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VI.

In der grauen Frühe eines nebligen Aprilmorgens erschienen sechs Männer. Sie brachten den Fernseher. Oevelund begleitete sie mit der Miene eines Triumphators.

»In fünf Minuten können Sie mit dem Mars telegraphieren, Griggs!«

Ganz so schnell ging es nun nicht. Im Gegenteil, es ging recht langsam. Zunächst verteilten sich die sechs Männer auf sämtliche Zimmer des Hauses; was sie da wollten, begriff eigentlich niemand. Sie beklopften die Wände, legten Zollstöcke lang und quer und machten sich geheimnisvolle Eintragungen in ihre Notizbücher. Hierauf berieten sie im Flüsterton unverständliche Dinge, schüttelten die Köpfe; dann, auf einmal, hatten sie einen heftigen Streit.

Während dieser ganzen Zeit stand der Fernseher noch immer unten auf dem Wagen.

Hierauf wurden Leitern geholt und Gurte; ein Mann ließ sich zum Fenster hinaus, die andern fünf fungierten als Gegengewicht. Er klopfte draußen mit einem merkwürdig geformten Hammer an die Wände und notierte wieder etwas in seinem Buch. Darauf ging er hinein, und dann folgte wieder eine längere Beratung.

Griggs, der die ganze Zeit über bei seinen Kranken gewesen war, erschien endlich. Er warf einen betroffenen Blick auf die zusammengerollten Teppiche, die Leitern und die Kreidestriche auf den Wänden und auf dem Parkettfußboden; dann erwähnte er beiläufig, daß nebenan der komplette Radioempfangsapparat stünde und daß nichts weiter nötig sei, als den Fernseher an die fertige Leitung anzuschließen.

Hierauf gab es einen ungeheuren Krach. Die sechs erklärten sich geradezu für geuzt: warum man ihnen das nicht gleich gesagt hätte? Einer, sichtlich ein Sanguiniker, machte den Vorschlag, die Arbeit überhaupt niederzulegen; erst eine eidesstattliche Versicherung Griggs', daß er ausreichende Mengen Likör im Hause habe, vermochte diesen Beschluß zu ändern.

So kam endlich der große Augenblick heran: man stellte den Fernseher auf die Schieferplatte des Isoliertisches. Dann sahen sich die sechs halb erwartungsvoll, halb mißtrauisch an und konstatierten, so durstig wie heute wären sie noch nie nach einer Arbeit gewesen.

Oevelund und Griggs betrachteten den seltsam komplizierten Apparat.

»Kennen Sie sich aus?« fragte Oevelund.

»Wenn ich es Ihnen ganz offen sagen soll: nein.«

»Passen Sie auf. Hier kommen die Bildströme an. Hier ist der Zweiröhrenverstärker, hier fallen sie in den Oszillographen. Dieser kleine Spiegel gibt in seinen Ablenkungen die Pulsation der Bildströme wieder. Sehen Sie hier – hier fällt von dem Spiegel ein Lichtstreif neben den Spalt der Diaphragmawand. Je nach der Stärke der Impulse verändert sich die Ablenkung des Spiegels – somit fallen unausgesetzt veränderte Lichtstreifen auf das zweite Spiegelchen. Von diesem aus – sehen Sie, hier ist es – fallen die Strahlen auf diese Mattscheibe. Verstehen Sie den Vorgang? Der Strahl zeigt auf diese Weise auf der Empfangsstation genau die gleichen Bewegungen und Veränderungen wie das Bild, das auf der Sendestation über die Selenzelle bewegt wird.«

»Das ist ja fabelhaft!« sagte Griggs. »Ich wußte gar nicht, daß Sie auch auf diesem Gebiet so zu Hause sind!«

»Tja,« sagte Oevelund, »– übrigens habe ich es mir von Bjerke erklären lassen.«

Griggs lachte. »Wie nun, wenn unsere Hoffnungen uns trügen?«

»Aber, Griggs!«

»Es wäre nicht das erstemal, daß ich mir in Gedanken ein bestimmtes Resultat vorweggenommen hätte – und daß die Praxis mich hinterher zu ganz anderen Dingen führte. Oft zu besseren – oft ins Nichts. Wir müssen damit rechnen, Oevelund, daß auch dieser Weg ein Irrweg sein kann und daß wir unsere Erwartungen als Phantastereien erkennen.«

»Sie sind so merkwürdig mutlos heute, Griggs?«

Griggs legte die Hände über die Augen. »Ja«, sagte er leise. »Ich kenne mich selbst kaum wieder. Und mit einer nervösen Bewegung gegen den Apparat setzte er hinzu: »Also ich schlage vor: wenn irgend etwas geschehen sollte, rufe ich Sie, Oevelund.«

Oevelund verstand. Er drückte dem Freunde die Hand und ging.

Griggs saß regungslos in seinem Sessel. Er hörte, wie jener unten die Haustür öffnete und wie sie zurückfiel in den federnden Hebel des Türschließers. Dann nahm die stille Straße ihn auf; seine Schritte klangen einen Moment auf den Fliesen.

Es schien Griggs, als ob eine schwere und schwüle Ruhe über seinem Zimmer läge.

Er faßte in die Tasche und zog einen Brief.

Es war eine Vorladung der Ärztekammer.

*

Herr Bjerke schüttelte höflich ablehnend den Kopf: »Danke, ich bin Temperenzler.«

Griggs lachte. »Glauben Sie mir, Herr Bjerke: der Alkohol ist eine der herrlichsten Einrichtungen der Welt!«

Oevelund füllte eben behaglich sein Glas. »Ich kann mir vorstellen, daß in der Abstinenz letzten Endes ein raffinierter Genuß liegt. Es gibt ein Genießen der Dinge, das sich mit der Vorstellung des Genusses begnügt und das dadurch natürlich reiner und vollendeter ist als die Wirklichkeit: denn so herrlich wie in unserer Phantasie kann kein Glück der Erde sein. Außerdem hat diese Art den Vorteil, daß einem die Reaktion erspart bleibt.«

»Und die Kosten«, sagte Griggs.

»Die gehören auch zur Reaktion. Es ist nicht nur im Essen und Trinken so: mit der Liebe verhält es sich nicht anders. Ich kenne Männer, die sich mit der Einbildung begnügten, eine Frau, die sie anbeten, zu umarmen – und die in dieser Einbildung grenzenlos glücklich sind. Wir alle machen den Fehler, das Maß des Glücks zu tief ausschöpfen zu wollen; jene aber halten sich an die Sublimierung – an den vergeistigten Sinn des Genusses. Das sind die wahren Lebenskünstler.«

»Ich glaube nicht, daß ein junger Mann von Fleisch und Blut sich mit solchen Philosophien über die Liebe hinwegtäuschen wird.«

»Es gibt mehr solcher Menschen, als Sie annehmen. Und ich habe sogar den Eindruck, daß diese Auffassung an Boden gewinnt. Nicht wahr, Herr Bjerke?«

»So kompliziert sind meine Gedankengänge nicht«, sagte der Ingenieur kopfschüttelnd. »Außerdem bin ich verheiratet. Und was den Alkohol betrifft, so habe ich ihn mir deshalb abgewöhnt, weil ich sofort über die Schnur schlage, wenn ich einmal damit anfange. Mein Beruf aber erfordert sichere Hand und ruhiges Auge – da muß ich eben wissen, wofür ich mich zu entscheiden habe.«

»Dafür haben Sie allerdings einen herrlichen Ersatz in Ihrem Beruf selbst«, sagte Griggs. »Wissen Sie, daß ich Sie fast beneide? Sie stehen mitten drin in diesen Dingen, die die interessantesten sind, die man sich denken kann. Sie belauschen den Pulsschlag der Welt; jenes reizvolle Werden der Dinge, das nur der schöpferische Mensch kennt, vollzieht sich vor Ihren Augen.«

»Na, na«, sagte Oevelund.

»Das ist nämlich der beneidenswerte Vorsprung,« fuhr Griggs fort, »den Sie von uns Praktikern der Arbeit voraus haben: Sie forschen – wir wenden an. Sie grübeln. Sie entdecken, Sie führen – wir bestätigen, wir nutzen aus – wir sind die Nachläufer.«

»Ich darf sagen« – Herr Bjerke sah wohlgefällig auf seine gepflegten Fingernägel –, »ich darf sagen, daß ich mich bis heute in einer Übereinstimmung mit der Akademie befunden habe, die mich glücklich macht. Sie haben von unseren Forscherarbeiten gesprochen. Damit haben Sie ein wahres Wort gesagt. Aber bedenken Sie, wie ungewiß der Weg des Forschenden ist! Er ist nur auf sich selbst angewiesen, und der Schluß, den er zieht, kann ebensogut ein Fehlschluß sein wie das Gegenteil. Da heißt es freilich: Vorsicht. Denn hat man einmal von der akademischen Wissenschaft das Zeugnis eines Phantasten weg, dann ist es natürlich aus.«

»Wirklich?«

»Ich wüßte kaum etwas, was mir furchtbarer wäre. Nur korrektes Denken, langsames illusionsloses Vorgehen kann zum Ziel führen.«

»Was nennen Sie das Ziel, Herr Bjerke?«

»Das Ziel« – ein wenig verwirrt wiederholte Herr Bjerke: »Das Ziel? Nun, natürlich die Anerkennung durch die Wissenschaft. Denn sie ist die letzte und maßgebende Instanz.«

»Sehen Sie das nicht ein wenig zu sehr als Beamter? Die Akademie, von der Sie sprechen, besteht doch schließlich auch nur aus Technikern, die nichts weiter vor Ihnen voraus haben, als daß sie in einer höheren Gehaltsklasse stehen.«

»Sie sind die kompetenten Richter, Herr Griggs.«

»Die Richter – schon. Aber kompetent? Sie scheinen die Geschichte der Wissenschaft nicht sonderlich genau zu kennen. Wissen Sie, was die Pariser Akademie Herrn Edison antwortete, als er ihr seinen Phonographen vorführte?«

»Nein«, sagte Herr Bjerke. »Das weiß ich nicht.«

»Sie antwortete ihm: ›Machen Sie, daß Sie hinauskommen, Sie Schwindler! Glauben Sie, wir werden uns von einem Bauchredner hereinlegen lassen?‹«

»Das ist allerdings unglaublich.«

»Wissen Sie, daß noch vor zwanzig Jahren die zünftige Wissenschaft den Standpunkt einnahm, man werde niemals in einem Flugzeug durch die Luft fahren können? Kennen Sie die Namen Gay-Lussac – Siemens – Helmholtz?«

»Natürlich.«

»Nun wohl. Diese drei Leuchten der Wissenschaft haben in ausführlichen Gutachten mathematisch bewiesen, eine Flugmaschine, schwerer als die Luft, wäre eine Unmöglichkeit. Hätte man sich im Ernst an diese Gutachten gehalten, das heißt: hätte man auf Grund dieser Urteile den Gedanken an das Flugzeug aufgegeben – so wäre der Aeroplan niemals erfunden worden. Sie sehen also, Skepsis ist immer ein Vorzug. Selbst Autoritäten gegenüber.«

»Das waren Ausnahmen, Herr Doktor Griggs.«

»Nein. Ich möchte beinah sagen: es ist die Regel, daß die Zunft wirklich weltumwälzende Erfindungen ablehnt – und daß sie die wirklich großen Erfinder mit Hohn überschüttet. Wissen Sie, daß man Papin und Fulton, die Pioniere des Dampfschiffs, in einem wissenschaftlichen Gutachten für verrückt erklärte, weil sie es unternahmen, physikalische Gesetze zu durchbrechen, die als geheiligt und feststehend galten? Ist es Ihnen bekannt, daß Arago, der berühmte Physiker, die Eisenbahn als eine Unmöglichkeit abtat?«

»Wollen Sie nicht doch vielleicht ein Gläschen Schnaps trinken?« fragte Oevelund.

Der Ingenieur schüttelte traurig den Kopf.

»Im Jahre 1870 trat ein Kollege von Ihnen, der Ingenieur Riggenbach, mit dem Projekt hervor, eine Bahn auf den Rigi zu führen, die auf gezahnten Schienen laufen sollte. Dieser Plan wurde von den Gutachtern als ein Attentat auf den gesunden Menschenverstand bezeichnet, als eine Verhöhnung der Naturgesetze – das sind die wörtlichen Überschriften der Artikel, ich kann sie Ihnen zeigen. Und im Mai des Jahres 1871 fuhr die Riggenbachsche Zahnradbahn auf den Rigi. Haben Sie einmal von dem Physiker Badinet gehört? Er hat mit mathematischer Genauigkeit nachgewiesen, daß ein Telegraphenkabel zwischen Amerika und Europa unmöglich sei. Der Physiker Poggendorff hat nicht nur den Erfinder des Telephons, Philipp Reiß, als einen Irrsinnigen bezeichnet – er hat auch Robert Mayer, den Schöpfer der Wärmetheorie, durch sein Gutachten ad absurdum geführt. Wollen Sie mehr? Die Königliche Akademie in London hat die Blitzableiteridee Franklins als baren Unsinn abgelehnt; Lavoisier hat haarscharf nachgewiesen, daß es keine Meteorfälle gäbe. Und das alles waren Stützen der Wissenschaft. Und wissen Sie, was Flammarion, der berühmte Camille Flammarion, gesagt hat?«

»Nein«, sagte Herr Bjerke mit dumpfer Stimme. »Aber ich möchte doch vielleicht einmal ...«

»Ich habe schon eingeschenkt«, nickte Oevelund.

Herr Bjerke trank das Glas langsam aus mit jenem halb andächtigen, halb entsetzten Gesicht, das der Temperenzler dem Alkohol schuldig zu sein glaubt.

»Darf ich ...«

Bjerke schüttelte den Kopf: »Um Gottes willen. Ich schäme mich so schon. Und nun gar ein zweites Glas!«

»Die Sünde ist dieselbe, Herr Bjerke.«

Der Ingenieur lachte. »Ich kann Ihnen aber auch ebensogut von Fällen erzählen, in denen die Akademie oder, um mit Ihnen zu reden, die Zunft tatsächlich ...«

Beunruhigt zog Oevelund die Repetieruhr, deren feines Klingen die Rede des Herrn Bjerke störte. »Es ist wahrhaftig halb neun. Wie doch die Zeit vergeht, wenn man sie in der Gesellschaft eines so angenehmen Plauderers wie des Herrn Bjerke zubringt!«

»Da hatten wir zum Beispiel vor zwei Jahren«, begann Herr Bjerke, »einen Fall, der Sie interessieren wird. Kommt da eines Tages ein gewisser ... ein gewisser ...«

»Wann essen Sie gewöhnlich zur Nacht?« erkundigte sich Oevelund interessiert.

»Jetzt weiß ich: Hansen hieß er.«

»Aha, Hansen.«

»Er zeigte mir da ein ganz seltsames Element: Praseodym. Das heißt, es kann auch Neodym gewesen sein, die beiden verwechsle ich nämlich immer.«

»Sie haben Ihr Glas nicht ganz ausgetrunken.«

»Nanu? Ich glaubte doch ...«

»Sehen Sie nur genau hin.«

»Wahrhaftig, Sie haben recht. Sehen Sie, das kommt, wenn man sich nichts aus dem Alkohol macht. Na Prost!«

»Also ein Stück Neodym.«

»Irren Sie sich auch nicht? Man verwechselt es sehr leicht mit ...«

»Stimmt«, bestätigte Herr Bjerke erfreut. »Ist Ihnen das auch schon passiert? Man verwechselt es so leicht mit ... mit ... ach was, das ist ja ganz egal!«

»Wollen Sie nicht mal diesen Whisky versuchen?«

»Wo denken Sie hin! Also dieser Hansen kommt doch da eines Tages zu mir und zeigt mir ...«

»Prosit, Herr Bjerke!«

»Aber ich hatte doch ausdrücklich gesagt ...«

»Verzeihen Sie. Sie hatten den Wunsch geäußert, diesen Whisky ...«

»Ausgeschlossen. Oder, sagen Sie mal, habe ich das Wirklich ...?«

»Gewiß, Herr Bjerke! Ihr Wohl!«

»Mein Gott – wissen Sie, das erinnert mich an diesen Herrn Hansen mit dem Neo ... mit dem Praseo ... mit dem ... Prost!«

»Ihr Wohl, Herr Hansen ... Verzeihung, Herr ...«

»Neodym!« sagte Herr Bjerke. »Ach Unsinn, ich wollte natürlich sagen: Pra ... Pras ...«

»Prost!«

»Also dieser Hansen ...«

»Sagen Sie mal ... ist das solch Blonder?«

»Stimmt!« schrie Bjerke entzückt.

»Dann kenne ich ihn.«

»Wie ulkig.«

»Vergessen Sie Ihre Gläser nicht, meine Herren«, sagte Griggs.

Herr Bjerke ergriff kummervollen Gesichts das Glas. »Meine Frau entzieht mir den Hausschlüssel«, sagte er dumpf. »Zur Gesundheit!«

*

Doktor Griggs lauschte auf die Schritte der beiden, die in der stillen Straße verhallten. Die regenfeuchte Nacht strich herein in langen, müden Wellen. Sie erfüllte den Raum, diesen engen, beklemmenden Raum mit herrlicher, verheißungsvoller Weite, und ihre dunklen Flügel rauschten den Rhythmus des fernen Ozeans.

In Norman Griggs wurde es ganz still. Das letzte Echo war verklungen, verweht, zerronnen im schrankenlosen Raum der nächtlichen Stadt, und alle Schmerzen und Eitelkeiten der Menschen waren versunken in den Schlaf der Mitternacht. Vom Sund her tönte, kaum vernehmbar, das Nebelhorn eines fernen Schiffs; der Klang schien eins zu werden mit den dunklen Tiefen, aus denen er kam, in die er klagend zurückhallte.

Kein Stern war zu sehen. Nur ein schwacher rötlicher Reflex spiegelte fernes Licht. Nichts war vernehmbar in der Stille der Nacht, nur ein seltsam regelmäßiges Rauschen, das nicht dem Gehör, das dem Gefühl zufloß.

Der Pulsschlag der Zeit, dachte Griggs. Oder ist es das Singen meines Blutes?

Ein Windstoß fegte herein; lustig stob Asche über den Tisch, die Flamme des Rauchleuchters flackerte auf.

Griggs ging ans Fenster und schloß es. Er lehnte die Stirn an das kalte Glas und blickte in das Dunkel hinaus. Nichts war zu erkennen. Das tat ihm wohl.

Plötzlich ging laut und scharf der Melder der Radiostation.

Er zuckte zusammen und sah sich wie hilfesuchend um. Dann mußte er fast lächeln über sich selbst.

Er drehte den Griff, der das Projektionsband des Aufnahmeapparats bediente.

Nein. Er mußte sehen. Das Festhalten des Gesehenen kam in zweiter Linie. Fast hätte er aufgelacht: das Festhalten des Gesehenen! Wie kam er zu der vermessenen Hoffnung, es werde etwas zu sehen geben? Etwas festzuhalten?

Er schaltete die Anodenbatterie ein und drehte den Kontakt des Akkumulators. Die Audionröhren leuchteten auf.

Er nahm den Hörer. Kreisende Zeichen begannen auf der Membrane zu schwingen.

Der Ruf aus dem Aether ...

Er löste die Drähte aus den Klemmschrauben des Empfängers und schaltete den Fernseher ein. Dann rannte er an den Lichtschalter und drehte ihn: das Zimmer lag in rötlicher Finsternis.

Mit zitternden Knien tastete er sich an den Apparat zurück.

Hier war die Mattscheibe.

Der Schlag seines Herzens stockte. Er starrte mit brennenden Augen auf das viereckige graue Fleckchen, auf dem sich das Wunder einer neuen Weltära vollziehen sollte. Nichts war zu sehen, nichts zu hören; das ausgeschaltete Telephon war stumm. Ein kleiner Lichtfleck tanzte durch das Dunkel; er mochte durch das Fenster hereinfallen – ein belangloser Reflex aus dem Hause dort drüben.

Er wandte den Kopf in jener nervösen Spannung, die das Bedeutungsloseste zerfasern will.

Dort war kein Lichtschein.

Er blickte zurück. Das Pünktchen auf der Platte wurde stärker. Wanderte. Veränderte sich.

Er sprang auf, stürzte zum Fenster; rasselnd ließ er die Jalousie herunter.

Nun war das Zimmer völlig lichtlos; keine Selbsttäuschung konnte sich zwischen ihn und sein Vorhaben stellen.

Und in der Finsternis stand der Lichtpunkt auf der grauen Platte wie eine funkelnde Sonne.

Griggs zog mit ängstlicher Behutsamkeit den Sessel heran und ließ sich zögernd nieder. Der Lichtfleck kreiste vor ihm; deutlich zeichnete sich seine flimmernde Rotation von der Schwärze der Mattscheibe ab.

Plötzlich flammte in der rechten Ecke, diagonal zum ersten, ein zweiter Lichtpunkt auf – nein, ein Lichtring. Auch er rotierte. Die beiden Sonnen gerieten in Bewegung; es schien, als ob die äußere die innere zu umkreisen begönne. Dann, mit einem Schlage, glühte unten, hart am Rande der Scheibe, ein dritter silbriger Ring auf, kleiner als jene. Auch er war in zitternder Bewegung, wie die Nadel eines Kompasses.

Und schon trat aus dem Nichts ein neuer Lichtfleck.

Nun schoß ein feiner, leuchtender Pfeil aus der kleinen Zentralsonne hinüber in die rechte Ecke, hinunter in die linke; ein zweiter verband wie ein flammender Kanal die linke obere Ecke diagonal mit der rechten unteren. Bläulich schossen Blitze aus der Mittelsonne, umkreisten den Lichtfleck, ihn so ständig vergrößernd; der Lichtfleck wuchs und wuchs, und seine vier Trabanten gerieten in zitternde Bewegung, dabei unaufhörlich um sich selbst kreisend. Fast eine Minute lang war die Tafel ein völliges Chaos von Lichtern, Wolken, Blitzen, Flammen und Kreisen. Dann zog sich die Lichtfülle auf einen winzigen Kern zurück, der in der Mitte stand – wie die Iris einer Kamera.

Und nun geschah es.

Aus dem kleinen Lichtpunkt wuchs es hervor: ein Vieleck mit langen Zacken.

Ein Stern!

Plötzlich flammten überall rechts und links ähnliche Sterne auf, sie umspielten sich – wie einer kindlichen Laune folgend, setzten sie sich plötzlich zu einer regelmäßigen Figur zusammen – ein Kreuz!

Auch das Kreuz floß auseinander – kaleidoskopartig verloren sich die Sterne nach allen Seiten, fanden sich wieder zusammen.

Eine Kette!

Dann, mit einem Schlage, erloschen die Lichtfiguren. Einen Moment lang war es völlig dunkel auf der Platte – da entstand mitten in dem Dunkel ein Gebilde, das emporschoß und aus dem neue, kleinere leuchtende Sprossen stiegen.

Ein Baum!

Der Baum vergrößerte sich – er füllte das Rechteck der Platte – und an seinen Ästen und Zweigen bildeten sich kleine leuchtende Dolden. Ein Baum mit Blättern und Blüten.

Der Baum wurde wieder kleiner; unter ihm wurde es lebendig. Kleine, kurze, leuchtende Striche setzten sich in unermüdlicher Wiederholung nebeneinander, einzelne der Striche waren länger als die andern, sie trugen traubenartige Verdickungen – und langsam begann das Ganze hin und her zu wogen.

Ein Kornfeld!

Das Bild wurde schwächer. Neue Bewegung schien aus dem Mittelpunkt zu kommen, aber alle Eindrücke waren unklar, vieldeutig. Dann nahm das Licht merklich an Helligkeit zu – ein paar lichtumrissene Figuren zeigten sich, bewegten sich über die Fläche.

Tiere!

Tiere, die er nicht kannte ... Er unterschied Köpfe, Beine, Flossen; aber ihre Zusammenstellung zum Ganzen war völlig verschieden von dem, was er je gesehen hatte. Dennoch waren es Tiere, es war unverkennbar.

Wieder wurde das Bild dunkel. Seltsame Umrisse formten sich, und es sah aus wie Felsen. Und wellenartig durcheinanderfließend schoß es herein:

Meer!

Das Meer wogte vor seinen Augen, es war keine andere Deutung möglich. Meer – Felsen – Bäume und Tiere. Langsam erhob sich mitten aus den Wellen ein seltsames Etwas. Es stieg und überragte die Felsen. Das Licht schien schwächer zu werden – und plötzlich brach es feurig-flüssig hervor. Es stieg in steiler Flamme empor und rieselte golden dampfend hinab ins Meer.

Ein Vulkan!

Dann, langsam, wurde das Bild schwächer. Die Konturen zerrannen, das Licht erlosch.

Die Platte war dunkel.

Doktor Griggs saß starren Auges, ohne sich zu rühren. Diese wenigen Minuten hatten das große Erlebnis gebracht, auf das er geharrt hatte alle diese Jahre. Das Unbegreifliche, das völlig Undeutbare. Es war eine Botschaft gewesen – daran war kein Zweifel. Aber an wen? Und vor allem: woher? Daß sie von einem andern Planeten kam, schien ihm sicher. Die seltsamen Tiergebilde waren nicht irdisch. Wo aber im unendlichen Weltenraum kreiste der Stern, von dem dieser Ruf kam? Auf welchem Planeten lebte das Gehirn, das in dieser Sekunde Zwiesprache gehalten hatte mit dem seinen? Wo, wo, wo?

Da zeigte sich wieder ein leuchtender Punkt. Er wurde stärker und größer – eine kleine Sonne. Und um diese Sonne herum legte sich ein breiter rotierender Gürtel.

Griggs sprang auf, daß der Stuhl krachend zurückfiel. Was dort auf der Mattscheibe leuchtend rotierte, war der Saturn.

Als ob das Bild die wohlüberlegte Absicht gehabt hätte, dem fernen Empfänger dieser Botschaft Antwort zu geben auf die Frage nach dem Woher, als ob es seinen Zweck mit dieser Antwort erfüllt habe – das Bild erlosch.

Griggs tastete sich bebend empor. Er drehte den Schalter; freundliches Licht fiel auf den regungslosen Apparat dort drüben. Er öffnete die Jalousie und stieß das Fenster auf – aber der kühle Luftzug vermochte den rasenden Wirbel in seinem Innern nicht zu dämpfen. Es flackerte vor seinen Augen, wohin er blickte; die Luft, die Wände, die Türen, das dunkle Holz der Möbel – alles war bedeckt von kreisenden und leuchtenden Bäumen, Blumen, von feuerspeienden Bergen und von wogenden Meeren. Und von seltsam unirdischen Tieren. Der Reigen der leuchtenden Zeichen wurde immer irrer, das Tempo ihres Kreises ging über menschliches Erfassen.

Er stürzte hinaus.

Der Korridor, das Treppenhaus, die Tür, die ins Freie führte, alles war bedeckt von wahnwitzigen Lichtsignalen; in dem dunklen Nebel, der die Straße erfüllte, glaubte er feurige Kreuze, fließende Kreise zu greifen. Er stürzte vorwärts, seine Hände schürften sich wund an dem Granit der Mauern, die er taumelnd streifte. So rannte er durch die Nacht, erfüllt, überwältigt von den Gesichten, die zu deuten sein Hirn außerstande war. Die Lichter der inneren Stadt kamen näher – er rannte in immer tollerem Tempo, der Kopf, das Herz, das Blut erfüllt von dem kochenden Wirbel, der völlig Besitz von ihm ergriffen hatte.

Dort war Oevelunds Haus.

Er drückte auf den Knopf. Obwohl er wußte, daß es ein paar Minuten dauern werde, dauern müsse, vermochte er dennoch nicht, sich mit der kleinen Geduldspause abzufinden; er hämmerte mit den Füßen gegen die Tür, daß hallend das Echo durch das Treppenhaus rollte.

Oben wurde Licht. Ein Fenster klang – jemand beugte sich hinaus.

»Sind Sie es, Griggs?«

Griggs blickte hinauf, unfähig, eine Antwort zu geben. Betroffen starrte Oevelund auf die Blässe seines Gesichts, auf dem der Schein der Gaslampe flackerte. Das Fenster schloß sich wieder; nach einer Ewigkeit wurde das Treppenhaus hell.

Griggs stand unten, den Kopf gegen das Holz der Haustür gepreßt, wie ein Kranker, ein Selbstmörder, ein Irrer. Er hatte die Hände in den Taschen; undeutlich fühlte er, daß sein ganzer Körper zitterte und daß seine Zähne aufeinanderschlugen.

Die Tür ging auf.

»Sie, Griggs?« fragte Oevelund. »Was bedeutet das?«

»Ich habe ... ich habe ... der Saturn ... der Saturn ...«

»Kommen Sie zu sich – nein, kommen Sie herein. Was ist mit Ihnen, Griggs, Sie sind eiskalt. Lassen Sie doch die Tür los!! Kommen Sie, wir wollen ...«

Griggs rührte sich nicht. Oevelund faßte besorgt seine Hand, nahm sie mit Gewalt von der Türleiste fort.

»Um Gottes willen, Griggs!«

Griggs sah ihm ins Gesicht mit einem fernen, völlig verständnislosen Ausdruck in den Augen. Während ihn der andere unschlüssig betrachtete, veränderten sich seine Züge; sein Blick wurde groß und strahlend, seine Arme erhoben sich: »Der Saturn!« sagte er ganz deutlich. Dann griff er nach Oevelunds Kehle, als ob er jenen packen wolle – nervös wich Oevelund einen Schritt zurück. Griggs schüttelte mit einem unbegreiflichen Lächeln den Kopf – blitzschnell verschwand der gespannte Ausdruck aus seinen Zügen; starre Apathie trat an seine Stelle. Er wollte mit den Händen nach einem Punkt im Leeren greifen; aber seine Finger krampften sich sinnlos ineinander, öffneten sich wieder. Kraftlos sanken ihm die Arme herab. Er trat auf Oevelund zu, als ob er ihm etwas Geheimnisvolles zu sagen wünsche; aber mitten im Schritt hielt er inne. Er warf die Arme in die Luft, öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei – dann brach er ohnmächtig auf den Steinfliesen zusammen.


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