensangst auf das Aufhören der Schläge. O unbestimmte Grenze des Lärms, Beginn des Schweigens, minutenlanges Helldunkel des Klanges! ... Wenn endlich Stille eintrat, war es ihm, wie das Aufhören eines Schmerzes, wie das Verharschen einer Wunde, in ihm wie in der Luft ... Daneben die gewaltsamen Geräusche, die ihn schier wahnsinnig machten. Er dachte an die Gewitternächte zurück, an die Furcht, nicht vor dem Blitz, der das ganze Zimmer in blendendes Schwefellicht taucht, sondern vor dem Krachen des Donners. O, diese Erschütterung! Ihm war, als ob der Blitz ihn durchführe; er sah sich blaß, rot und aufgeschnitten daliegen, wie einen anatomischen Durchschnitt. Die Angst davor war so unerträglich, daß er sich in die Schränke verkroch, sich die Ohren mit Watte und den Fingern zustopfte.
Heute tat ihm schon das geringste Geräusch ebenso weh ... Es war ihm wie eine langsame Hinmarterung, all diese unnennbaren Geräusche, dieses Knacken und Treten, dieses Atmen und Sprechen, dieses ewige Gehen. Die Qual war um so grausamer, weil sie stückweise kam, um so unerträglicher, weil ununterbrochen. Eine abgefeimte Tortur, ein Brennen und Stechen an der Schwelle des Gehörs, weit schlimmer als ein großer Schlag, mit dem alles zu Ende ist. Viel lieber hätte er gehört, daß das Dach mit einem Male zusammenkrachte, als dies unaufhörliche Gehen und Kommen über seinem Kopfe, dieses Trapsen von Füßen, dieses Rücken von Möbeln, dieses Anstoßen und Fallen, dieses Lachen und Klavierspielen, dieses ganze fremde Leben, von dem er nur die Geräusche vernahm, und das sich ihm doch mit seiner ganzen Brutalität gebieterisch aufdrängte, als ob die anderen bei ihm und er bei den anderen lebte. Er gehörte sich nicht mehr selbst an.
Chenue sagte sich, daß diese Pariser Mietswohnungen eine Barbarei wären, und es kam ihm unbegreiflich vor, daß eine so feinfühlige und empfindliche Bevölkerung sich darein fand, ohne unverzüglich zu einer jener Revolutionen zu schreiten, die sie früher für soviel weniger unternommen hatte. Wo anders lebt jeder für sich und auch die Ärmsten haben ihr Häuschen allein. Hier muß man reich sein, um das kleinste Haus zu besitzen. Aber Chenue hatte nur beschränkte Mittel, und so sah er sich für ewige Zeiten zu diesem qualvollen Leben in Mietswohnungen verdammt. Bis an sein Lebensende sollte er in einem dieser riesigen Kästen hausen, wie die Bienen in einem Bienenstock. Aber die Bienen haben wenigstens die gleiche Körperbeschaffenheit, sie verrichten die gleiche Arbeit und haben die nämlichen Gewohnheiten in ihren Zellen. Ihre Nachbarschaft macht sie einander ähnlicher, sie stellen ihre beiden Flügel in den Dienst der gemeinsamen Aufgabe, und, was noch besser ist, geben dem Schwarm seine Einheitlichkeit. Die Menschen dagegen sind so verschieden in ihren Sitten und Lebensgewohnheiten. Welche Barbarei, sie zusammenzupferchen, sie nebeneinander zu setzen, daß sie kaum durch eine Wand von einander getrennt sind und die benachbarten Schicksale durchscheinen, wie Wasserzeichen im Papier!
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Chenue litt in seiner neuen Behausung mehr denn je unter seinen Nachbarn, den über ihm wohnenden ebenso, wie den unter ihm wohnenden. Sie waren gleich störend und führten ein Dasein, das von dem seinen zu sehr verschieden war. Alle Stunden kamen sie sich in die Quere; ihre Lebensgewohnheiten lagen in fortwährendem Kampfe miteinander.
Und bei alledem dünne Wände und schallende Böden ... Chenue war nicht mehr sein eigener Herr. Ja, die anderen lebten bei ihm und er bei den anderen! Trotzdem hatte er alle Vorsichtsmaßregeln gebraucht, hatte Nachbarn ohne Kinder gesucht, um allzu großen Lärm zu meiden. Und in der Tat: unter ihm wohnte ein Junggeselle und über ihm ein kinderloses Ehepaar. Aber der unten war ein liederlicher, dem Trunke ergebener Geselle, hatte stets Damenbesuch bei sich, hielt sich eine zänkische Maitresse und feierte die halbe Nacht durch Orgien. Das Ehepaar über ihm war erst jung verheiratet und sehr verliebt... Zwischen diesen, beiden Interieurs lebte er also und fing, ob er wollte oder nicht, ihre intimsten Angelegenheiten auf, wie ein Spiegel die Bilder. All das Schreien und Zanken, das grobe Gelächter, das Stuhlrücken der angetrunkenen Nachtgäste drang zur selben Zeit herauf, wie das Küssen, Rucken und ununterbrochene Flüstern der Liebenden herunter. Chenue war müde und wollte schlafen. Aber allabendlich, wenn er im Bette lag, drangen dieselben Geräusche auf seine Ohren ein. Sein Gehörsinn schärfte sich bis zum Wahnsinn; seine angeborene Empfindlichkeit steigerte sich bei dem nächtlichen Lauschen. Er unterschied schließlich die feinsten Nuancen des Lärms, das Alter der Stimmen, all diese Gegensätze der beiden Lebensbilder, zwischen die er eingespannt war... Seine Nerven zuckten in tötlicher Qual, wie er so mit zermarterten Ohren auf seinem Kissen lag und sich in seiner Schlaflosigkeit hin und her warf. Er horchte auf die Geräusche, wie man auf die Schritte des Henkers lauscht. Alle seine Sinne mischten sich bald hinein und gerieten in dasselbe Fieber. Seine Augen steckten sich an seinen Ohren an... Und während er so dalag, ohne einschlafen zu können und das Ende der Orgien unten oder der Ermattung oben abwartete, marterten die flackernden Schatten des Nachtlichtes seine Augen, bald eine gestaltlose Masse an die Decke werfend, die wie im Rausche schwankte, bald die atemlose Mimik der Liebe nachahmend.
Chenue wollte endlich für sich allein sein! Er hatte genug davon. Er fühlte nicht mehr sein eigenes Leben, sondern nur noch das ihre. Nicht eines seiner Gefühle, nicht einer seiner Gedanken gehörte ihm. Er kam müde nach Hause und versuchte, ein ernstes Buch zu lesen. Aber da zwang ihn das Liebespaar zu sinnlichen Gedanken, vor deren Einfluß es sich sein Leben lang nach Kräften bewahrt hatte ... Frauen kamen ihm in den Sinn, und die Nacktheit lachte aus dem Weiß der Seiten, nur wegen der da droben. Ein anderes Mal wachte er bei Hellem Sonnenschein auf, mit dem holden Gefühl einer grundlosen Freude, wie man in der Kindheit erwacht, und sofort wurde unten ein Gezänk laut, ein Streit zwischen dem Trunkenbold und seiner alten Maitresse, das ihm die Häßlichkeit des Lebens und das Ende fast aller glücklichen Dinge veranschaulichte.
Er mußte eine Abhilfe gegen die doppelte Qual seines Lebens finden, die sonst ja überall wieder anfangen würde, unter irgend einer anderen Form. Er dachte nach. Die Wissenschaft hat so viele Mittel zur Abhilfe gefunden. Die Erfinder haben in der Physik wie in der Chirurgie die schlimmsten Schwierigkeiten überwunden und ganz anders komplizierten Mißständen abgeholfen. Er wollte auch Erfinder sein. Ein Mittel zur Erstickung von Geräuschen zu erfinden müßte eine Kleinigkeit sein im Vergleich zu der Erfindung, die den Blitz ablenkt. Gerade der Blitzableiter brachte ihn auf einen Gedanken. Er begriff, daß er mit den Telephon verbunden werden mußte ... Es ließe sich derart ein einfacher Apparat konstruieren, der wenig umfangreich und leicht herzustellen oder zu transportieren war, ein Apparat, der alle Geräusche absorbierte oder aufhob. Nicht lange, so ging er an die Arbeit, kaufte sich Instrumente, einen Werktisch, Holz, Glas, Metalle, Reflektoren, Magnete, und begann mit der Konstruktion seines »Lärmableiters«.
Bald genügten die Schiefertafeln nicht mehr. Er kaufte sich eine große schwarze Wandtafel und schrieb auf sie mit dünner Kreide, die ihre weiße Schneckenspur auf dem dunklen Grunde hinterließ, seine Berechnungen, Resultate und Beweise, eine ganze kribbelnde Landschaft von Ziffern, ein Gebäude von geometrischen Figuren, die schließlich den Aufriß seiner Maschine ergeben mußten. Ja, es mußte ihm gelingen! Er brauchte nur zweimal zu kombinieren: den Blitzableiter und das Telephon. Das Telephon ist ein offenes Ohr, das jederzeit hört und den geringsten Laut einer Stimme aufnimmt. Ein solches Ohr mußte er konstruieren, aber nicht nur für die hineinsprechende Stimme, sondern für alle Geräusche, ein Ohr, das den geringsten Laut, den kleinsten Stoß auffängt und auf sich lenkt, selbst das Schwirren eines Insekts und das Knacken im Holze...
Aber zweitens mußten alle Geräusche vernichtet werden. Hier kam der Gedanke des Blitzableiters zur Anwendung. Chenue sagte sich, daß es genügen würde, eine unmerkliche Verbindung mit den Nachbarn herzustellen, durch die alle bei ihnen entstehenden Geräusche in seinen Apparat geleitet würden, um alsdann eine andere Verbindung nach außen zu schaffen, durch die die nämlichen Geräusche sich im weiten Raume verlören, wie der Blitzstrahl im Wasser eines Brunnens ... Also erst auffangen und dann aufheben... Das war einfach und herrlich! ... Und er konnte sich dann in den Mietswohnungen einer absoluten Ruhe erfreuen, durch die er auf Erden schon den köstlichen Vorgeschmack der Ewigkeit haben würde.
Chenue kaufte sich einen Apparat... Er experimentierte. Es waren noch einige Mängel daran... Aber er fing wieder an... Sein Glaube war felsenfest. Und seine Freude gleichfalls. Nicht einen Augenblick zweifelte er am Siege. Den ganzen Tag lang dachte er an sein Werk. Und nach Erledigung der verdrießlichen Brotarbeit, zu der ihn das Leben zwang, kehrte er schnell nach seiner Wohnung heim, setzte sich an den Werktisch, sägte Plättchen, schmolz Metalle, spannte Fäden und stellte neue Berechnungen an, die ihn zur Gewißheit, zum untrüglichen Ergebnis führen mußten.
So lebte er frohen Muts, ganz in seiner Arbeit aufgehend, vor Fieber und Erwartung bebend. Sein fixer Gedanke machte ihn vollkommen glücklich. Indem er einen Traum verfolgte, litt er nicht mehr am Leben. Er hörte sie nicht einmal mehr, die lästigen Geräusche seiner Nachbarn, weder die Küsse des liebenden Paares bei sinkender Nacht, noch das Gezänk des Trunkenboldes mit seiner schreienden Maitresse am frühen Morgen. Er hatte seinen Gesichtssinn ganz in den Dienst seiner komplizierten Erfindung gestellt. Und da die Gesamtleistung der Sinne sich stets gleich bleibt, nahm sein Gehörsinn um soviel ab. Er hörte nichts mehr von Geräuschen, denn er war durch etwas anderes abgelenkt. So wurde der »Lärmableiter«, von den er träumte, ihm gewissermaßen zur Wirklichkeit, denn er trug ihn ja in sich. Und ist das für seinen Ruhm nicht das gleiche?