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Die National Tidende schrieb:
»Dänemark hat sich auf sich selbst besonnen: es hat Herrn Griggs dorthin spediert, wohin er gehört. Das Mittel des Herrn Griggs, den »Kriminismus« zu bekämpfen, mag gut sein – auf alle Fälle gibt es noch ein zweites, das den nicht zu unterschätzenden Vorteil hat, erprobt zu sein: das sind ein paar Kompagnien gut einexerzierter Soldaten. Nachdem man von diesem einfachen Mittel nunmehr Gebrauch gemacht hat, dürfte sich das Interesse für Herrn Griggs, den Arzt aus Amerika, auf einen viel leichter zu übersehenden Komplex reduzieren. Nämlich auf das Verbrechen des Mordes, das er begangen hat, und auf die Strafe, die ihm dafür gebührt. Diese Wendung hat eine weitere gute Seite: sie bewahrt Dänemark und die dänische Justiz vor dem brausenden Gelächter der ganzen Welt.«
Der Kongreß der Antikriministen hatte nicht verfehlt, die Reaktion auszulösen: zwölf der bedeutendsten Gelehrten der Erde schickten ein Kollektivtelegramm an die dänische Regierung, in welchem sie die Griggssche Theorie für Humbug erklärten und zu der Unschädlichmachung eines Schwindlers gratulierten.
Nur seltsam genug: die kriministische Bewegung dauerte fort. Schwoll an, griff um sich.
Alle Kulturstaaten waren, direkt oder indirekt, in Mitleidenschaft gezogen – sei es durch Zerstörung der strafvollziehenden Institutionen – sei es durch die physische und moralische Wirkung des siegreichen Verbrechertums.
Sämtliche betroffenen Kulturstaaten hatten Soldaten zum Kampf gegen die Aufrührer entsandt.
Astrid Laurgaard saß dem Graubärtigen gegenüber, der sie kühl und durchdringend durch seine Brillengläser betrachtete.
»Was wollen Sie von ihm?« Er warf einen Blick auf das Paket in ihrer Hand.
Sie sagte: »Diese Nacht ist ein neues Telegramm gekommen.«
»Vom Saturn?« fragte er vergnügt.
Sie nickte. »Ich habe den Bildstreifen entwickelt, aber ich kann ihn nicht deuten. Hier ist er. Er muß ihn haben, Herr Direktor. Bitte, lassen Sie mich sofort zu ihm.«
Der Graubärtige sah auf die Standuhr. »Erstens ist es gleich zehn Uhr abends; um diese Zeit werden keine Besuche gemacht. Um diese Zeit wird in diesem Hause geschlafen.«
»Er schläft nicht, Herr Direktor.«
»Dann ruht er sich zum mindesten aus; das ist auch gesund. Zweitens aber: wenn wirklich Besuchszeit wäre, so würde ich einen so schwerbelasteten Mann, wie es Nummer achtundneunzig ist, von dieser Vergünstigung bestimmt ausnehmen. Und drittens sollten Sie sich schämen, den Irrsinn dieses Menschen noch zu nähren durch solche Dinge. Daß ganz Kopenhagen – was sage ich: ganz Europa ohnehin über uns lacht, das dürften Sie wohl wissen.«
Astrid Laurgaard ging, den schmalen Bildstreifen in der Hand, durch das Grau der Nacht. Ein plötzlicher Sturm hatte sich erhoben, der ihr klatschend die Regentropfen ins Gesicht trieb; seltsam, vor einer Viertelstunde war es noch warm und still gewesen. Der Regen nahm mit jedem Schritt, den sie dahinging, an Stärke zu. Als sie an die Ecke der Kjöbmagergade kam, riß ihr der heulende Sturm den Hut vom Kopf. Die wenigen Menschen flüchteten vor der Gewalt des Orkans, der durch die lange Straße brauste. Vom Hafen dröhnten Warnungsschüsse.
Ein seltsames Gefühl kroch über sie. Irgendwo in ihrem Innern fühlte sie einen Zusammenhang zwischen diesem Wetter, zwischen Griggs und zwischen dem strafenden Saturn ...
Die Nacht brach herein und mit ihr erhob sich ein Sturm, wie ihn Nordland noch nicht erlebt hatte. Schäumend brauste der Große Belt über seine Ufer – eine Springflut stieg über Langeland und Laaland und vernichtete beide Inseln in einer Stunde.
Die Springflut wälzte sich nach Norden: Svendborg auf Fünen steht unter Wasser, die Wetterwarte von Odense schickte Hilferufe aus.
Und im Samsö-Belt zerschellten in dieser Nacht fünfzehn feste Schiffe.
Um drei Uhr in der Frühe zieht plötzlich ein Gewitter herauf. Ein völlig tropisches Gewitter, wie es Kopenhagen noch nicht erlebt hatte. Unter hundert Donnerschlägen erdröhnt die Stadt. Niemand schläft; ganz Kopenhagen ist erleuchtet.
Im Verlauf des Gewitters fangen die Kanonen der Zitadelle an zu donnern: auch auf Seeland steigt das Wasser. Noch ist keine Gefahr für die Insel und für Kopenhagen – aber man fühlt, daß sie heraufsteigt. Nein – man weiß es.
Langsam graut ein bleicher Tag.
Über der Stadt lastet gedrückte Stimmung. Die Meteorologen treten zu einer Konferenz zusammen. Niemand kann die Ereignisse der letzten Nacht begreifen.
Das Wasser steigt ...
Während des Tages laufen neue beunruhigende Nachrichten ein: die Erhebungen der Kriministen schreiten fort. Die Gefängnisverwaltungen der kontinentalen Hauptstädte melden, daß zur Stunde des nächtlichen Gewitters – um drei Uhr in der vergangenen Nacht – die Tore der Strafanstalten sich geöffnet hätten, die Insassen herausmarschiert seien.
Und seltsam: niemand hat sich ihnen widersetzt.
Wieder kommt die Nacht. Sie bringt die Katastrophe. Das Kattegatt braust über die Ufer. Ein furchtbarer Wirbelwind, nie erlebt in diesen Breiten, treibt die Schiffe gegen die Felsen, wo sie in tausend Trümmer zerschellen.
Der Wind fegt hinein ins Land. Er deckt die Dächer der Häuser ab, er schlägt sie in Scherben und zerstreut sie weit über die jütländische Küste.
Die Flut peitscht über die Inseln Anholt und Lasö. Sie setzt sie mit einer einzigen Welle unter Wasser. Sie stürmt weiter nach Westen, stürzt sich über die Aalborg-Bucht und schwemmt die Stadt Frederikshavn wie einen Lehmhaufen ins Wasser.
Dann springt der Wind um. Die Wasserberge wenden sich nach Süden. Der Oere-Sund, der Ise-Fjord und die Sejro-Bucht schwellen an, sprengen ihre Ufer. Und dann geschieht das Unbegreifliche. In der Nacht, Sonnabend nacht drei Uhr gehen zwei furchtbare Erdstöße durch Kopenhagen. Niemand kann sie erklären – nie seit Menschengedenken hat Skandinavien vulkanische Eruptionen erlebt. Alles stürzt aus den Häusern. Jemand weist zum Himmel.
Fern drüben hinter Kap Skagen steht rotes Nordlicht.
Die Schiffe sind in Seenot. Sie schicken ihre Radiotelegraphisten auf ihre Posten.
Die Radiotelegraphie versagt – irgendeine kosmische Störung erdrosselt die Wellen, daß sie im Aether versanden. Keine Verbindung zu Wasser und zu Lande ist herzustellen; kein Funkruf erreicht die bedrohten Küsten und die ertrinkenden Städte.
Grau dämmert der träge Morgen fern über der schwedischen Küste herauf. Das Licht gießt sich zögernd in die übernächtige Stadt. Der Trotz des Lebens erwacht. Die Straßen sind erfüllt von Unruhe. Aber die Sonne steigt, die Angst weicht dem Licht. Alle Furcht dieser schlaflosen Nacht wird zu gereizter Erbitterung. Die Übermüdung schlägt um in lärmenden Zorn.
Die Zeitungen resümieren über die Ereignisse dieser Nacht. Um Mittag schon schließen die Geschäfte; Gitter rasseln nieder. Die Stadt ist sonntäglich ausgestorben – alles strömt hinaus ans Meer, wie in einem unbewußten Trieb, aus der gefährlichen Enge der Stadt zu fliehen.
Ein Anschlag am Gebäude der Politiken verkündet in großen Lettern die neuesten kriministischen Ereignisse:
Rangoon hat sich befreit; die Sträflinge sind Herren des Landes.
Langsam sinkt Dämmerung nieder über Nordland. Die Wolken zerreißen; der Himmel wird tiefer und dunkler, wandelt sich endlich in ein unergründliches Blau. Im Südwesten, tief gegen den Horizont, flammt ein strahlender Stern auf. Sein Licht ist rötlich und durchdringend; er ist ausgezeichnet vor allen anderen Sternen des Himmels. Seine Strahlen flimmern mit gebieterischer Unruhe auf die Erde nieder. Jemand zeigt hinauf, und von Mund zu Mund geht es:
»Der Saturn!«
Ein Windstoß braust herüber von Norden. Er wälzt die Wellen des Kattegatt hinein in den Sund; heulend geht er über Fünen und Jütland. Ein zweiter Stoß folgt, heftiger als der erste; die Luft ist erfüllt mit drohenden und brüllenden Wirbeln. Der Menschenstrom fließt zurück in die Mauern der Stadt.
Langsam kommt die Nacht.
Die Fenster der Häuser sind erleuchtet, wie in einer geheimen Verabredung. Regen tropft nieder, wird stärker – nasse Schleier wogen in den Straßen. Der Himmel ist sternenlos geworden.
Ein Gewitter zieht über der Stadt herauf. Die ersten Blitze gehen nieder – in langen, zerfetzten Oktaven grollt der Donner über das Land. Aber die dunklen Wolken ballen sich; sie bedecken den Himmel bis zum Meer. Die bläulichen Blitze werden unmittelbar gefolgt von prasselnden Donnerschlägen.
Um zwölf Uhr in der Nacht schlägt der Blitz in die große Stromzentrale. Eine Feuergarbe schießt zum Himmel; die lebendige Kraft treibt die Schwungräder einige Umdrehungen weiter, dann steht das Werk still – das Zentrum von Kopenhagen liegt in tiefem Dunkel.
Der Regen schwillt an, aber das Gewitter, das südwärts zieht, nimmt ihn mit, und plötzlich liegt Totenstille über der dunklen Stadt.
An allen Fenstern starren blasse Gesichter.
Dann wird es lebendig in den Ecken und Winkeln der Gassen. Es quillt heraus, schart sich in Rudeln zusammen, strömt in dunklen Massen durch die Straßen, fließt ineinander zu einem unabsehbaren Zug.
Die Hunde!
Sie halten die Köpfe gesenkt und stieren geradeaus, während sie wie gehetzt durch die Stadt irren.
Von der Frelser Kirche schlägt es dreiviertel eins; der durchdringende Klang zittert herunter zu den verängstigten Tieren, daß sie erschrocken zurückweichen. Und plötzlich steigt ein irrsinniges Geheul zum Himmel, das die ganze Stadt erfüllt. Alle Todesangst der Kreatur schreit aus diesem Klang, dem sich niemand entziehen kann.
In die Antennen von Nordland fallen knatternd Zeichen. Radio arbeitet im ganzen Land; aber niemand vermag die Botschaft zu deuten.
Um drei Uhr in der Nacht erklingen alle Telephone. Ist es die Rettung, die sich meldet? Beklommen lauscht die Stadt. In der Membrane des Telephons klingt ein Ton auf, so, als ob man an eine gläserne Scheibe schlüge. Der Ton wird stärker – er schwillt an zu einem unerträglichen Heulen ... und Dreihunderttausend hören in dieser Sekunde den Ruf aus dem Aether.
Der Ton, der das Ohr zerreißt, der die Gehirne in den Wahnsinn treibt, bricht jäh ab. Mit einem Schlage sind die Leitungen taub und stromlos.
In dieser Nacht aber öffnen sich die Tore der Gefängnisse von Kopenhagen. Niemand weiß, wer die Riegel gelöst hat; niemand fragt. Heraus marschieren in schweigender Ordnung die Insassen. Und niemand wehrt ihnen ...
Aber auch diese Nacht geht vorüber; der bleiche Morgen erwacht. Und es ist neuer Trotz, den er mitbringt. Die Panik legt sich. Ein Schrei der Entrüstung, eine Gebärde des Auflehnens geht durch die Stadt. Man ruft die öffentliche Ordnung zu Hilfe.
Die Munizipalgarden marschieren ...
Astrid war bei Griggs, als der Tag graute.
»Die Menschen haben an dir gesündigt; sie werden es wieder gutmachen, glaube es mir.«
Er schüttelt den Kopf: »Darauf kommt es nicht an. Was mit mir geschieht, ist gleichgültig, ist ein Einzelfall, der nicht Recht aus Unrecht machen kann, nicht Unrecht aus Recht. Ich bin reif geworden in diesen Tagen, Astrid. Ich habe die Dinge der Welt von der Kehrseite gesehen. Was wir kannten, du und ich und wir alle, das war die gepflegte Fassade des Lebens – wir sind gewandelt in den Luxusstraßen. Das Weinen der Armut erstickte, ehe es zu uns dringen konnte. Nur was wir selbst erleben, was wir am eigenen Körper fühlen, das können wir recht begreifen. Darum sind immer nur wenige wissend gewesen, denn immer war die Scheidewand zwischen denen da unten und zwischen denen hier oben; und nur selten hat sich jemand verirrt von der einen Region in die andere. Und wem es geschah, der hat das Leben der Jenseitigen bald genug vergessen gehabt, und er hat sich mit der Überzeugung getröstet, daß es Unten und Oben geben müsse. Aber glaube mir: viele von denen, die von der Gesellschaft gehetzt werden, sind tausendmal besser als die, die sich zu ihren Richtern machen. Es ist nicht wahr, was man uns in der Schule erzählt: daß Gut gut und Böse böse sei. Alles ist äußerlich, die Formel herrscht, der Geist zerschellt an der Härte der Wirklichkeit. Viele waren unschuldig; viele auch waren es, obwohl sie äußerlich schuldig waren. Not, Unbildung, Dumpfheit, Versuchung, Unbeherrschtheit der Triebe, Verwirrtheit der Rechtsbegriffe sind in neunundneunzig Fällen von hundert ...«
Durch die Straße ging Trommelwirbel. Astrid fuhr zusammen:
Der Marsch der Garden dröhnte auf dem Pflaster; die Straße war schwarz von Menschen.
Griggs hatte seine alte Ruhe wiedergefunden, als er die Treppe hinunterstieg, die zum Hinterausgang führte. Der Weg, der zwischen engen Häuserreihen lief, war frei. Er ging vorauf; Astrid folgte.
Ein paar Burschen mit Schiffermützen lehnten, die Pfeife im Munde, gegen die eisernen Kellergeländer der Hinterhäuser. Plötzlich machte einer von ihnen eine Bewegung; er trat vor, blickte Griggs ins Gesicht, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff.
Im Nu wurde es lebendig jenseits der Mauern.
»Fort!« sagte Griggs hastig. »Oder, noch besser: bleib hier, ich hole dich.«
»Laß mich nicht allein.«
Er legte die Hand um ihren Arm; sie rannten die Straße hinunter. Hinter ihnen klang Johlen auf, das Trappeln von Füßen erhob sich, wurde stärker. Ein Schuß paffte auf – sie liefen um die Ecke.
Dort war der Hafen.
Sie keuchten über den kleinen Platz, als plötzlich aus einem der Häuser ein Schuß krachte. Griggs beschleunigte den Lauf; aber er fühlte mit Entsetzen, wie Astrids Arm in seiner Hand schlaff herabfiel.
Betroffen blieb er stehen.
»Es ist aus!« sagte sie.
Ein roter Fleck zeichnete sich auf dem Rücken ihrer Bluse ab, dort, wo die Lungen endeten; vor seinen Augen wurde er größer und blutiger.
Drüben gellte das Frohlocken der Sieger.
Astrid hob verwirrt den Kopf. Sie sah ihn mit Augen an, in deren reine Klarheit ein müdes, dunkles Lächeln trat.
»Flieh ...!« flüsterte sie, und jedes Wort kam stockend aus ihrem Munde. »Flieh ... erfülle ... deine ... Pflicht ...«
Damit sank sie leblos zurück.
Er sah sich unschlüssig, irrer Gedanken voll, nach den Feinden um, die dort drüben heranbrausten. Dann rannte er hinüber nach dem kleinen Hafen, wo die Barkassen kreuzten.