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Der Direktor der Lingby-Radio-Station hatte den Bericht der beiden Herren mit höflichem Interesse angehört. Er erteilte mit einer Handbewegung seinem Ingenieur das Wort.
Herr Christiansen strich sich mit der unbeirrbaren Kühle des Sachverständigen den blonden Spitzbart.
»Wir haben in der Tat am letzten Sonnabend oder vielmehr in der Nacht vom Sonnabend auf Sonntag starke magnetische Felder konstatiert. Wir konnten sie nicht erklären, wie wir überhaupt den Störungserscheinungen im Radiobetrieb noch völlig ratlos gegenüberstehen. Das ist kein Wunder bei einer Technik, die sich im Gegensatz zu allen anderen sozusagen über Nacht zu einem Riesen entwickelt hat, in der Praxis entwickelt hat, während die Theorie noch gänzlich in den Kinderschuhen steckt.«
»Haben Sie den Eindruck, Herr Christiansen,« fragte der Direktor, »als ob diese Störungen – ich will mich vorsichtig ausdrücken – keine zufälligen gewesen wären?«
Der Ingenieur sagte nachdenklich: »Nein.«
»Haben Sie sie selbst beobachtet?« fragte Oevelund. »Oder wissen Sie von ihnen nur aus dem Bericht des wachhabenden Herrn?«
»Ich habe sie selbst beobachtet.«
»Eine Frage, Herr Christiansen«, nahm Griggs das Wort. »Wissen Sie etwas von diesen Wiederholungserscheinungen, von denen ich Ihnen erzählte? Haben Sie diese Störungen – wir wollen einmal bei dem Ausdruck bleiben – in den vergangenen Wochen ebenfalls konstatiert?«
»Ein einziges Mal, in der Tat; aber wir sprachen schon darüber, daß die Zeiten Ihrer Beobachtung mit meinen Aufzeichnungen nicht übereinstimmen. Es muß sich danach um zwei verschiedene Erscheinungen handeln.«
»Haben Sie jemals Versuche mit ganz kurzen Wellen gemacht? Mein Apparat stand auf Welle zehn Zentimeter.«
Herr Christiansen lächelte diskret. »Wir senden mit Wellenlänge dreitausendsechshundertfünfzig!« Der ganze Stolz des Großbetriebs klang aus seiner Stimme. »Die geringste Wellenlänge, mit der wir empfangen, ist sechshundert Meter.«
»Wenn ich Ihnen nun sage, Herr Christiansen, daß ich den bestimmten Eindruck habe, daß es sich nicht um Störungen handelt, sondern um einen Anruf; und daß dieser gleiche Anruf dreimal in vierzehn Tagen gekommen ist, jedesmal um dieselbe Zeit, jedesmal in der Länge von viereinhalb Minuten – was wäre dann, wenn Sie ...« Er erhob die Hand, wie um die nachsichtige Skepsis des Ingenieurs zu bannen. »Nehmen Sie einmal einen Augenblick das, was ich Ihnen sage, als gegeben an. Nehmen Sie einmal an, nicht ich hätte diese Beobachtung gemacht, sondern Sie hätten sie einwandfrei aufgenommen. Zu welcher Schlußfolgerung würden Sie kommen?«
Herr Christiansen warf einen halben Blick hinüber auf seinen Chef. Dann sagte er ruhig:
»Als Techniker bin ich gewöhnt, nicht mit Wenn und Aber zu rechnen, Herr Doktor, sondern mit Dingen, die mathematisch errechenbar oder körperlich greifbar sind. Wenn ich eine solche Beobachtung gemacht haben würde, so würde ich sie meinem Direktor vortragen und es ihm überlassen, dasjenige Fazit zu ziehen, das er als Direktor unserer Station für das richtige hält. Mein Ressort ist anders geartet; ich greife nicht gern in die Kompetenzen meiner Vorgesetzten ein.«
»Ich danke Ihnen, Herr Christiansen,« beeilte sich Griggs zu sagen, »das genügt mir vollständig.«
Herr Christiansen zog sich mit einer knappen Verbeugung zurück, und sein blonder Spitzbart leuchtete im Glanze der untergehenden Sonne, als er die Tür hinter sich zuzog.
»Christiansen ist ein außerordentlich gewissenhafter Mann«, bemerkte der Direktor.
»Das habe ich ihm sofort angesehen«, bestätigte Griggs. »Aber Sie werden das eine begreifen, lieber Herr Direktor: es gibt Dinge, bei denen Gewissenhaftigkeit nicht die Hauptsache ist.«
»Was möchten Sie denn gern von mir hören?« fragte der Direktor mit einem Unterton freundlicher Nachsicht in der Stimme.
»Wir wollen offen reden: ich glaube an eine interplanetare Herkunft des Anrufs.«
»Ach so«, sagte der Direktor. »Eine Verbindung mit dem Mars ...?« Er zog mit einer eilfertigen Geste die Uhr. Und indem er eine verabschiedende Verbeugung machte, sagte er:
»Daran erkenn' ich den Laien!«
Die beiden stiegen schweigend ins Auto. Vom Oeresund her wallte grauer Abendnebel. Schon blinkten ferne Laternen, und die Kühle des frühen Abends warf sich den beiden entgegen, als der offene Wagen nach Süden sauste.
Sie saßen eine Zeitlang schweigend nebeneinander. Hier und da kam ihnen ein Auto entgegen, das unterwegs sein mochte nach Helsingör. Fern standen die Konturen von Kopenhagen gegen den Himmel.
»Ich bin abgespannt«, sagte Griggs. »Kommen Sie, da drüben ist ein Restaurant.«
Ein paar Herren und Damen der Kopenhagener Gesellschaft saßen um den Kamin. Oevelund grüßte flüchtig hinüber. Eine der Damen wandte sich zu ihnen herum; sie streifte mit dem Blick die zwei Herren und erwiderte den Gruß mit zögernder Nachdenklichkeit.
»Das ist eine Landsmännin von Ihnen, Doktor. Eine reiche Amerikanerin, die globetrottenderweise in Kopenhagen gelandet ist. Den Herrn neben ihr kennen Sie: es ist der Kammerherr Gandrup. Merkwürdig übrigens, seine Braut, die Baronin Laurgaard, fehlt. Sollte sich hier etwas Neues entspinnen? Da fällt mir übrigens ein, Griggs: Herrn Gandrup ist ein gewisses Ereignis aus dem Hotel d'Angleterre zugeflogen ... weiß Gott, woher! Er soll geladen auf Sie sein. Sehen Sie nur, wie ostentativ er an uns vorbeisieht!«
Griggs leerte behaglich seine Tasse; der unvermeidliche Caloricpunsch folgte.
Jemand setzte sich ans Klavier; man begann zu tanzen.
Die Amerikanerin hatte lachend abgelehnt, als Gandrup sie aufgefordert hatte. Eben onestepte er mit einer anderen davon. Sie sah sich interessiert in dem trophäengeschmückten Zimmer um; ihr Blick fiel auf die beiden Herren.
Sie lächelte.
Oevelund trat ihr einen halben Schritt entgegen.
»Darf ich Sie mit einem Landsmann bekanntmachen, gnädige Frau? Herr Doktor Griggs ist Amerikaner.«
»Ich heiße Yrsa Aspinall«, sagte sie, Griggs ins Gesicht sehend.
Griggs drückte ihr die Hand: »How are you, Mrs. Aspinall?«
»Frau Aspinall spricht unsere Sprache ausgezeichnet. Ich hatte neulich eine längere Unterredung mit ihr und bin aus dem Staunen nicht herausgekommen.«
»Das ist kein Wunder«, lachte die Amerikanerin, Griggs unausgesetzt in die Augen sehend. »Meine Mutter war Dänin; daher habe ich auch meinen skandinavischen Vornamen.«
»Ich bitte für einen Augenblick um Entschuldigung«, sagte der Arzt. »Ich muß meine Klinik anrufen.«
Als er die Telephonzelle betrat, machte er eine Wendung, die ihn in die Blickrichtung der Landsmännin führte. Da sah er, daß sie ihm mit den Augen gefolgt war.
Die Klinik meldete sich – der assistierende Arzt war am Apparat. »Alles in Ordnung, Herr Doktor Griggs, bis auf ... bis auf ...«
»Nun, Poulsen?«
»Lumbye verlangt nach Ihnen.«
»Lumbye ... Ist es dringend?«
»Um die Wahrheit zu sagen: es schreit nach Ihnen ... seit drei Stunden.«
»Es ist gut, Poulsen. Ich komme.«
Draußen klimperte noch der Onestep. Oevelund und Frau Aspinall standen plaudernd am Kamin; sie unterbrach das Gespräch, als sie den Ankömmling gewahrte.
»Frau Aspinall macht den Vorschlag, uns der Gesellschaft anzuschließen.«
»Sie sind außerordentlich liebenswürdig, Mrs. Aspinall; aber ein schwerkranker Patient verlangt nach mir – ich muß hinfahren. Vielleicht bleibt Herr Oevelund hier.«
»Nein, nein«, wehrte Oevelund mit einer leisen Verlegenheit ab. »Ich fahre mit Ihnen – selbstverständlich fahre ich mit Ihnen.«
»Adieu, Mrs. Aspinall.«
»Ihren Namen habe ich nicht verstanden –«
»Doktor Griggs«, belehrte Oevelund sie lachend.
»Doktor Griggs,« wiederholte Yrsa Aspinall, den Arzt fixierend, »Doktor Griggs ...? Denken Sie sich, ich hatte verstanden: Doktor Henderson.«
*
Griggs trat an das Bett des Kranken. Der assistierende Arzt hatte ihm flüsternd kurzen Bericht erstattet, und das bekümmerte Gesicht der Schwester verschwand hinter der Tür, die sich leise schloß.
»Nun, mein lieber Lumbye?«
Der Kranke wandte den Kopf, der tief und schwer in den Kissen lag. Das Licht der Ständerlampe fiel auf sein Gesicht. Es war von einem fahlen Grau, das ohne Nuancen war; man sah diesen leichenhaften Mund nur mit einem Gefühl beklommenen Staunens sich zum Sprechen öffnen.
»Herr Doktor,« sagte Lumbye und richtete sich halb auf, »wir wollen ein offenes Wort miteinander reden. Ich bin verloren, ich weiß es. Niemand kann mir helfen: Sie nicht, kein Gott kann es. Ich habe mich damit abgefunden. Nein – ich warte auf den Tod.«
»Warum wollen Sie mir etwas vormachen? Glauben Sie mir, Doktor: wenn man mit einem Fuß schon drüben steht im Jenseits, dann verfangen Ihre mitleidigen Tröstungsversuche nicht mehr. Dann sind sie überflüssig, denn sie sind bestimmt für Menschen, die etwas zu hoffen haben. Ich aber bin ohne Hoffnung.«
Er sank in sich zusammen; der gestützte Ellenbogen rutschte mit einer kraftlosen Bewegung unter ihm weg. »Ich ertrage es nicht mehr, Doktor,« flüsterte er, »Sie machen sich keinen Begriff von den Schmerzen, die ich habe.«
»Soll ich Ihnen ...«
Der Patient wies mit den Augen hinüber zu dem Assistenzarzt, dann wanderte sein Blick zurück zu Griggs; eine Bitte lag darin.
Griggs verstand; mit einem unruhigen Seufzer sagte er:
»Herr Doktor Poulsen – vielleicht sehen Sie sich einmal in der Frauenabteilung um?«
Als die Tür sich hinter dem Assistenten schloß, richtete sich der Kranke von neuem auf. »Herr Doktor – Sie wissen, was ich will.«
Griggs nickte.
»Niemand weiß, was wir zwei miteinander sprechen. Haben Sie Mitleid!«
»Ich darf es nicht, Lumbye.«
»Sie dürfen nicht ... Sie dürfen nicht ... Wenn ein Verzweifelter zu Ihnen kommt und bei vollem Bewußtsein einen Liebesdienst von Ihnen verlangt ... kann es da im Ernst Bedenken ...?«
»Die Schwester wird Ihnen eine Spritze geben.«
»Sie wissen selbst, Herr Doktor, daß meine Nerven nicht mehr reagieren.«
»Und mit versagender, völlig gebrochener Stimme hauchte der Kranke: »Tun Sie es ...!«
Griggs drückte auf den Knopf und ging hinaus, die Schwester draußen zu instruieren. Gesenkten Kopfes ging er hinüber ins Arbeitszimmer, wo Oevelund wartete.
»Mein Beruf ist der furchtbarste, den es gibt, Oevelund.«
»Sie sind mit den Nerven herunter, Doktor!«
»Möglich. Eins kommt zum andern.« Er sah sich im Raum um. Penetranter Karbolgeruch erfüllte ihn; die Wände, die Vorhänge und das Licht der Lampen selbst schienen diesen alles übertönenden Geruch zurückzuwerfen.
»Ich halte es nicht aus in diesem Zimmer, Oevelund, in dieser Wohnung! Alles riecht nach Krankheit, nach Tod – alles erinnert mich an meinen Beruf, der mich umklammert hält, mich nicht losläßt. Kommen Sie, wir wollen gehen!«
»Wollen wir im ›Tivoli‹ zur Nacht essen?«
»Das ist eine gute Idee. Aber ich bringe nicht die Nervenkraft auf, mich in Smoking zu werfen.«
»Wir können zu Svensson gehen.«
»Bei Svensson«, wiederholte Griggs mechanisch. »Das ist gut; ja, wir werden zu Svensson gehen.«
Oevelund sah ihn verwundert von der Seite an. Es war das erstemal, daß Griggs nicht völlig Herr seiner Nerven schien.
Als sie die Treppe hinuntergingen, kam ihnen die Schwester nach:
»Herr Doktor – Lumbye läßt uns keine Ruhe; er ruft nach Ihnen.«
Mit einer matten Geste sagte Griggs:
»Gehen Sie voran, Oevelund. Wir treffen uns bei Svensson. Es dauert nur ein paar Minuten ...«
Das Aussehen des Patienten hatte sich in der kurzen Zeit noch verschlimmert. Die Wangen erschienen eingefallener als vorhin, der letzte Glanz aus den Augen war verschwunden.
»Ich danke Ihnen, Herr Doktor, daß Sie gekommen sind« – Griggs mußte sich Mühe geben, um den Flüsternden zu verstehen –, »Sie wissen, daß ich seit vier Tagen und vier Nächten nicht geschlafen habe.«
Da Griggs etwas erwidern wollte, hob er mit einer schwanken Bewegung die Hand – eine knöcherne, wachsfarbene Hand: »Bitte, lieber Doktor,« sagte er, ein wenig lauter, sichtlich mit letzten Kräften, »lassen Sie alles Vertrösten. Sie wissen, um was es sich handelt – und alles Drumherumreden ist Grausamkeit. Niemand wird durch meinen Tod geschädigt – ich habe keinen Menschen, der mich liebt; mich aber erlösen Sie von entsetzlichen Schmerzen.«
»Nein«, sagte Griggs. »Es wäre ein Verbrechen, wenn ich es täte. Sie sind nicht so krank, wie Sie glauben.«
»Sie lügen, Doktor!« Und in Tränen ausbrechend, schrie Lumbye: »Warum lügen Sie?«
Griggs ging hinaus. – – –
Das Souper verlief schweigsam. Ein paarmal machte Oevelund den Versuch, von erheiternden und ablenkenden Dingen zu sprechen; aber er merkte, daß Griggs nicht bei der Sache war.
»Wollen wir uns das Sechstagerennen ansehen?«
»Meinetwegen.«
Sie nahmen ein Auto.
Die Transpiration von dreitausend Menschen erfüllte die Luft des ungeheuren Saales. Gläsern drang das Licht durch den Staub, Geschrei und quäkende Musik lagen wie zäher Brei über dem Gewoge, das sich von den Galerien ausnahm wie das Zucken eines tausendgliedrigen Tieres.
Sie wanden sich durch das Getriebe; der brünstige Atem der Menge, die hier Körper an Körper das Muskelspiel verschlang, strömte erregend auf die späten Gäste über. Ein Schrittmacher stürzte; schon war Griggs völlig bei der Sache, und im Nu war ein kunstgerechter Verband angelegt. Seine Augen hatten wieder ein bißchen von dem alten Glanz, als er zu Oevelund zurückkehrte.
Sie kamen zu den Logen hinauf. »Ganz frei ist nichts mehr«, sagte der Oberkellner. »Aber hier sitzt nur ein Herr mit zwei Damen – das wird sich machen lassen.«
Der Kellner öffnete die Portiere; die beiden traten ein.
Dort saß der Kammerherr Gandrup mit Astrid Laurgaard und Yrsa Aspinall.
»Es ist heute das zweitemal«, sagte Yrsa mit freundlichem Lächeln; »das ist gewiß ein Wink des Schicksals.«
Oevelund strahlte. Der Kammerherr erhob sich mit betonter Langsamkeit: »Herr Doktor Griggs – Herr Oevelund – Baronin Laurgaard.« Und kühl setzte er hinzu: »Frau Aspinall kennen Sie wohl schon?«
Yrsa nahm das Wort. »Gewiß: Herr Doktor ...«
»Griggs!«
»Richtig; diese verwünschte Vergeßlichkeit! Sie sind Arzt, Herr Doktor?«
Griggs machte eine Verbeugung.
Oevelund sah das verlorene Lächeln in Griggs' Zügen. »Herr Doktor Griggs ist nicht nur Arzt – er ist zugleich einer der erfolgreichsten Radiotechniker, die wir in Skandinavien haben.«
»Radio ...«, wiederholte Yrsa Aspinall, die lächelnden Augen auf Griggs gerichtet.
»Irre ich mich oder haben Sie meine Braut schon vor einigen Tagen kennengelernt, Herr Doktor Griggs?« fragte Gandrup mit seiner kühlen Stimme, die Griggs durch irgendeinen Unterton auf die Nerven fiel.
Griggs wollte eben antworten – obwohl er mit sich selbst noch nicht im reinen war, was er sagen sollte. Er warf einen schnellen Blick in Astrids Gesicht – aber ihre Züge waren völlig undurchdringlich, und man konnte ebensogut annehmen, daß sie sich der seltsamen Erlebnisse von Sonnabend nacht überhaupt nicht erinnere. Da trat der Kellner ein, und die Unterhaltung nahm eine gleichgültige Wendung.
Griggs wandte seine Aufmerksamkeit den Vorgängen in der Bahn zu. Es war der fünfte Tag; die neun Mann, die im Rennen verblieben waren, umkreisten in gleichmäßig scharfer Fahrt das Rund.
Die drei Fahrer, die an der Spitze lagen, waren sich sichtlich ebenbürtig. Sie schienen das Abkommen getroffen zu haben, die Entscheidung nicht durch Vorstöße zu riskieren, die unnötiges Risiko brachten. Hinten »lagen« die überrundeten Mannschaften, und von Stunde zu Stunde spitzte sich der Kampf auf den Endspurt des Tages zu.
»Um Gottes willen!« schrie die Baronin auf.
Einer der Fahrer, von seinem Hintermann gedrängt – der wiederum von einem Dritten forciert wurde –, kam in der Auslaufkurve zu Fall. Die Geschwindigkeit war groß, der Sturz gefährlich. Man trug den Bewußtlosen vom Platze.
Oevelund belehrte Astrid Laurgaard fachmännisch über einige Einzelheiten. »Gewiß,« sagte er wie tröstend, »der Mann, der ihn zu Fall gebracht hat, wird bestraft. Und wahrscheinlich auch der Dritte, der jenen wieder gedrängt hat.«
Ein paar schleifengeschmückte Lorbeerkränze und zwei ungeheure Blumenkörbe tauchten aus dem Gewimmel auf: für den Verunglückten.
»Wollen Sie sich nicht dem armen Menschen zur Verfügung stellen?« fragte die Amerikanerin.
Oevelund legte sich ins Mittel: »Ich glaube, es sind Ärzte genug hier. Herr Doktor Griggs hat einen Tag voller Aufregungen hinter sich.«
»Ärztliche Angelegenheiten?« erkundigte sich Yrsa Aspinall.
Zerstreut antwortete Griggs: »Ärztliche. Private – was Sie wollen.«
Ein paar wohlgenährte Herren mit blitzenden Brillantringen warfen dem Kapellmeister Banknoten zu. Er klopfte die Serenade ab; á tempo begann der Schlager: »What will I do?«
Der Kammerherr winkte den Kellner mit den Augen heran:
»Die Rechnung!«
»Willst du schon gehen?« fragte Astrid.
»Ich möchte den Damen einen Vorschlag machen: Wollen wir ein offenes Auto nehmen und eine Fahrt nach Klampenborg machen?«
Yrsa klatschte in die Hände: »Das wird famos! Unterwegs müssen Sie uns von Ihren Radioforschungen erzählen, Herr Doktor ...«
»Griggs.«
Gandrup zog eben eine Banknote. »Wenn ich mir eine bescheidene Bitte erlauben darf, so möchte ich vorschlagen, daß Herr Doktor Griggs diesen Wunsch der Frau Aspinall, wenn es möglich ist, unerfüllt läßt. Dieser Tag war an Genüssen so außerordentlich reich, daß ich fürchte, meine Aufnahmefähigkeit ist zu Ende.«
»Sie dürfen vollkommen beruhigt sein, Herr Gandrup«, sagte Griggs lächelnd. »Ich habe weder die Absicht, mit Ihnen nach Klampenborg zu fahren, noch Ihnen Radiovorträge zu halten.«
»Du hast Herrn Doktor Griggs gekränkt, Kai«, sagte Astrid Laurgaard. »Du wirst ihn bitten, uns zuliebe seinen Entschluß zu ändern.«
»Mein liebes Kind: ich finde den Entschluß des Herrn Doktor Griggs zu vernünftig, um ihm im Ernst widersprechen zu können.«
Griggs erhob sich: »Kommen Sie mit, Oevelund?«
Oevelunds Blicke hingen an den Zügen der schönen Mrs. Aspinall, und obwohl er Griggs' Frage offenbar gehört hatte, war ihm doch der harte Untertan ihres Anlasses entgangen. »Bleiben Sie doch noch ein bißchen!«
»Ich stimme ebenfalls dafür, daß die Herren uns begleiten«, sagte Yrsa Aspinall. Gegen Frauenwillen kommen Sie nicht auf, Herr Gandrup! Und wer weiß, was für interessante Dinge uns Herr Doktor Griggs zu erzählen hat.«
Die Portiere öffnete sich; Neuankömmlinge lugten auffordernd herein. Der Kellner mochte ihnen die verheißungsvolle Tatsache berichtet haben, daß die Herrschaften in der Loge am Aufbrechen seien.
Die fünf erhoben sich.
»Die ›Olympia‹ wird mir immer unerträglicher«, mokierte sich Gandrup, während er sich durch das Menschengewoge drängte.
»Ein offenes Auto!«
Der Portier pfiff; ein Wagen fuhr vor.
»Gute Nacht, meine Herren!« sagte Gandrup, leicht den Hut lüftend.
»Es tut mir leid, daß Herr Doktor Griggs nicht mitfährt«, sagte Astrid, dem Arzt ins Gesicht sehend. »Ich hätte mich gern mit ihm unterhalten; es gibt, glaube ich, nichts, was er nicht weiß.«
Auch Yrsa machte ein bedauerndes Gesicht: »Ich höre so viel Interessantes von Ihnen, daß ich selbst ganz begierig werde, Sie näher kennenzulernen. Ein Arzt, der in seinen Mußestunden ›Radio forscht‹, das interessiert mich: schon deshalb, weil ich das Gefühl habe, das eins das andere erdrückt.«
»Ganz meine Meinung, meine Gnädigste!« sagte der Kammerherr mit spöttischem Lächeln. »Als Jäger habe ich die Erfahrung gemacht: wer zwei Hasen schießen will, verfehlt gewöhnlich beide.«
Griggs wollte etwas erwidern; aber das Auto schoß eben davon, in der Richtung nach dem Kongens Nytorv.
*
Griggs stand überlegend vor der Tür des Krankenzimmers. Er zerdrückte nachdenklich die Zigarette zwischen den Fingern und warf sie auf den Linoleumbelag des Korridors. Dampf stieg schwelend auf; er zertrat den glimmenden Tabak und öffnete die Tür.
Der Kranke sah ihm entgegen; er hielt den Mund geschlossen, nur seine Augen verfolgten den Arzt, während er an das Bett trat.
»Guten Abend, Lumbye.«
Der Patient bewegte grüßend den Kopf.
»Geht es Ihnen ein bißchen besser? Ich möchte Ihnen auf alle Fälle gute Nacht sagen.«
Lumbye hob seine Augen zu dem Arzt, und Griggs schien es, als ob der Blick des Todkranken ihn völlig durchdringe. Jäh schämte er sich seiner heuchlerischen Frage – wider seinen eigenen Willen sah er zu Boden.
Der Liegende gab sich einen Ruck. Er wies mit den Augen auf die Uhr – der Zeiger stand auf dreiviertel drei. Und mit seltsam klarer Stimme sagte er:
»Es ist die fünfte Nacht.«
Griggs sah jenen fast furchtsam an.
Aus dem Dunkel dieses grauen Hauses kroch es heran. Durch die schweigenden Mauern hindurch glitt der Zug der Todkranken; lautlos, mit geschlossenen Lippen kamen sie aus der Nacht. Sie hatten sich bei den Händen gefaßt, und nur ihre Augen waren in einer einzigen stummen Frage auf den Arzt gerichtet. Es waren die Augen dieses Alten, er erkannte sie wohl; sie verhundertfachten sich – immer hastiger wurde der Schritt der Wandernden. Er konnte ihnen helfen ... und er half ihnen nicht. Er war befangen in menschlichen Satzungen, das große und heilige Gefühl des Mitleids war erstickt in Menschenfurcht. Eine ferne, dumpfe Musik schien den Zug zu begleiten; einen Atemzug lang mischte sich Bild und Klang zu einem unbegreiflichen Ganzen, das drohend wuchs und den Raum erfüllte. Dann erkannte er diese Töne: den verworrenen Rhythmus eines Schlagers, der sich mit den irren Visionen höhnend verband.
Er hatte geschlemmt, während ein Mensch sich in Qualen wand. Während ein Mensch dem Irrsinn entgegenlitt, hatte er Licht und Lachen genossen.
Seine Arme sanken ihm schlaff herab. Er machte eine Bewegung zur Tür; die unnatürlich großen Augen Lumbyes ruhten noch immer auf ihm.
Er faßte in die Tasche:
»Sie sollen schlafen, Lumbye – – –«
*
Es schlug drei Uhr, als er hastigen Schrittes ins Arbeitszimmer trat.
Die Atmosphäre dieses Raumes war eine fühlbar andere. Hier war Ruhe – über den Dingen, die diesen Raum füllten, lag der behagliche Ernst ehrlicher Arbeit. Seine Unsicherheit schwand, während er sich umsah, und die wohltuende Primitivität der Instrumente empfand er wie den Händedruck eines treuen Kameraden.
In diesem Augenblick zerriß ein scharfer Laut die Stille: der Melder des Radioapparates schlug rasselnd an.
Er legte den Kopfbügel um; pochenden Herzens vernahm er bekannte Zeichen.
Während die unbegreifliche Botschaft an seinem Ohr vorüberzog, klopfte es. Das ängstliche Gesicht der Schwester erschien in der Tür und verschwand wieder.
Die Impulse waren stärker, aber sie waren unverkennbar die gleichen, und es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß hinter diesen Zeichen ein Sinn stand.
Er saß nachdenklich, nachdem der Anruf verklungen war, als erneutes Klopfen ihn auffahren ließ.
Es war die Schwester.
»Nun?«
»Ich wollte melden, Herr Doktor: Lumbye ist soeben gestorben.«
Er nickte. Und mit leiser Stimme erwiderte er:
»Ja, Schwester.«