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Schweigend legten sie den kurzen Weg nach der eigenen Villa zurück. Vor der Gartentür blieb Tante Laura stehen und sagte wie aus langem Nachdenken heraus:
»Es ist wie in einem Roman. Ein Totgeglaubter steht auf. Ob zum Glück oder Unglück? Jedenfalls geht es den Fritz am meisten an, – schreibt Ihr Euch?«
»Selten, Tantchen!«
»Na ja, was sollt Ihr auch, seid ja gar nicht miteinander verwandt.«
*
Zum erstenmal seit langen Jahren konnte Kerlchen nicht einschlafen an diesem Abend. Warum tat ihm das Herz so weh? Und was für krause und bunte Gedanken wirbelten ihm im Kopf herum! Tante Laura hatte alte Zeiten und alte Bilder heraufbeschworen, hatte ihr von Wolfgang Rumohr erzählt, dessen Namen Kerlchen früher nie gehört, der in dem Tagebuche von Großtante Hermine nicht ein einziges Mal erwähnt war. Er sollte ein abschreckend häßlicher Junge gewesen sein, groß und ungeschlacht mit einem wilden, zügellosen Temperament. Die Eltern hatten in jeder Weise den jüngeren Bruder, Fritzens Vater, bevorzugt, – da seien denn Zwischenträgereien, Verleumdungen, häßliche und dumme Sachen geschehen, und schließlich – hätten alle aufgeatmet, als Wolf von Rumohr kurz beschlossen, Heimat und Erbe hinter sich zu lassen, und heimlich nach »drüben« zu gehen.
Was aber hatte ihn zurückgetrieben? Würde Fritz erfahren, daß er noch einen Oheim besaß? Würde dieser dem Fritz helfen, aus seinen drückenden Verpflichtungen herauszukommen, würde er – –?
Ach nein, – wenn einem etwas recht Liebes, Schönes und Herrliches bevorsteht, dann schlägt doch das Herz nicht so schmerzhaft, und die Tränen sitzen nicht so locker, und der Himmel schaut nicht so grau in grau aus – – – –
Kerlchen sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem Bette und goß sich eiskaltes Quellwasser in die Waschschüssel. Das tat wohl, sich darin zu baden, die trüben, dummen, unsicheren Gedanken, Träume, Wünsche und Ahnungen fortzuspülen.
Nach einer geraumen Weile klopfte es an die Tür.
»Kerlchen, du könntest wohl Rücksicht auf deine Nachbarschaft nehmen, denkst du denn gar nicht daran, daß ich schlafen will, und nicht kann bei deinem Holtergepolter? Was machst du denn?«
»O Tante Laura, verzeih! Ich wasche mich!«
»Siehst du, Kerlchen, – – so ein Unsinn! Aber das kommt nur von dem dummen Sekt; ich werde ihn verschenken, ja wohl, das werd' ich. Er hat uns ja alle verrückt gemacht in den paar Tagen.
»Ich habe ihn ja auch verschänkt, Tante Laura!«
»Siehst du, wie er deinen Charakter verdorben hat. Kerlchen? Denn daß du hier in der Nacht kalauerst, während deine alte Tante vor Frost bebt und schlottert, ist nichts weniger als edel.«
»O Tantchen, geh' doch in dein Bett zurück, ich kann dir ja nicht einmal die Tür öffnen, mein Habitchen ist nicht darnach, geh' nur, geh' – und recht gute Nacht.«
»Nein, nein, ich warte, bis du aufmachst, ich will sehen, ob du Fieber hast, – des Nachts waschen, es ist unglaublich!«
»Ja das ist es,« fiel hier eine andere klägliche Stimme ein, die ol Marie angehörte, »Ich habe Leute gekannt, die wuschen sich nicht mal am Tage, und die waren auch gesund, heutzutage wird mit Wasser gesündigt, sag' ich.«
»Mehr noch mit Sekt,« bemerkte Tante Laura anzüglich, und jetzt schob Kerlchen den Türriegel fort und öffnete.
»Nun sagt mir bloß, was ihr wollt.«
Tante Laura stürzte gleich auf sie zu und befühlte Kopf und Hände.
»Unglückswurm, du bist ja eiskalt!«
»Na, das wollte ich ja auch sein.«
»Gnädig Frölen, da ist gar nichts zu lachen. Das is ne traurige Sache mit der Vergiftung. Erst Sekt, dann dun, dann Brand und dann Kater, hat der Herr Doktor gesagt, – aber bei Ihnen ist's kalter Brand, und ich hatt' mal ne Cousine, die – –«
Kerlchen fuhr sich in komischer Verzweiflung mit beiden Händen durch ihren Lockenkopf.
»Herr du meines Lebens, wenn ich diese Auseinandersetzungen geahnt hätte, ich wäre niemals »Sektbrecher« geworden.«
»Das glaub ich wohl,« nickte ol Marie verständnisvoll. Schön ist das auch nicht, aber ich hör' eben das erste Wort, daß Ihnen auch »ibel« geworden ist.«
Damit schlürfte sie hinaus, und binnen fünf Minuten lag auch Kerlchen wieder und schlief fest und traumlos.
*
Brief des Oberleutnants Erich Schlieden an Kerlchen.
»Mein Kleines!
Ob Du heute aus meinem Briefe klug werden wirst, weiß ich noch nicht, – in meinem Kopfe selbst ist's wirr und wüst, deshalb werde ich einen schlechten Berichterstatter abgeben. Eben hat mich Fritz von Rumohr verlassen, – so merkwürdig blaß, und mit so todtraurigen Augen, als ginge es in Krieg und Verderben, und nicht in eine wundervolle Ferne und eine voraussichtlich glänzende Zukunft.
Die Umwälzung seines ganzen Lebens und Strebens, das Aufgeben seines Berufes, alles kam ja mit einer unheimlichen Raschheit. Ich habe natürlich tüchtig mit ihm gescholten, daß er Dich in Mölln nicht begrüßt hat, als er mit seinem plötzlich aufgetauchten Onkel sprach, daß er durchaus den Nachtzug wählte und nur ein paar kurze Stunden mit seinem Oheim wichtige Verhandlung pflog. Aber er wich mir aus und – wie gesagt – der Junge gefiel mir nicht, – er sprach wie im Fieber, ich bin erst nach und nach aus ihm klug geworden. Es ist wie im Märchen, ein phantasievoller Romanschriftsteller könnte es gar nicht toller erdenken. Der alte Wolfgang von Rumohr, früher die bête noire der Familie, kehrt als Krösus heim, findet sein von ihm heißgeliebtes, nie vergessenes Stammgut im verlottertsten Zustande wieder, wütet darob wie ein Berserker, ist außer sich, daß Fritz, der einzige Träger des Namens, nicht lieber alle Juden der Welt angepumpt hat, (als ob ihm einer etwas gegeben hätte), als einen Beruf zu ergreifen, der ihm einen Hungerlohn einbringt (für Begriffe von »drüben«).
Als Fritz die erste Kunde erhielt, daß er den ihm selbst so sehr unsympathischen Beruf aufgeben, das alte Stammgut selbst bewirtschaften und hoch bringen solle, da war er wie von Sinnen vor Freude.
Ich jubelte mit ihm und gestehe es offen, daß ich selbst alle seine später auftauchenden Bedenken durch warmes Zureden beseitigte. Denn wie kein anderer eignet sich unser Fritz zum Freiherrn von Gottes Gnaden. Und gerade weil er gelernt hat, sich unter schweren Schicksalsschlägen zu ducken, und weil er die karge, jammervolle Zeit wie ein echter Mann ertragen hat, wird er seinen Leuten ein verständnisvoller Herr, Freund und Berater sein.
Aber – nun kommt ein Haken, oder der Haken, lieb' Schwesterchen.
Daß ein Mensch, der lange, schöne Jahre nur in Berlin gehockt und gebüffelt hat, der um des elenden Mammons willen nie eine Reise tun konnte, der Land und Leute nur vom Hörensagen kennt, sich nicht plötzlich auf ein arg verkommenes Rittergut setzen kann, und munter loswirtschaften, ist klar, Fritz soll also erst mal praktisch lernen, und zu allererst wünscht Herr von Rumohr, daß er nach drüben geht – er hat wichtige Gründe dafür und – Fritz fügt sich, ist aber seit dem Auftauchen dieser Gründe so sonderbar erregt, dabei verschlossen und traurig, daß ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Die Sache ist nicht sein Geheimnis allein, sonst hätte er mich doch wohl zu seinem Vertrauten gemacht. Die Briefe, die der alte Wolf an Fritz schrieb, habe ich auf seinen Wunsch alle gelesen, sie enthielten nichts über die zuletzt erwähnte Sache, wohl aber zeigten sie mir, daß Fritz seinem Oheim jetzt alles verdankt. Er hat ihn gezwungen, die Ehrenschulden seines Vaters auf seines, Wolfs Schultern zu legen, er hat alles in hochherzigster Weise geordnet, hat beide Stammgüter, Rumohr in Holstein und Rotbach in Thüringen, der Familie, d. h. also Fritz zurückgekauft.
Heute gegen Abend schlug die Abschiedsstunde, ich begriff nicht, daß Fritz mit so schwerem Herzen ging. Das ist ja alles nur ein Übergang.
Von Dir mußte ich ihm noch viel erzählen, aber dann unterbrach er mich plötzlich und sah so nervös und gequält aus. – – –
Schwesterherz liebes, er wird sich schon wieder zurecht finden. Und Dir geht es gut? Dein letztes Brieflein atmet so viel Humor, und wie Du Mölln geschildert hast und seine Bewohner, – – ich glaube gern, daß Till Eulenspiegel dort begraben liegt. – Mir geht es auch gut, die Menschen behaupten sogar: sehr gut, zu gut, dieser Schlieden hat doch ein unverschämtes Glück! – Glück! Kerlchen, Du weißt es!
Behüt Dich Gott! Dein treuer Erich.«
*
»Ja Tantchen!«
»Was hast du, Kerlchen? Ist dir nicht recht extra, mien lütte Deern?«
Kerlchen wendete der Fragenden das blasse Gesichtchen zu.
»Allbarmherziger, wie siehst du aus! Hast du schlechte Nachrichten vom Bruder, von der Mutter, ist jemand tot? So sprich doch, Deern!«
»Gar nichts, mein Tantchen? Seh' ich krank aus?«
Ohhh – es ist wirklich nichts, Erich ist munter, alle sind munter, aber ich, ich – ich – –«
»Na, das sieht doch ein Blinder, daß du krank bist, willst du ins Bett, oder in den Wald? Eins von beiden hilft immer!«
Fräulein von Hartwig sah noch etwas mißtrauisch auf den Brief in Kerlchens Hand, dieses barg ihn rasch in der Tasche, dann lief es gleich durch den Garten, der hinter der Villa aufstieg, hinaus in den Wald.
Weiter, immer weiter!
Zuerst durchzogen noch wohlgepflegte Wege das Gehölz, helle Kleider schimmerten durch das Buchengrün, die Sommerfrischler aus Mölln ergingen sich in den schönen Waldanlagen. – Kerlchen lief, ohne sich umzuschauen. Und dann wurden die Stämme dichter, der Wald tiefer und dunkler, kein Mensch weit und breit; nur Tannen und Buchen in wunderbarer Größe und Pracht, weicher, moosiger Boden, tiefe stille Waldeinsamkeit.
Hier warf sich Kerlchen hin – wie ein gefälltes Bäumlein lag es da, – getroffen ins Mark. – Wild schluchzte es auf.
O, wie das weh tat da drinnen!
»Wer ist so verlassen wie ich auf der Welt?« Jetzt verstand es das Lied, das alte liebe, beinahe vergessene.
Verlassen! Konnte es denn möglich sein, daß Fritz von Rumohr ging? Fort, weit fort? Ohne Gruß, ohne Abschiedswort? Hier gewesen war Fritz von Rumohr, ohne zu seinem »Kameraden Kerlchen« zu kommen mit dem fröhlichen Waldruf: »Hu–hu?« In heißen, bitteren Tränen brach sich das Leid des jungen Herzens Bahn. Wann hatte doch Kerlchen schon einmal solch jammervollen Schmerz empfunden? Damals, ach ja, damals, als Väterchen starb. – Da war es! Leise flüsterten die Buchen, rauschten die Tannen. Wie ein schönes, ruhiges Lied klang es, dazu bestimmt, dieses junge, leidvolle Menschenherz in süßen Schlummer einzuwiegen.
Und sachte schlief Kerlchen ein.
Die langen, dunklen Wimpern naß von Tränen, die Stirn in trotzig-krause Falten gezogen, den kleinen Mund herb geschlossen. Ab und zu hob die Brust ein kurzer Seufzer, wie das letzte Aufschluchzen eines Kindes, das sich wild und unbändig in den Schlaf geweint hat.
Allmählich löste sich die trotzige Spannung des jungen Antlitzes, die Hand, die zur Faust geschlossen war, löste sich, ein leises, liebes Lächeln verschönte das Kindergesicht, der Traum hatte Kerlchen hinweggenommen, weit, weit in ein schönes, südliches Land – wie konnte sie auch in der Heimat bleiben, wenn Fritz von Rumohr fortzog! Er nahm es ja mit, seine starke Hand umschloß Kerlchens Hand, nach seinem Hause führte er es, weiß leuchtend schimmerte es hinter grünen Palmen. Ein dunkler Diener verneigte sich vor der Herrin des weißschimmernden Hauses, vor Kerlchen, und ein großer Bernhardinerhund schmiegte sich an und leckte seine Hand.
Mit einem Schrei fuhr Kerlchen auf.
Zum Tod erschrocken rieb es sich die Augen.
Ein großer Bernhardinerhund stand neben ihm und schaute es mit klugen, treuen Augen an, und der hünenhafte Neger da vor ihm verneigte sich und zeigte auf ein Häuschen, das weiß durch die Buchen und Tannen hindurchschimmerte.
Kerlchen erhob sich wie träumend. Der Hund schritt neben ihm, als gehöre er von Rechts wegen zu ihm und Kerlchen legte seine Hand an das breite Halsband und folgte willenlos den beiden Führern.
Das weißschimmernde Haus war kein Palast, es war »die Hütte«, von welcher der Pastor gesprochen hatte, aber Wolf von Rumohr, den alten, mächtig großen Mann, der auf einer Art Feldbett vor dem Hause lag, hatte wohl die wunderbar malerische Lage des Hüttchens gefesselt, die große, tiefe Waldeinsamkeit.
»He, wer legt sich in der Abenddämmerung in einen deutschen Buchenwald auf die blanke Erde nieder, um zu heulen und zu schlafen?«
»Ich,« erwiderte Kerlchen rasch. Es hatte immer noch nicht die rechte Empfindung des Wachens, sein Traum spann sich gar so wunderbar fort.
»Ich!« spottete der alte Mann. »Wer ist ›ich‹? Jedenfalls bist du das erste Wesen, das außer Ehrwürden dem Herrn Pastor aus dem gesegneten Mölln in meine Nähe gekommen ist. Musta, gib dem Kinde ein Glas heißen Grog, es bebt wie ein Hälmchen im Winde, der Unverstand! Aber erst mußt du mich hineinführen.«
Der große Schwarze bückte sich etwas, sein Herr legte den rechten Arm um seinen Hals, und während er vor Schmerz die Zähne zusammen biß, stapfte er mühsam ins Haus hinein. Kerlchen folgte ihm, nachdem es rasch die Decken über den Arm genommen hatte, die auf dem Ruhebett liegen geblieben waren.
»Sieh, sieh, wie du aufpassest!« sagte Wolf von Rumohr mit unverkennbarem Wohlwollen in seiner rauhen, polternden Stimme.
Kerlchen schaute sich um. Der große und tiefe Raum, der früher als eine Art Gerätkammer von der weit entfernt liegenden Oberförsterei benutzt worden war, war mit behaglicher Pracht ausgestattet. Teppiche und Felle wohin man sah, altmodische Möbel schwer und wuchtig, dazu kostbare Ölbilder an den Wänden, von denen zwei dem Beschauer gleich in die Augen fielen, zwei Herrensitze, alte schloßartige Häuser mit Türmchen, Erkern und Zinnen inmitten grüner Waldpracht und reicher Felder. Der Torbogen des Herrenhauses zeigte das Wappen der Rumohr.
Die Bilder waren mit großer Liebe und Sorgfalt gemalt, eine große Künstlerhand mußte den Pinsel geführt haben.
Stumm stand Kerlchen im Schauen versunken, es war, als würde sein Leid milder, als käme ihm jetzt erst das Verständnis, daß man um dieser beider Perlen willen viel aufgeben könnte.
»Gefallen dir Wohl, meine Bilder, he?« Herr von Rumohr hatte sich auf das mächtige Ruhebett niedergelassen. »Just die beiden, die beiden! Die hab' ich auch mit dem Herzen gemalt!«
Kerlchens Augen wurden groß vor Erstaunen.
»Sie selbst? O wie wunder-wunderschön!«
»Es ist Heimaterde,« sagte Herr von Rumohr, und seine laute, polternde Stimme klang weich und leise: »Heimatbuchen und Heimattannen, Rumohr und Rotbach.«
»Ich kenne sie,« nickte Kerlchen.
»Tausend Wetter, du kennst sie, und woher?«
Kerlchen setzte sich ohne Scheu auf einen tiefen Sessel neben dem Ruhebett, der schwarze Diener hatte ein Glas heißen Grogs auf einen kleinen Tisch gestellt, und Kerlchen trank einen ordentlichen Schluck, denn es fühlte, wie ihm vor Aufregung und unbehaglichem Frostgefühl die Zähne aneinander schlugen.
»Ich hab' sie selbst, die beiden Bilder.«
»Du?« – – –
»Ja, ich! Nicht so groß und nicht so schön, aber mir sind sie lieb, Fritz hat sie mir gezeichnet.«
»Fritz – welcher Fritz?«
Eine heiße Röte schoß in Kerlchens Antlitz, aber das Zimmer war sehr dunkel, Herr von Rumohr konnte es nicht bemerken, seine Stimme klang ungeduldig und polternd, als er seine Frage wiederholte.
»Nun, der da,« rief Kerlchen etwas trotzig, und zeigte auf die Gemälde, »der, dem die beiden gehören.«
»Die beiden gehören vorläufig mir,« entgegnete der Alte trocken, »wenn du aber Fritz von Rumohr meinst, so muß ich dich fragen, wer du bist.«
Das war ein langes Erzählen. Der Abend war längst schon herabgesunken, und immer noch saß das Kerlchen neben dem »Brasilianer« und ließ alte Zeiten und alte Bilder vor dem lauschenden Ohr des alten Mannes vorüberziehen: Großtante Hermine, ihr Vermächtnis, das alte Tagebuch, die Gestalt des unglücklichen Vaters von Fritz, dann Onkel Liskow, der Fritz eine Heimat bot, bis er auf eigenen Füßen stand, das Vaterhaus in Schwarzhausen, das dem Verwaisten immer offen stand in den Ferien, wo er eine Heimat fand, bis die Augen des besten Mannes sich für immer schlossen und selbst das Kerlchen in die Fremde mußte. Herr von Rumohr drückte Kerlchens Hand, daß sie schmerzte.
»Da hab' ich drüben in Brasilien gesessen und mich eingefressen in Menschenverachtung, und währenddem habt ihr fremden Schliedens uns Ruhmors unentwegt Gutes getan.«
Dumpf grollend klang seine Stimme.
»Und warum? Weil die Hermine Schlieden einen Rumohr geliebt! O Frauenliebe, Frauenliebe! Kaum atmet man wieder deutsche Luft, so kommt auch mit ihr der ganze sentimentale Kram geströmt – – hol's der – – –«
Kerlchen sprang auf, seine Augen blitzten durch die Dämmerung zu dem Alten hinüber.
»Niemand hat sich um den Fritz gekümmert,« rief es, »niemand als wir. Kameraden waren wir, jawohl! Und mein Erich-Bruder war sein Freund. Und Sie saßen da drüben, und dachten nicht an ihn und jetzt kommen Sie und schicken ihn fort, – so einfach fort – und fragen niemand, bloß weil Sie Geld haben und er nicht – –«
»Recht hast du ja, kleines Mädchen,« entgegnete der Alte ganz ruhig, »aber deshalb brauchst du mich nicht in meinem eigenen Hause so anzufahren. Aber einen mutigen Anwalt hat der Junge, das muß ich sagen. Und du bist ein guter Schlag, Kerlchen Schlieden, kein zimperliches Frauenzimmer, – du gefällst mir, und nun möcht' ich bloß noch wissen, warum du heute geheult hast wie ein Kettenhund.«
»Es ist spät,« rief Kerlchen hastig und streckte Herrn von Rumohr die Hand entgegen, »Tante Laura wird sehr auf mich warten.«
»So geh', und komm einmal wieder, mir die Leviten zu lesen, Tante Hartwig soll auch kommen, ich entsinne mich ihrer wohl, aber weiter schleppt mir niemand aus dem gesegneten Mölln hier herauf, meine Heimatliebe hat ihre Grenzen.«
»Warum wohnen Sie nicht in Rumohr?« fragte Kerlchen noch und zögerte im eiligen Fortlaufen.
»Weil es verlottert ist durch und durch. Weil in dem alten schönen Herrenhause die Ratten die eigentlichen Herren sind, und weil ich mit meiner Gicht ein toter Mann sein würde, zög' ich in das feuchte Loch. Rotbach ist besser imstande, aber hier in diesem Nest, dem Mölln, bin ich zur Schule gegangen, kenne jeden Stein und jeden Graben, – und die deutsche Luft, das Heimatgefühl, die alberne, dumme, deutsche Sehnsucht packte mich, sobald ich hier einen Atemzug getan.«
Der schwarze Diener trat besorgt aus dem Nebengemach über die Schwelle. Sein Herr sprach so laut und so anhaltend heute, und das kleine, schlanke, weiße Mädchen mit den blauen, deutschen Augen stand so erschrocken vor ihm und fürchtete sich gar nicht, während »drüben« alles entsetzt geflohen war, sobald »Master Fred« die Stimme erhob.
Schon hatte Kerlchen den Türgriff in der Hand, da stockte sein Fuß abermals. In der einen Ecke des Zimmers auf einer eichenen Staffelei stand noch ein Bild, ein Porträt war es, ein Mädchen von so wunderbarer Schönheit, daß Kerlchen unwillkürlich die Hände faltete.
»So etwas gibt es nicht? Nicht wahr?« stammelte es verwirrt.
»Du meinst, ob sie lebt?« polterte Herr von Rumohr. »Freilich lebt sie. Und nun wirst du mir auch verzeihen, daß ich deinen Kameraden von seinen dreitausend Mark jährlichem Gehalt spitzbübisch weggelockt und hinüber geschickt habe, um sich dieses Mädel zu gewinnen, Goddam, die sein ehemaliges Jahresgehalt so ungefähr für Handschuhe verbraucht. Jawohl! Heiraten soll er meine Florence, der Teufelsjunge. Dann bleibt alles hübsch zusammen, ich hab', will's der Himmel, noch ein paar fröhliche Jahre, und sehe, wie in dem alten Nest der Rumohrs ein neues Geschlecht heranwächst.«
Das letzte sagte er aber nur zu den Wänden und zu dem Bilde, dem er in stolzer Vaterzärtlichkeit zunickte, Kerlchen hörte nicht mehr, es hatte leise die Tür geöffnet und war gegangen. Jetzt stürmte es nicht durch den Wald wie vor wenigen Stunden, langsam, ganz langsam schritt es hinab nach dem Städtchen, mit einem traurigen, leeren Blick, als wüßte es gar nicht, woher und wohin.
Tante Laura erschrak, als sie in das blasse Gesicht ihres Pflegekindes schaute.
Das sollte ein Sekt- und Sorgenbrecherchen sein? Aber sie fragte und quälte nicht. Kerlchens Augen hatten einen Ausdruck, der ihr tiefstes Mitleid wachrief.
»Mien söte Deern, gah to Bedd! Ik heww mi ängstigt um di, äwer Gott Lob und Dank, nun büst du dor.«
Kerlchen küßte die Hand des alten Fräuleins, und dieses sah ihm nach, wie es so gar langsam die Stufen hinaufschritt, – so mechanisch – so müde – – –.
Und im Stübchen, da blieb Kerlchen still vor dem großen Bilde stehen, aus dem ein paar schöne, stolze und doch so gütige Augen herabschauten:
»So, mein Väterchen, – nun bin ich ganz arm, mein Kamerad hat mich verlassen.
»Mein Süßes!
Wir drei Walküren bedauern aus tiefstem Herzensgrunde unsere Sendschreiben, die wir vor einigen Wochen an Dich losließen, denn als wir Euch von Eurer nutzlosen Reise nach Ostpreußen abrieten, ahnten wir nicht, daß Ihr nun das Reisen überhaupt aufstecken würdet, und man Dich, trotzdem wir beinahe eine Luft atmen, doch nicht zu sehen bekommt. Kerlchen, komm' doch wieder mal her!
Franz und ich streiten uns jeden Tag, wer die größere Sehnsucht nach Dir hat. Natürlich bin in Wahrheit ich es, denn wie schon Schiller sehr richtig sagt, »das Weib liebt in einem fort, der Mann hat aber auch noch dazwischen andere Dinge zu tun«. (Es ist nicht ganz richtig ausgedrückt, und außerdem behauptet Franz, das Wort sei von Jean Paul, aber ich sage immer »Schiller«, wenn ich's nicht ganz genau weiß, – denn mindestens das dritte Mal stimmt es doch.) Also komm', geliebtes Kerlchen! Oder – – mir steigt ein rabenschwarzer Gedanke auf, – bist du hochmütig geworden? O – wenn Du Dich auch seit Wochen ausschweigst, wir hören ja durch Deine Mama von Dir, ich war beispielsweise gestern erst in Buchenwalde und habe Deine Muusch ausgequetscht, trotzdem sie auch so ein noli me tangere ist wie Du. Aber Du wirst nie ein so berauschend vornehmes »Air« haben, wie Deine Mama, das schlag' Dir nur aus dem Sinn, dazu bist Du viel zu lebhaft, viel zu temperamentvoll, viel zu »natürlich«. Fi donc, »natürlich«! Eine Bauernmagd ist »natürlich«, darf »natürlich« sein, aber niemals eine Freifrau von Rumohr–Rumohr–Rotbach. – So, nun ist's heraus, was ich meine, – Gottlob! Ich will Dir nur sagen, daß Du uns nicht etwa mit Deiner Verlobungsanzeige überraschest. I wo! Von Luttewetens Hochzeitstage an, (lang', lang' ist's her), wußte ich, daß Du und der Fritz ein Paar würdet.
Also weshalb diese Geheimniskrämerei? Und warum gondelt er noch über den Ozean? Die Schilderung seines Onkels Krösus, der über Millionen verfügt, und in einer Hütte haust, also doch wohl einen Klaps weghat, hat uns sehr interessiert, Dein Muttchen las uns diese Stelle Deines Briefes vor. Auch daß Herr von Rumohr senior Dich von Anfang an »Du« nannte, gefällt mir sehr, der Mann hat 'n Ahnungsvermögen. Alles übrige, was Du geschrieben, verschwieg uns Deine verehrte Mama, – na, ich konnte mir's ja aber denken, daß es Deinen »Trousseau« betraf, denn mit 'ner einfachen »Ausstattung« geben sich Frau Baronin in spe wohl gar nicht mehr ab. Kerlchen, Kerlchen, der Borby ärgert sich noch im Grabe, daß Du einen andern nimmst, einen Reichen, einen Blaublütigen bekommst, und einen so bildschönen Kerl dazu, wie den Fritz. Kerlchen, komm'! Ich möchte zu gerne wissen, wie Du jetzt aussiehst, möcht' Dich auch mal ans Herz drücken. Komm und schütte alle Deine Geheimnisse in den verschwiegenen Busen
Deiner Bümi.«