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Am Abend

An diesem frühen Septemberabend ziehen Liebespaare vor meinen Fenstern vorbei, zahlreich, ununterbrochen, hastig dem einsamen Boulevard zustrebend. Man möchte sagen, sie sind auf der Flucht. Sie sind den benachbarten Straßen mit ihrem Lärm und Geschäftstreiben, ihren Pferdebahnen und Cafés entronnen, um sich in die plötzliche Stille einer fast verlassenen Straße zu retten. Unverhoffte Erfrischung! Mächtige Bäume werfen Schattenkreise über das Halbdunkel der Bürgersteige. Paar auf Paar folgt sich. Sie suchen eine weniger belebte Stadtgegend auf. Und plötzlich ist es, als ob sich das offene Land vor ihnen auftäte. Die Festungswälle zeichnen Hügelprofile an den Nachthimmel. Man hört Blätter rauschen und den Wind durch das Gras säuseln. Er kommt von weit her geweht. Man fühlt sich wie auf der Reise. O, dies Bedürfnis nach Einsamkeit bei allen Liebenden! Sie möchten endlich für sich sein. Es gibt Dinge, die Liebende nur dann fühlen und sich sagen, wenn sie im Schoße der Natur oder angesichts des Abends sind. Die Paare gehen und kommen. Es ist eine ununterbrochene Reihe. Unaufhörlich kommen neue. Die Einen sind ohne Zweifel erst ein paar Schritte zusammen gegangen. Andere reden sich gerade vor meiner Wohnung an ... Alle diese abendlichen Paare gleichen sich und machen sozusagen dieselben Gebärden. Immer geht der Mann am Arme des Mädchens. Warum? Das ist ein Zeichen, daß die Beziehungen erst angefangen haben. Der Mann demütigt sich. Er scheint sich unterzuordnen. Sein Arm gleitet schmeichelnd in den des Mädchens, in die Nähe ihres Herzens. Ist dies eine Taktik der langsamen Eroberung? Eine instinktive Erkenntnis der Abhängigkeit und Sklaverei? O Demut der Mannesliebe! Statt den Arm zu bieten, nimmt er ihn. Ein Zugeständnis der Unterordnung, ein Efeuranken an der Mauer. Er stützt sich auf sie und läßt sich führen. Er ist nicht der Herr, sie ist alle Zeit die Herrin, wie der Sprachgebrauch es unbewußt zugesteht. Aber die Liebe macht im Anfang gleich, sie unterbindet diesen Kampf der Großmut. Die Liebenden, obschon der Mann sich unterworfen hat, als er den Arm des Weibes nahm, gehen in gleichem Schritt. Das ist das sicherste Zeichen aller dieser Paare, die jetzt vor meinen Fenstern in die sinkende Nacht hinausspazieren. Sie gehen im Gleichschritt. Ein idealer Einklang herrscht in ihrem Gange. O Wunder der Liebe, die da gleichmacht! Diese Einheit des Paares! Und darum empfinden beide auch zugleich und in derselben Weise. In die sinkende Nacht hinein gehen die Liebenden, nicht nur körperlich gleich, auch geistig. Wie sie dahinschreiten, diese abendlichen Paare! Sie sprechen wenig. Man hört ihre Stimmen nicht, es ist ein vertrauliches Geflüster. Die Festungswälle werden schwärzer, drohend ...

Wehmütige Trompetensignale klagen in die Ferne. Ohne Zweifel lieben die Liebenden diese Schwermut, da sie sich dorthin aufgemacht haben. Sie beschleunigen ihre Schritte. Die Sonne verflammt. Es ist, als fürchteten sie, von dem Schatten verschlungen zu werden, in dem sie sich nicht mehr sehen können. Wie sie wiegenden Schrittes vorbeiziehen, diese abendlichen Paare, alle in denselben ernsten Traum versenkt! Alle scheinen sie fast traurig jetzt. Ist es wegen des Abends? Oder um ihrer selbst willen?

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Ich blicke ihnen nach, ich begleite und beobachte sie, ich beneide sie, setze sie zusammen und löse sie wie Rätsel, wie zerstreute Mosaiken von einem und demselben Grabe. Welch ein verlockendes Mysterium liegt doch in diesen vorüberziehenden Problemen. Eine einzige Seite des Romans wird uns gegeben, und wir wissen nicht, wie er angefangen hat ... Welch geheime Freude, in sich zu vollenden, sein Ende und seinen Anfang zu erraten!

Es ist manchmal ganz einfach. Dies ist ein Paar aus dem Volke, das Mädchen in rosa Kattunbluse, gebräunt, schlank und feurig jedenfalls das älteste Kind einer zahlreichen Familie drunten in einer der großen Arbeitervorstädte. Ihr Lenz bereitet ihr Pein. Sie wird augenscheinlich nicht zu viel Umstände machen, wenn die Nacht ganz herabgesunken ist ... Der Mann ist ein Erdarbeiter, der von seiner schweren, schmutzigen Arbeit kommt. Zäher Staub sprenkelt seine Backen, seine Hände und den blauen Sammet seines Kittels gelb. Aber unter dem Staub lachen seine grünlichen Augen, blitzen seine schneeweißen Zähne, brennt die blonde Flamme seines Schnurrbarts. Man sieht, er braucht sein Gesicht nur ins Wasser zu tauchen, um es frisch und frei hervorzuziehen, in der Schönheit der Jugend und des Volksblutes. Trotzdem sind auch sie nicht fröhlich.

Sie sind ernst. Es ist vielleicht das erstemal, wo sie sich ein Stelldichein gegeben haben und allein gehen. Also ist es auch das erstemal, wo sie sich Gedanken machen. Sie denken an die Zukunft, das harte Leben, die Kinder, den kargen Lohn. Sie fürchten sich bereits. Ich verfolge ihr Schicksal nicht ohne Schwermut. Heute sind es noch die schönen Lügen, die gierigen Küsse, der weiße Wein und die Leckereien unter der Sommerlaube eines Weinhändlers da unten.

Die meisten anderen Paare sind schwerer zu lösen. Junge Leute ohne ausgeprägte Individualität, Ladendiener, kleine Beamte und Künstler, Arm in Arm mit Arbeiterinnen, Modellen, Lehrerinnen und bisweilen auch Unbekannten, die sie eines Tages auf gut Glück angesprochen haben, und von denen sie nichts wissen. Namentlich die Mädchen weisen mannigfache und verwickelte Typen auf. Einige sind kleine frühreife Dinger von sechzehn Jahren, deren Brust sich unter ihrem Tuchkittel schüchtern rundet. Andere sind zwischen dreißig und vierzig, Witwen, geschiedene Frauen, die unglücklich waren; es sind Die, welche »zum zweitenmal anfangen«, die unheilbar Sehnsüchtigen, die immer noch hoffen und nach zwanzig Verhältnissen sich noch einbilden, daß sie die richtige Liebe noch nicht gefunden haben.

Ach, alles, was sich sucht, anbietet, zugrunde richtet, täuscht, geht Schulter an Schulter neben dem Glück! Hat man je eine Wahl über seine Liebe? Das Schicksal knüpft die Fäden und hält sie von Urbeginn an in festen Händen ... Jetzt kommt ein neues Paar gegangen. Wer hat es zusammengeführt? Welcher Zufall hat aus diesen beiden Menschen ein Liebespaar gemacht? Das junge Weib ist so vertrauensvoll. Sie geht schräg vor ihrem Liebhaber her, um ihm ins Gesicht zu blicken, es sich einzuprägen und gleichsam wiederzuspiegeln. Vielleicht kommt es daher, daß die Liebenden sich schließlich ähneln, wie das Meer der Sonne ähnelt, wenn es sie wiederspiegelt und auftrinkt.

Der Liebhaber geht diesmal nicht im Gleichschritt; sein Gang ist schneller. Auch er hat den Arm des Weibes ergriffen, aber nur, um seinen Arm um ihre Hüften zu schlingen. Es ist die Umarmung einer Schlange, die sich auf gewundene Weise einschmeichelt. Der Mann macht einen schlechten Eindruck. Er hat etwas Zweifelhaftes. Sein Gesicht trägt einen falschen Zug, er zeigt beim Sprechen nur sein Profil und fährt fort, seinen eigenen Schritt zu gehen. Seine Gefährtin merkt es nicht. Sie ist vertrauensvoll. Ach, wie bald wird ihr Traum zerronnen sein! Sie glaubt an ihn. Sie hat nur ein Wort auf den Lippen? »Ewig!« Und er – er denkt ohne Zweifel schon an den Bruch. Er will diese, wie er viele andere gewollt hat, aber nicht für lange. Vor allem liegt ihm an der Freiheit. O, welches Unheil ist hier im Zuge! Armes Mädchen, das nichts sieht, nichts fürchtet und dahingeht wie auf einem Feste, mit wiegenden Schritten, den Schritten der Wiege, die sie vielleicht schon selbst ist! ... Und dann – um der Schande zu entgehen, die ihr in dem strengen Beamtenhaushalt ihrer Eltern droht –, dann geht sie in den Tod, mit dieser selben verzückten, schlafwandlerischen Miene, in die Seine, in die Morgue ...

Wie sie sich gegenseitig anlocken, diese abendlichen Paare! In diesem Augenblick gehen sie in gleichem Schritt und Tritt. Aber bald wird jeder wieder seine eigenen Wege gehen. Arme Liebende, von denen der eine schnell den hastigen Schritt des Lebens wieder aufnimmt, während der andere im wiegenden Schritt der Liebe weiter gehen will! Wehe dem, der dem Schicksal trotzt! Wehe dem, der zu heiß liebt! Liebe und Tod sind durch geheimnisvolle Gänge mit einander verbunden, und man kommt von dem einen so schnell zum andern. Die Nacktheit der Liebe gewöhnt uns an die Nacktheit des Todes. Dieser Gedanke will nicht von mir weichen, während die Paare in das wachsende Dunkel hineinwandern ... Die schwärmerische Geliebte von eben mit dem arglistigen Liebhaber wird den Sturz aus so hohen Träumen nicht entsagungsvoll hinnehmen. Ein unheimliches Feuer glühte in ihren Augen. Sie gehört zu denen, die lieber Tod als Entsagung wählen. Ich sehe ihr helles Haar in der Ferne noch unter dem schwarzen Hut leuchten, noch feuriger und fast rot im Dämmerschein ... Ein Blutflecken, der schon geboren ist, und den sie allein noch nicht sieht ...

Ein anderes Paar naht. Es ist noch ganz jung. Das Mädchen weint. Dies ist gewiß ein Liebespaar, das Verdruß hat. Sie erzählen sich von den neuen Hindernissen, den Auftritten, dem Widerspruch der Eltern, der Unmöglichkeit, sich anzugehören. O, wenn nur der Name des Todes nicht unter ihren Worten fällt! Die Versuchung wäre zu stark. Welch jähe Wonne bringt nicht der Gedanke, daß man sich angehören könnte und dann sterben! Von der Wollust in den Tod zu gehen, ohne die Umarmung zu lösen! Die Gewißheit zu haben, daß die Liebe nie abflauen kann! Auch dieses Paar scheint Blut auf sich zu haben. Die letzten Sonnenstrahlen gießen Rot auf sie. Sie sind bereits gezeichnet.

Die Dunkelheit ist ganz herabgesunken, und alles löst sich in Schatten auf; die Festungsböschungen tragen die Farbe der Nacht. Und wenn etwa noch ein verspätetes Paar sich unter meinen Fenstern trifft, so ist es mir, als sähe ich Tod und Liebe als engverschlungenes, unsterbliches Paar ins Dunkle eilen ...


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