Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI.

Sturm schreitet über die Welt.

Er streckt seine Arme aus über das lateinische Amerika – und donnernd brechen alle Schranken. Er fegt über Asien – und zitternd kniet die Welt zu seinen Füßen. Sein heißer Atem weht über den Kontinent Australien: der besiegte Erdteil duckt sich vor dem Herrn. Und er greift hinüber zu den Küsten Südafrikas, sich zu nehmen, was ihm gehört.

Die Erde lauscht seiner Stimme. Sie hält den Atem an, zu vernehmen, was er spricht; sie wartet, auszuführen, was er befiehlt.

Der Kriminismus!

Die Sträflinge von Phoenix Bay, Navy Bay, Mount Harriett und Bamboo Flat, die Insassen des Goplakabang, von North Corbyus Cove und von Namunaghar haben sich zu Herren der Niederlassungen gemacht. Der gleichen Niederlassungen, in denen sie Sklaven gewesen sind bis heute!

Europa ist mit Explosivstoff geladen. Das Weltgebäude wankt; die zitternde Kultur steht vor dem Sterben. Die Börse ist ein Gegenstand des Spottes geworden; die Kurse fallen und fallen ...

Ein geheimnisvoller Zusammenhang verbindet die Aufständischen vierer Erdteile. Niemand kann ihn erklären – dennoch ist er deutlich erkennbar. Man bestreitet offiziell – und man raunt es sich im stillen zu. Aber alle wissen: das ist die Welle vom Saturn. Die kriministische Pest!

An einem frühen Sommermorgen ging ein Transradiogramm von der Zentrale der Kriministen in sämtlichen Großstationen der Erde ein:

»Wir wollen, daß die Welt uns richtig begreift. Wir haben unsere Ketten gesprengt, nicht, um uns bessere Nahrung zu erzwingen – nein: wir treten die Herrschaft über die Erde an. Die alten Formen zerbrechen. Die, die bisher geknechtet und gestraft waren, sind jetzt die Herren. Wir haben ungeahnte Mächte auf unserer Seite, denen kein irdischer Widerstand gewachsen ist. Mächte des Geistes – Mächte aus dem Kosmos.

Unser ist die Welt!«

Europa beruft eine Konferenz ein; als Ehrengast präsidiert Norman Griggs. Er soll raten, was gegen die kriministische Welle zu unternehmen ist.

Das war die große Rehabilitierung des Doktors Griggs: auf jenem Antikriministenkongreß in Kopenhagen ...

Der König selbst eröffnete die Sitzung; als er den Vorsitzenden Doktor Griggs aufforderte, seines Amtes zu walten, erscholl Händeklatschen. Verwirrt trat der König in das Dämmer des Pfeilerganges. Griggs bestieg die Tribüne, und der Beifall wurde zum gewaltigen Brausen.

Er legte seine Beobachtungen dar. Er führte die Bildbotschaften in der Projektion vor – alle jene nächtlichen Signale, die ihm der strahlende Stern in sein stilles Studierzimmer geschickt hatte.

»Ich bin bereit, meine bescheidenen Kräfte in den Dienst des Kampfes gegen die Kriministen zu stellen. Aber ich muß einen Moment in eigener Sache zu Ihnen sprechen. Viele unter Ihnen werden es wissen: ich stehe unter der Anklage eines furchtbaren Verbrechens – das ich nicht begangen habe, das schwöre ich Ihnen. Es ist ein Mord, den man mir vorwirft. Und die schwerste Strafe, die das Gesetz kennt, lauert im Dunkel der Nacht auf mich. Ich kann meine Kräfte, meine Nerven, mein Leben nur dann in den Dienst der menschlichen Gesellschaft stellen, wenn dieser irrsinnige Druck von mir genommen ist. Sie müssen das begreifen. Wie kann jemand dem Gesetz zum Siege verhelfen, der durch das gleiche Gesetz an Leben und Ehre bedroht ist?«

Man applaudierte.

»Ich sehe dort drüben den Herrn Justizminister. Herr Minister: beenden Sie diese unwürdige Farce – geben Sie Befehl, daß die Akten der Mordsache Lumbye vernichtet werden. Dann bin ich der Ihre!«

Stille legte sich über das Haus. Zögernder Beifall klang auf.

Ein Herr trat aufs Podium.

Griggs erblickte ihn und erkannte den Kammerherrn Gandrup.

»Als Dezernent des Justizministeriums darf ich Herrn Doktor Griggs die Antwort des Ministers geben. Herr Doktor Griggs« – Gandrup wandte sich mit halbem Lächeln dem Arzt zu, der ihn mit finsterer Unruhe betrachtete –, »der Finanzminister hat nichts dagegen, wenn Sie sich mit der Welt über okkulte oder astronomische oder »kriministische« Fragen auseinandersetzen. Er wird Ihnen schon deshalb keine Hindernisse in den Weg stellen, weil diese Dinge nicht in sein Ressort fallen. Wie das Justizministerium im übrigen über Ihren Verkehr mit dem Saturn denkt, das steht auf einem andern Blatt. Sie haben es indessen für geschmackvoll gehalten, Herr Doktor Griggs, den Justizminister und seine Obliegenheiten in die Debatte zu ziehen – daraus ergibt sich die Notwendigkeit für das Ministerium, Ihnen zu antworten. Glauben Sie im Ernst, Herr Doktor Griggs, daß sich die Justiz, die hohe, heilige und hehre Justiz, durch Zuckerbrot und Peitsche beeinflussen läßt? Haben Sie so wenig Achtung vor denen, die berufen sind, diese Gesetze durchzuführen, daß Sie im Ernst glauben können, ihnen mit einer Erpressung beizukommen? Sie einschüchtern zu können, indem Sie Ihre kostbare Mithilfe abhängig machen von einem Verbrechen, das zu Ihren Gunsten geschehen soll? Nein, Herr Doktor Griggs, auch Ihnen wird das Wort bekannt sein: Fiat justitia, pereat mundus. Das Wort trifft wörtlich zu, und ebenso wörtlich soll es wahr werden.«

Und sich zum Publikum wendend, fuhr der Redner fort:

»Wie nun, meine Herren und Damen, wenn jene Sträflingserhebungen ohne jeden Zusammenhang mit Herrn Doktor Griggs und mit dem Saturn und mit den Radiodepeschen wären? Wenn Herr Doktor Griggs nichts wäre als ein Taschenspieler, der die Konjunktur nutzt? Es ist wahr: er hat Erhebungen der Sträflinge vorausgesagt, die eingetroffen sind. Aber: gibt es dafür nur eine Erklärung, die übernatürlich ist? Ich denke, die Deutung ist viel einfacher. Wie wär's, wenn Herr Doktor Griggs mit den Führern der aufständigen Verbrecher in irgendwelchem Kontakt stände? Vielleicht per Radio – das ist ja wohl heute das modernste. Einem Mann von der Vergangenheit des Herrn Griggs kann man das schöne Vertrauen schenken, daß er Beziehungen hat auch in den Zuchthäusern. Er weiß, was geschehen wird, er kennt die Absichten, die Taktik, die Strategie der Meuterer – und er nutzt diese Kenntnisse aus, um sich das Air eines Propheten zu geben. Eines Mannes mit übernatürlichen, übersinnlichen, interplanetaren Gaben. In Wahrheit: ein Taschenspieler, der nach dem Prinzip »Geschwindigkeit ist keine Hexerei« vor Ihren Augen eine Billardkugel in eine Kerze verwandelt.«

Murren erhob sich und Füßescharren.

»Wollen wir im Ernst darauf hereinfallen? Ich bin in der angenehmen Lage, Ihnen eine beruhigende Mitteilung zu machen. Es sind zwei Schlachtschiffe unterwegs. Wie Sie wissen, geht – ich gebe zu, daß hier eine seltsame unterirdische Übereinstimmung vorliegt –, wie Sie wissen, geht die Aufmarschrichtung der Verbrecher nach einem bestimmten Punkt der Erde; da wir die Etappen ihres Vordringens kennen, so können wir leicht die Stelle ermitteln, wo sich die Linien schneiden. Um es Ihnen gleich zu sagen: es ist der nördliche Teil des Indischen Ozeans – wahrscheinlich der Golf von Bengalen. Dies Wissen bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als die Geschosse richten können. Die ganze Schwierigkeit bestand bis heute in der Zerstreutheit des Ziels – in der Unübersehbarkeit des Kampffeldes. Nun, da man diese Dinge auf eine Formel gebracht hat, da die Gefahr gesichtet ist, ist sie überwunden. Es ist das Interessengebiet Englands, meine Herren und Damen, das den Schauplatz dieser unglaublichen Dinge bildet, die wohl nichts sind als eine der Zersetzungserscheinungen, hervorgerufen durch den Weltkrieg. England hat jene zwei Kriegsschiffe expediert; und ich glaube, ich kann damit heruntersteigen von dem Pathos, das unsere Sinne und unser Gehirn alle diese Zeit umnebelt gehalten hat. Ich kann die Dinge zurückführen auf das richtige Maß und kann Sie befreien von dem Druck des interplanetaren Betruges, des interplanetaren Aberglaubens. Ich kann Ihnen statt dessen in der vielleicht rauhen, aber ehrlichen Sprache des Alltags die Worte zurufen: In dieser Woche wird das Gesindel zusammengeschossen sein!«

Einen Augenblick herrschte Stille; dann setzte Applaus ein, der sich durch das ganze Haus fortpflanzte. Er klang nicht begeistert, eher demonstrativ; es war kein Applaus des Herzens, es war eine Kundgebung des Verstandes.

Der Redner verbeugte sich: »Um noch einmal auf das ungeheuerliche Ansinnen des Herrn Doktor Griggs zurückzukommen: er ist durch einwandfreie Zeugen eines kaltblütigen Mordes überführt. Die Tat hat ihm ein Vermögen in den Schoß geworfen. Daß er dieses Erträgnis seines Verbrechens zurückgewiesen hat, dürfen wir wohl unbedenklich als die geschickte Geste eines Menschen bezeichnen, der sich entdeckt sieht und der seine Motive aus der Welt schaffen möchte. Man hat ihn bis heute in Ruhe gelassen, weil er – auch das ist ein Zeichen unserer in allen Tiefen aufgewühlten Zeit – im Mittelpunkt des interplanetaren Rummels stand, dessen Prophet er war. Das Relief, das er sich selbst verliehen hat, hat ihn – Herr Griggs ist ein geschickter Taschenspieler – bisher vor der bürgerlichen Notwendigkeit bewahrt, sich verantworten zu müssen. Ich darf Ihnen sagen, daß in dieser Stunde gewisse Veränderungen eingetreten sind, die diesen Zuständen ein Ende machen. Ich muß es Ihnen anheimstellen, ob Sie einen solchen Menschen weiter für würdig erachten, der Vorsitzende Ihres Kongresses zu sein.«

Der Redner hatte geendet. Ein weißhaariger Norweger trat vor.

»Ich glaube zwar,« sagte er mit ruhiger Stimme, »daß die Ausführungen des Kammerherrn Gandrup, soweit sie den wissenschaftlichen Gegenstand unseres Kongresses betreffen, uns im Ernst nicht interessieren können. Das Thema, das die besten Fachleute der ganzen Welt hier zusammengeführt hat, ist viel zu schwierig, viel zu kompliziert, zu sehr abhängig von tausend Voraussetzungen, als daß eine Diskussion mit einem Laien in Frage kommen könnte.

Dagegen bin ich der Meinung, daß die Mitteilung über die persönlichen Antezedenzien des Herrn Doktor Griggs so niederschmetternd sind, daß von seinem Verbleiben wohl nicht die Rede sein kann. So dankbar wir seinem erleuchteten Geiste für seine mutige Führerschaft sind – so sehr sind wir es unserer Wissenschaft, unserem Stande und unserer Selbstachtung schuldig, daß wir ein Zusammenarbeiten mit Elementen ablehnen müssen, die nicht völlig integer sind. Ich beantrage daher, Herrn Doktor Griggs den gebührenden Dank auszusprechen für alles, was er für uns getan hat – und ihn gleichzeitig zu bitten, von seinem Posten zurückzutreten.«

Aller Augen richteten sich auf Griggs, der mit kurzen nervösen Schritten auf dem Podium erschien. Er sah erbleichten Gesichts in den Zuhörerraum hinein und sagte leise:

»Sie haben recht. Ich lege mein Amt hiermit nieder.

Aber ich bitte Sie, mir noch ein paar letzte Worte zu gewähren.«

Jemand lachte. Griggs schüttelte den Kopf:

»Fürchten Sie nicht, daß ich Sie mit den Beteuerungen meiner Unschuld langweilen werde. Man hat mir nicht geglaubt – ich weiche, denn ich bin der Schwächere. Aber es ist etwas anderes, was ich Ihnen sagen möchte. In allen diesen Nächten ist ein neuer Ruf an mich ergangen – ein neuer Ruf des Saturn: die Aufforderung, die Führung der Kriministen zu übernehmen.«

Irgendwo gellte Lachen auf, erstickte unter Zurufen.

»Dieser Ruf ist stärker als ich – er erfüllt meine Gedanken und er wird von Stunde zu Stunde dringlicher. Dennoch setzte ich ihm Widerstand entgegen aus jenen bürgerlichen Instinkten heraus, die mich mit Ihnen verbinden. Es ist nichts als Auflehnung gegen jenes klingende Sternengebot, wenn ich Ihnen meine Hilfe, meine Unterstützung angeboten habe in dem Kampf der Kultur gegen die Herrschaft des Verbrechens. Niemand von Ihnen kann sich eine Vorstellung machen von den furchtbaren inneren Kämpfen, die mich dieser Entschluß gekostet hat. Dennoch habe ich mich durchgerungen. Aber in dem Augenblick, da ich vor Sie hintrete, reinen Herzens und mit reinen Händen – das schwöre ich Ihnen –, da ich komme, Ihnen zu helfen, stoßen Sie mich zurück. Begreifen Sie, daß Sie selbst mich hineintreiben in das Lager der andern?«

Er ging starren Auges den staubigen Säulengang hinunter, über dem grelle Sonnenflecke lagen. Gesichter sahen ihn an, wandten sich ab. Er öffnete die Tür, die kreischend in den rostigen Angeln ging. Stille lag hinter ihm.

Der Platz vor dem Hause war fast menschenleer. Er ging in das Abendgold hinein, barhäuptig, die Augen geradeaus gerichtet, ohne rechts und links zu blicken. Ihm war, als klänge ein schneller Schritt hinter ihm auf, es konnte auch eine Täuschung sein; alles war nun gleichgültig. Zwei Herren kreuzten seinen Weg, sahen ihm ins Gesicht, stießen sich an. Wie sinnlos alle diese menschlichen Dinge waren! Trambahnen überholten ihn, rasten auf blitzenden Schienen hinein in die heiße Stadt, ihm erschien aller Lärm des Tages, alles Tun der Menschen wie etwas, an dem er keinen Teil hatte.

Der Schritt hinter ihm klang deutlicher; jemand rief seinen Namen.

Er wandte sich um, fast verwundert über sich selbst.

Es war Astrid Laurgaard.

Sie legte die Hand auf seinen Arm; es schien, als ob sie sprechen wolle. Aber ihre Lippen schlossen sich wieder, und sie schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. Er setzte, ohne recht zu wissen, seinen Weg fort; sie blieb an seiner Seite.

Aus einem Wagen, der hart an der Bordschwelle eben hielt, stiegen zwei Herren.

»Machen Sie kein Aufsehen«, sagte der eine von ihnen. »Sie sind verhaftet.«


 << zurück weiter >>