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Im Zwielicht

Es war an einem Sonntag nachmittag bei dem alten Meister, wo man sich so schön unterhielt und nach Gautiers Wort wieder einmal in männlichen Gesprächen abhärten konnte. Die Unterhaltung kam auch auf die Liebe. Ein banaler Gegenstand. Das Frühjahr bot den Anlaß. Aus dem knospenden Garten stieg es herauf und drang durch die offenen Fenster herein, mit seinem ersten Veilchenduft, seinem Genuß von jungem Grün und feuchter, frischer Erde. Zudem war auch von einem Liebesdrama die Rede gewesen, das sich am Morgen zugetragen und mit dein Selbstmord der beiden Liebenden geendigt hatte.

»Niemand,« erklärte darauf der Romanschriftsteller de Hornes mit seiner stets etwas verschleierten Stimme, einer Stimme, die im Einklang mit seinen grauen Augen zu stehen schien, in deren Aschgrau halberstickte Flammen glühten, »niemand hat die Liebe wirklich gekannt, wenn er nicht einen Augenblick gewünscht hat, mit seiner Geliebten zu sterben.«

»Zum Teufel,« schrie der alte Meister dazwischen, »das nenne ich aber romantisch!« In der Tat hielt er es zu sehr mit dem achtzehnten Jahrhundert, um diesen tragischen Paroxysmus der Liebe zu begreifen. Er selbst war in Dingen der Liebe immer nur ein »Kenner« gewesen, wie man damals sagte, ein Mensch, für den das Weib nur den Wert einer kostbaren Rarität hatte. Aber Valmy widersprach ihm seinerseits mit Gründen.

»Im Gegenteil, es ist sehr wissenschaftlich,« wendete er ein. »Es ist weiter nichts als ein allgemeines physikalisches Gesetz, eine natürliche Depressionserscheinung. Die Depression ist um so übermäßiger, je heißer man sich liebt, und schwache Liebende kommen oft nicht darüber hinaus. Im Grunde ist es nichts als das ›traurige Tier‹ der Lateiner.«

Valmy war Darwinist. Er versetzte seine Theorien gern mit harten, wissenschaftlichen Worten und trug sie im übrigen mit dem Glauben eines Erleuchteten, funkelnden Augen und gebieterischen Gebärden vor, die wie Wegweiser die Richtung wiesen. Aber de Hornes ließ sich durch diese positivistische Sicherheit nicht einschüchtern.

»Man muß immerhin zugeben, daß diese Traurigkeit nach der Liebe nicht die einfache Erschöpfung sein kann, die der Anstrengung folgt; eher noch ist sie mit der wehmütigen Stimmung zu vergleichen, wie sie am Ende aller Feste eintritt, also etwas Psychisches ...«

»Mag sein,« entgegnete Valmy, »aber dann ist sie eine Folge des dunklen Bewußtseins, daß die Liebe eine Falle ist. Man begreift den Egoismus der Natur, die nur auf ihre Fortpflanzung bedacht ist. Der Mensch fühlt endlich, daß er einer Täuschung zum Opfer gefallen ist, die mit dem Verlangen ihr Ende findet. Und das deprimiert ihn.«

»Es ist mehr als dies,« entgegnete de Hornes. »Diese Depression hängt nicht allein vom Instinkt ab. Sie ist oft ganz bewußt, ganz zerebral ...«

Damit kam er wieder auf seine Idee zurück. »Wenn so viele Liebende den Wunsch haben zu sterben und wirklich sterben, jeden Tag mehr und mitten in der Liebe, so kommt dies daher, weil Tod und Liebe durch Analogien verknüpft, durch unterirdische Gange miteinander verbunden sind. Eins führt zum andern. Eins vertieft das andere und fordert es heraus. Es ist kein Zweifel: der Tod ist ein großer Sporn und Stachel für die Liebe ... Oder wie soll man sich die Manie der Liebespaare auf dem Lande erklären, die, um Hand in Hand und Lippe auf Lippe zu legen, sich an die Friedhofmauer lehnen? Und das geht von den primitiven Seelen bis zu den höchsten. Führte Michelet die Erwählte seiner späten Liebe, die letzte Rose seines Herbstes, nicht auf den Pére-Lachaise? Denn er wußte wohl, daß er ihr an den Gräbern besser von Liebe und angesichts des Todes besser von Ewigkeit sprechen würde ...

»Es gibt noch viele andere Dinge, die dafür sprechen. Der Mörder läuft gleich nach begangener Tat zu den Freudenmädchen; er bedarf der Wollust, weil er den Tod gesehen hat ... Und unsere Vorliebe für Frauen in Trauer, ist sie nicht auch ein Beweis dafür? Nicht nur für Blondinen, die in Kreppkleidern am vorteilhaftesten, so zart und duftig aussehen, sondern für alle, welche die Livrée des Todes tragen und so anziehend und verlockend sind, eben wegen des Todes, der sie umgibt und beschlagnahmt, und den man gern mit der Liebe verbinden möchte ...«

Der alte Meister hörte gespannt zu, den schönen, blassen Kopf, der wie aus Mondlicht modelliert war, weit zurückgeneigt. Jetzt, wo der Abend sank, sah er noch bleicher aus als sonst. In den Ecken des Salons schien es bereits zu dunkeln, vielleicht weniger infolge der Dämmerung, als durch die Finsternis aus jenen Abgründen der Seele, die das Gespräch auftat.

Trotz der ernsten Worte rötete ein leichtes Fieber aller Wangen. Ein jeder dachte zurück. De Hornes mit seiner traumhaften Stimme hatte seltsame Phantome beschworen. Jeder suchte sich die einstigen Geliebten, die entschwundenen Stunden und verrauschten Küsse wachzurufen. Jeder fühlte in seiner Seele welke Blätter, alte Gräber, die Hefe alter Tränen, derweil vom Garten her der frische Duft des knospenden Grüns noch immer durch die offenen Fenster quoll ...

Valmy, der stets seine naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte geltend machte, antwortete:

»Das sind Subtilitäten, Dekadenzprodukte ... Das hat nichts mit dem Instinkt, mit etwas Angeborenem zu tun, wie Sie meinen. Die primitiven Völker kennen dergleichen Raffinements nicht und hätten sie verachtet. Die Wilden wissen nichts davon.«

»Trotzdem«, wandte de Hornes ein, »werden schon im Hohelied Tod und Liebe zusammen genannt: ›Die Liebe ist stark wie der Tod, und die Eifersucht ist hart wie das Grab‹. Zudem«, fuhr er fort, »habe ich einen ausschlaggebenden Beweis dafür, welche geheimen Analogien zwischen beiden bestehen ... Es ist eine seltsame Geschichte aus meinem eigenen Leben, an die ich nur mit einer Art von Schauder zurückdenke. Mit fünfundzwanzig Jahren hatte ich eine Geliebte, die ich hauptsächlich wegen ihrer Blässe liebte. Sie war das Bild einer gebrochenen Schönen, und ihr Gang war langsam, als ob sie beständig über Trümmer schritte. Sie lebte allein, von einem brutalen Gatten getrennt. Eines Tages kam ihre Tante an, die sie wie eine Mutter erzogen hatte, und mit ihr ihre jüngere Schwester ... Mehrere Tage lang sahen wir uns nicht. Endlich telegraphierte sie mir, ich sollte nach dem Hotel kommen, wo die Ihren abgestiegen waren. Der Tante ginge es schlecht. Sie hätte sie keinen Augenblick verlassen, könnte nicht fort. Trotzdem wollte sie mich sehen und Vorrat an Mut schöpfen, wie sie sagte. Ich ging hin. Kaum waren wir beisammen – es war in einem Wohnzimmer neben der Krankenstube – so wurde ein lauter Schrei nebenan laut und sie stürzte hinein. Einen Augenblick später war es ihre eigene Stimme, die da schrie, rief, mich rief und klagte. Man täuscht sich nie, wenn der Tod in unserer Nähe Einkehr hält. Ich wußte sofort, was geschehen war, und stürzte in das Krankenzimmer. Auf dem Bette lag eine schon totenbleiche Frau mit gebrochenen Augen, den Mund geöffnet wie ein dunkles Loch, aus dem die Seele soeben entfahren war; die Arme längs des Leibes hingestreckt wie geschlagene Waffen. Denken Sie sich diesen Tod im Hotel, allein, von einem Augenblick zum andern, ohne Hilfe und Abschied! In den folgenden Stunden erschien meine Geliebte nur noch edler und ernster; sie war fast ebenso bleich und starr in ihrer Haltung, wie eine Statue, die auf einem Grabe steht. Ihre jüngere Schwester war ganz vernichtet und weinte still in einem Lehnstuhl. Nach Erfüllung der letzten Pflicht mußten noch einige Besorgungen gemacht und gewisse andere Dinge erledigt werden: Standesamt, Trauerkleider, Todesanzeigen. Meine Geliebte wollte dies alles selbst besorgen; sie besaß eine solche Feinfühligkeit in diesen Familienangelegenheiten, daß sie dieselben niemandem anders anvertrauen mochte. Sie bat mich nur, bei ihrer jüngeren Schwester zu bleiben, die sich in dem Sterbezimmer im Hotel allein fürchtete. Ich blieb die ganze lange Dämmerzeit bei ihr. Und nun geschah das Unbegreifliche und Seltsame, was ich zu erzählen habe. Ich suchte die Waise nach besten Kräften aufzurichten und zu trösten. Doch die Worte sind so trivial ... Sie selbst fühlte es und sprach nicht. Sie saß neben mir im Zimmer neben dem, das wir nicht mehr zu betreten wagten ... Ich wollte eine Lampe anzünden. »Nein,« sagte sie, »das ist unnütz. Lassen Sie mich nicht allein!« Und sie ergriff meine Hände, wie um mir für mein Mitgefühl, meinen Beistand in ihrer Verlassenheit zu danken, mir zu danken, daß ein menschliches Wesen bei ihnen war und ihren Schmerz teilte. Die Tränen verliehen ihrem ganzen Wesen etwas Kindliches. Und ich trocknete diese stillen Tränen ... Einen Augenblick drückten ihre Hände die meinen. Ich konnte gewiß an nichts Schlimmes denken. Sie rückte mir ganz nahe, lehnte sich an meine Schulter, wie als ob ihr Kopf zu schwer geworden wäre von der Last so vieler rinnender Tränen. Ungewollt berührten sich unsere Haare und vermischten sich teilweise. Welch verderblicher Wahnsinn flammte plötzlich in uns auf? Hier in diesem Sterbezimmer, neben der nahen Leiche, berührte ihr Antlitz das meine ... Und unwillkürlich preßte ihr Mund sich auf meinen Mund, wie auf den Hals einer Flasche. Liebe? Unmöglich! In solchem Augenblick! Das was zu ungeheuerlich, zu gotteslästerlich! Zudem war es ja schon halb dunkel, und ich war ganz in Schatten getaucht, eine undeutliche, unbestimmte, kaum menschliche Gestalt! Ich begriff, daß ich ihr nichts galt, nichts gelten konnte. Ich war nichts als das schnell und notwendige Vergessen in einem allzugroßen Leid.

Sie hatte mich also küssen wollen, wie man ein Narkotikum, wie man Morphium oder Opium nimmt als unfehlbar wirkenden Trank ... Auf diese Weise fand sie Vergessen, verlor sie das Bewußtsein des Geschehenen, verirrte sich ins Weite und entrann dem Schmerz in holder Selbstentäußerung. Entsetzliche Szene! Ich zitterte, ich schämte mich. War es nicht meine Schuld?

In den folgenden Tagen wagte ich sie nicht mehr anzusehen. Sie dagegen schien seelenruhig; sie hatte wieder das rätselvolle Gesicht, das ich von früher her kannte, wenn ich sie, so selten es auch war, bei ihrer Schwester traf. Und immer in der Folgezeit die nämliche tiefe Gleichgültigkeit gegen mich, als ob nichts geschehen wäre. Und in der Tat war nichts geschehen. Tod und Liebe hatten sich wieder einmal berührt und durch geheime Gänge verknüpft ... Der Tod bildete die aufreizende Nachbarschaft ...«

De Hornes hielt eine Weile inne. Die anderen schwiegen. Es war, als wäre das kleine Wohnzimmer weiter und höher geworden, zumal das Dunkel alle Einzelheiten verschlang.

»Und«, fuhr Hornes schnell darauf fort, wie um die Erinnerung und die lange Erzählung abzuschließen, mit der er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer schon lange in Anspruch genommen hatte, »so ist es überall und immer. Tod und Liebe stoßen aneinander, wie die beiden Abhänge eines Berges. Und darum sagte ich vorhin: ›Niemand hat die Liebe gekannt, wenn er nicht einmal gewünscht hat, mit seiner Geliebten zu sterben.‹ Denn der Punkt, wo die beiden Abhänge sich treffen, ist gerade der Gipfel, die Höhe, der Kulminationspunkt ... Dann sind Tod und Liebe nur Eines ...«

De Hornes schwieg. In seinen aschgrauen Augen waren die Funken erloschen. Stille herrschte ringsum.

Der alte Meister schien nachzusinnen. Seinem klaren Geist, seiner ganzen Anschauungsweise widerstrebte dieses Zugeständnis des Mysteriums. Nur Valmy stieß ein halblautes: »Jawohl, das sind die okkulten Willenskräfte der Natur« hervor.

Dann sprach keiner mehr ein Wort. Jeder dachte an das Leben, sein Leben. Vom knospenden Garten stieg der Hauch des jungen Frühlings herauf. Aber das kleine Wohnzimmer sah schwermütig aus, so ganz in das Zwielicht versunken ... Das Schweigen verschmolz mit der Finsternis, und es war, als hätten Tod und Liebe sich wieder einmal berührt.


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