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Der Brief sah amtlich aus. Doktor Griggs nahm ihn mit jenem leisen Stirnrunzeln in Empfang, mit dem man über eine unabwendbare Unannehmlichkeit quittiert. Er schob ihn in die Tasche und ging hinüber zu den Kranken. Aber die ganze Zeit während seiner Hantierungen mußte er an den Brief denken. Es war sicher, er bedeutete ein Stück Schicksal.
Gleichwohl kam er nicht dazu, ihn zu öffnen. Die Neuaufnahmen absorbierten ihn völlig; dann erschien Oevelund – mit Yrsa Aspinall.
»Es ist nicht meine Schuld, daß wir Sie überfallen, Griggs. Frau Aspinall ...«
»Aber freilich haben Sie die Schuld!« unterbrach ihn Yrsa. »Herr Oevelund hat mir von Ihrem Telephongespräch mit dem Saturn erzählt. Ich muß Ihnen sagen, Herr Doktor Griggs – mir setzte das Herz aus. Ganz im Ernst gesprochen: ich finde Sie einfach fabelhaft! Wenn man in zwei, drei Jahren von dem großen ... von dem großen ... Wie heißen Sie mit Vornamen?«
»Norman.«
»... von dem großen Norman Griggs sprechen wird, und man ist dabei und kann sagen: Ich habe ihn gekannt ...«
»Wieso habe?« erkundigte sich Oevelund.
»Verzeihung: ich kenne ihn – ich bin sozusagen dabeigewesen, als er den Saturn entdeckt hat. Und überhaupt: wissen Sie, was ich übrigens gern erfahren möchte? Wie Ihnen zumute gewesen ist, als Sie erkannten, daß Sie mit dem Saturn sprachen?«
Griggs machte eine stumme Handbewegung.
»Ah, ich verstehe. Sie wußten gar nicht, wie Ihnen zumute war, oder« – sie blickte ihm interessiert ins Gesicht –, »oder wollen Sie etwa nicht davon sprechen? Wollen Sie die Andacht Ihrer Zwiesprache mit der Schöpfung nicht entweihen? Ich glaube, es ist so, Herr Doktor Griggs, gestehen Sie es offen.«
»Vielleicht«, sagte Griggs zögernd. »In allem ist ein bißchen Wahrheit.«
»Nun möchte ich aber wirklich einmal den Fernseher kennenlernen, der Ihnen diese unerhörte Botschaft gebracht hat.«
Schon öffnete Griggs die Tür zum Arbeitszimmer. »Leider ist nicht viel zu sehen. Der Apparat schweigt hartnäckig, wenn Sie da sind. Der Saturnus scheint nicht nur gegen seine Kinder, er scheint auch gegen Damen unliebenswürdig zu sein.«
»Wenn die Männer geistreich werden, steckt immer eine Bosheit dahinter«, lachte Yrsa.
»Waren Sie schon bei den Zeitungen?« fragte Oevelund.
»Um es Ihnen offen zu sagen: ich warte auf Ihre Vermittlung.«
»Richtig. Das hatte ich wahrhaftig vergessen. Wollen Sie mich entschuldigen, gnädige Frau? Ich möchte die Politiken anklingeln.«
Die Tür schloß sich hinter Oevelund. Yrsa warf einen Blick auf den Fernseher und wandte den Kopf zu Griggs herum.
»Ist es dir wirklich ernst mit dieser Botschaft vom Saturn?«
Er sah sie erstaunt an: »Zweifelst du daran?«
»Hast du noch immer nicht genug phantasiert? Du bist im Begriff, ein angesehener Arzt zu werden; ich hörte, daß deine Patienten an dir hängen. Deine Praxis scheint sich zu vergrößern, du bist drauf und dran, in gesicherte Verhältnisse zu gelangen. Ich weiß auch von dieser Geschichte mit Lumbye. Glaub mir, sie hat mich schlaflose Stunden gekostet. Man hat dich freigesprochen; das ist ein Gnadengeschenk, für das du Gott danken solltest. Und nun, da alles sich zum Guten gewendet hat – nun durchkreuzt du deine eigene Karriere mit solchen Spielereien? Bildest du dir ein, irgendein vernünftiger Mensch wird dir Gefolgschaft leisten?«
»Das werden wir sehen. Ich fahre jetzt zu den Zeitungen, um ihnen meine Gedankengänge klarzulegen. Das Fundament meiner Kombinationen, das ganze Für und Wider. Denn du darfst nicht glauben, daß ich für das Wider blind bin. Du solltest mich besser kennen, Yrsa, um nicht zu wissen, daß ich es mir reiflich genug überlege, ehe ich mit einer Behauptung vor die Öffentlichkeit trete. Frage Oevelund – er glaubt an mich, er ist in allen Punkten meiner Meinung.«
»Weil er im Bann deiner Persönlichkeit steht. Wie alle, die dich oberflächlich kennen. Wie ich ... das ist Gott sei Dank vorbei.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß Oevelund aus lauter Liebe zu mir Schwarz für Weiß hält?«
Sie zuckte die Achseln: »Du behauptest also allen Ernstes ...«
»Ja, Yrsa. Und auch du wirst an mich glauben – mir fehlt nur noch die Anerkennung durch die Öffentlichkeit. Du betest den Erfolg an, wie sie alle es tun.« Und lächelnd setzte er hinzu: »Ich nehme es dir schließlich nicht übel. – Darf ich dir etwas sagen?«
»Nun?«
»Ich wollte zu dir kommen; heute abend wollte ich kommen, um dich zu fragen, ob du zu mir zurückkehren willst.«
Man hörte die Schritte des Näherkommenden.
»Wann werden die Zeitungen über deine Entdeckung schreiben?«
»Sofort. Heute. Morgen.«
»Ich wünsche dir aufrichtig Erfolg.«
Oevelund trat herein, frisch und rosig, voll Optimismus.
»Sie sollen sofort kommen, Griggs. Das paßt famos. Unten steht mein Auto.«
*
Ein paar Redaktionen hatten die Griggssche Entdeckung kurzerhand abgelehnt: höflich und minder höflich. Zwei Redakteure hatten Griggs zum Sitzen aufgefordert, und es hatte sich eine Art Kreuzverhör entsponnen, das auf den toten Punkt führte; die Herren gaben selbst zu, daß ihnen die physikalische Vorbildung fehle, und sie handelten, wie es die Schlauen unter den Dummen tun: sie negierten. Das ersparte das Risiko einer Blamage und es gab außerdem das Relief aufgeklärter Bildung.
Einige hatten die ganze Geschichte offensichtlich als Ulk aufgefaßt. Da war es schade um jedes Wort.
Zwei Redaktionen machten eine Ausnahme: die Berlingske Tidende und die Aftenposten. Man hatte sich lange und eingehend mit Griggs über seine Entdeckung unterhalten. Der Redakteur der Berlingske Tidende hatte, überwältigt von Griggs' Feuer, seine Sekretärin gerufen – und Griggs selbst hatte den Artikel diktiert, der sofort in Druck gegeben wurde und heute abend schon erscheinen sollte.
Das war ein Erfolg, wie ihn sich Griggs nicht schöner wünschen konnte. Nun würde aller Zweifel verstummen. Nun mußte auch Yrsa ...
Als er behaglich durch das dunkle Kopenhagen schlenderte, fiel ihm der Brief ein. Jetzt, da sein Herz leicht, seine Schritte elastisch und zuversichtlich waren, jetzt konnte ihm dieses amtliche Schreiben nichts mehr bedeuten.
Er blieb stehen und riß das Kuvert auf.
Es war eine Mitteilung des Nachlaßgerichts. Er las sie, und die Buchstaben verwirrten sich vor seinen Augen – er mußte seine ganze Nervenkraft aufbieten, um ihren Sinn zu erfassen.
Severin Lumbye, sein verstorbener Patient, hatte ihn zum Universalerben eingesetzt. Die Erbschaft betrug zwei Millionen Kronen.
*
Die ersten Abendzeitungen wurden ausgerufen; weder die Aftenposten noch die Berlingske Tidende waren darunter. Er wußte, was ihn erwartete – aber aus dem Bewußtsein seiner sicheren Position heraus sah er den Dingen mit einem gewissen Humor ins Gesicht. Er kaufte die Politiken, den Danebrog und die Nationaltidende.
Er las im Gehen, ruckweise; nur einzelne Satzfragmente, aus dem Gesamtkomplex herausgerissen, formten sich zu mutwilligen und frechen Angriffen. Er mußte lachen, während er dahinwanderte; das Bewußtsein des endgültigen Sieges ließ ihn den Hohn dieser Artikelschreiber als eine Belanglosigkeit empfinden, über die man getrost zur Tagesordnung übergehen konnte.
Ein Auto kam ihm entgegen; es stoppte. Er warf einen Blick hinein: im Fond saß Yrsa Aspinall; eben öffnete ihr Begleiter den Schlag, um auszusteigen.
Es war Oevelund.
Merkwürdig, er machte ein finsteres Gesicht. Auch er war der Suggestion des gedruckten Wortes unterlegen – er, der die Erfindung kannte, der ihren Wert so gut zu beurteilen wußte wie Griggs selber.
Yrsa sprach kein Wort.
Oevelund drückte dem Freunde die Hand; man glaubte das Mitleid eines Kondolierenden zu spüren.
»Haben Sie die Zeitungen gelesen?« fragte Oevelund.
Griggs sah ihn an, und er sah hinüber zu Yrsa. Sie blickte mit einer Unbefangenheit an ihm vorüber, die zu übertrieben war, um echt zu sein.
Griggs hob das Bündel Zeitungen, das er in der Hand trug, statt aller Antwort in die Höhe. »Es fehlen noch zwei, lieber Oevelund: weder die Berlingske noch die Aftenposten sind bisher erschienen. Sobald Sie diese beiden gelesen haben, wollen wir uns wieder sprechen.«
Oevelund sah ihn fragend an.
»Ich kann Ihnen nämlich sagen« – Griggs mußte lächeln über das verstörte Wesen des Freundes –, »daß diese beiden Zeitungen einen völlig anderen Standpunkt einnehmen. Beide haben sich meinen Ausführungen nicht nur angeschlossen – die Berlingske Tidende wird, so viel kann ich Ihnen jetzt schon verraten, einen Originalartikel von mir bringen. – Und auch die Aftenposten hat mir einen Aufsatz zugesagt, der meine Entdeckung als die größte, die jemals auf der Erde gelungen ist, feiern wird. – Ich hatte übrigens noch nicht das Vergnügen, Frau Aspinall guten Tag zu sagen.«
Yrsa lächelte ihn an und reichte ihm die Hand. »Ich habe nicht viel von Ihrem Gespräch verstanden, Herr Doktor Griggs. Ich hörte nur, daß Sie zwei Zeitungen erwähnten. Sind es diese?« Damit nahm sie aus einem Stoß, der ihr gegenüber auf dem Wagenpolster lag, die Berlingske Tidende und die Aftenposten heraus.
Griggs sah betroffen auf Oevelund; zögernd griff er nach den Zeitungen.
Oevelund nickte. »Sie sind erschienen. Ich möchte Sie bitten, sie jetzt nicht zu lesen.«
»Wir versäumen die Ouvertüre«, sagte Yrsa.
»Adieu, lieber Freund. Wir sprechen uns wohl telephonisch.«
Das Auto knatterte davon, in den silbrigen Abenddunst hinein. Die beiden wandten sich nicht zurück; in dem Maße, in dem sich die Konturen verkleinerten, schienen die Gestalten der zwei zusammenzurücken. Griggs sah ihnen nach, bis das Gefährt um die Ecke verschwunden war. Dann öffnete er gedankenvoll die Berlingske Tidende.
Sie brachte seinen Aufsatz – aber sie benutzte ihn lediglich als Auftakt für ihren eigenen Artikel, der sich unmittelbar daran schloß und der Herrn Doktor Griggs als einen Cagliostro des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnete.
Er schlug die Aftenposten auf. Sie trug die Überschrift: »Interplanetarer Humbug«, und der Artikel klang in die Forderung aus, diesen Griggs an einem Ort zu internieren, an dem er keinen Schaden anrichten könne. »Wie wir erfahren, ist dieser Mann, man höre und staune, wohlbestallter Arzt. Kann man es im Ernst verantworten, einem solchen Narren hilflose Patienten auszuliefern?«
Griggs ließ das Blatt sinken. Die Straße war erfüllt vom Gewühl des frühen Abends. Verliebte schoben sich an ihm vorüber, eng aneinandergeschmiegt, selbst ihre Blicke waren ineinander versenkt. Jauchzende Kinder trippelten, sorgsam geleitet von der Hand der Mutter, über den Fahrdamm, müde Pferde trabten vor geleerten Geschäftswagen stallwitternd heim.
Er hatte das Gefühl, daß alle diese Dinge ihn nicht betrafen, daß er keine Gemeinschaft mit den Menschen hatte, nicht mit ihren Freuden, nicht mit ihrem Leid. Er stand wie ein Fremder unter ihnen; seine Nerven, seine Organe reagierten auf Impulse, die niemand außer ihm vernahm; er war hörig fernen und fremden Gewalten, Töne klangen ihm, wo allen andern Schweigen war. Er war völlig allein unter den Menschen, und es war recht und natürlich, daß sie ihn mieden. Er hielt es für Größe, für ein Ausgezeichnetsein unter den Tausenden. Jene nannten es Irrsinn. War es das eine, war es das andere? Vielleicht war es beides. Vielleicht waren diese beiden Dinge im Grunde dasselbe.
Die Zeitung knüpfte an den Artikel eine Randbemerkung. Griggs las:
»Wie wir in letzter Minute erfahren, ist auch das rein berufliche Verhalten dieses Doktors Norman Griggs ein recht fragwürdiges. Aus der Stille seiner Krankenzimmer sickern Dinge an die Öffentlichkeit, die uns so unglaublich erscheinen, daß wir uns mit ihrer Andeutung begnügen müssen. Danach hätte Doktor Griggs die Macht, die dem Arzt über Leben und Tod gegeben ist, in einer Weise mißbraucht, die nicht nur den Psychiater, sondern vielleicht noch mehr den Strafrichter interessieren dürfte.«
Er war kaum zu Hause angelangt, als es dreimal klingelte. Das war Oevelunds Zeichen. Erstaunt öffnete er.
»Ich bin aus der Vorstellung weggegangen.« Oevelund warf den Überzieher über einen Stuhl und ließ sich erregt nieder. »Es läßt mir keine Ruhe. Ich habe mir vorhin mit Absicht Zurückhaltung auferlegt; man soll vor Frauen nicht über die Angelegenheiten der Männer sprechen. Besonders nicht, wenn sie so neugierig sind wie Frau Yrsa – womit ich ihrem Scharm nicht zu nahe treten will. Haben Sie Aftenposten und Berlingske Tidende gelesen?«
»Ja.«
Oevelund stand plötzlich auf und ging aufgeregt hin und her. »Haben Sie Vertrauen zu mir?«
»Das wissen Sie selbst am besten.«
»Es ist nicht Neugierde, weiß Gott, das ist es nicht. Es ist an sich mir sogar, ich möchte sagen, gleichgültig. Aber Sie wissen, ich zerbreche mir den Kopf über die Möglichkeit, Ihnen zu helfen. Das ist auch nicht das richtige Wort. Es handelt sich nicht darum, Ihnen zu helfen, sondern um der Wahrheit zu helfen, und daß es die Wahrheit ist, die Sie in Ihren begnadeten Händen halten, davon bin ich überzeugt. Also rund heraus: Griggs, was ist es mit diesen Andeutungen der Aftenposten?«
»Es handelt sich um Lumbye.«
Oevelund nickte. »Dachte ich mir's doch. Man hat davon gemunkelt. Ich glaube, Sie haben da irgendwo eine Feindin, eine Krankenschwester oder so was. Wahrscheinlich eine kleine verflossene Liebschaft? Und diese rächt sich nun für die Abhalfterung.«
»So ungefähr, Oevelund. Bloß mit der kleinen Einschränkung, daß niemals eine Liebschaft bestanden hat.«
»Na ja. Das sind schließlich Privatsachen. Die Ärztekammer hat Sie freigesprochen. Glänzend rehabilitiert hat sie Sie. Kommen Sie – kommen Sie nur, wir fahren zur Aftenposten und zwingen die Herren, in aller Form zu revozieren.«
Griggs machte eine unmutige Bewegung.
»Was haben Sie?«
»Es ist eine Wendung eingetreten. Heute. Eben.«
»Nun?«
»Ich erhalte die Mitteilung, daß Lumbye mich zum Universalerben eingesetzt hat. Die Erbschaft beträgt zwei Millionen.«
Oevelund trat einen Schritt zurück. »Zum Universalerben ... zwei Millionen ... war das der Ärztekammer bekannt?«
»Nein.«
»Griggs – Lumbyes Tod hat Sie zum Millionär gemacht?«
»Ja, Oevelund.«
Oevelund stand regungslos, den Kopf gesenkt, den Blick unbeweglich auf das Muster des Teppichs gerichtet. Obwohl keine seiner Mienen sich verzog, fühlte Griggs, wie in jenem der Argwohn aufstieg.
»Den Besuch bei der Aftenposten werden wir also aufgeben müssen.« Oevelund machte eine Bewegung, als schöbe er ein Unsichtbares von sich fort. »Ich bin in einer ganz bestimmten Absicht gekommen«, sagte er, und seine Stimme klang tief und schwer. »Ich habe mir die Dinge zurechtgelegt während der Ouvertüre. Wenn ich Musik höre, kreisen mir die Gedanken am leichtesten durch den Kopf. Also hören Sie, Griggs: noch ist nichts verloren. Eine Schlappe – nun ja. Je größer das ist, was einer der Welt zu sagen hat, desto größer werden die Hindernisse sein, die sich ihm entgegenstellen. Das liegt auf der Hand. Sie wollen die Welt aus den Angeln heben – da ist es kein Wunder, daß das Gewicht der Weltkugel Sie umwirft. Also hören Sie, Griggs: lassen Sie die Redakteure und die Zeitungen. Sprechen Sie direkt zum Publikum. Sie haben doch nun einmal diese unerhört suggestive Art. Wuchern Sie mit Ihrem Pfund. Es ist Ihnen nicht verliehen, damit Sie es unbenutzt lassen; es gehört zu Ihnen, es ist ein begleitender Bestandteil Ihrer Mission, Griggs, verstehen Sie mich? Wehren Sie sich, begeistern Sie die Menge. Wenn Sie es wollen und wenn Sie Ihre Nervenkräfte konzentrieren auf den einen großen Schlag, so können Sie in einer einzigen wohlausgenutzten Stunde die Menschheit zu Ihrer Lehre bekehren. Zu sich bekehren. Ich habe Verbindungen. Ich werde dafür sorgen, daß ein überfülltes Haus Sie erwartet. Die Menge ist wundergläubig. Wundersüchtig! Und Sie sind der Mann, Griggs, ihr das Wunder zu künden!«
Griggs streckte dem Freunde die Hand hin. »Ich danke Ihnen, Oevelund. Ja: ich werde reden.«
»Gut, Griggs. Ich werde alles arrangieren. Und nun leben Sie wohl.«
»Wollen Sie nicht bleiben?«
Eine leichte Verlegenheit ging über Oevelunds Gesicht: »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Frau Aspinall wartet unten im Wagen. Wir fahren zum Kammerherrn Gandrup. Die Baronin Laurgaard feiert ihren Geburtstag. Ich vermute, man wird uns zwischen Rotwein und Sekt zur bevorstehenden Hochzeit einladen. Adieu, Griggs!«
Griggs ging ans Fenster. Ein trüber Abend schwelte über der Straße. Wie ein dunkles Tier stand das Auto unter seinen Fenstern, wie ein Tier, das auf ihn lauerte, das stärker und schneller war als er.
Eben trat Oevelund aus dem Hause. Er warf keinen Blick zu ihm hinauf, wie es sonst wohl seine Art war; er öffnete den Schlag und stieg ein.
Ohne selbst zu wissen, warum, zog sich Griggs vom Fenster zurück. Er schloß es behutsam und geräuschlos, und nur undeutlich hörte er den taktmäßigen Rhythmus des Motors, der schwächer und schwächer wurde.
Der Tag verebbte in den stillen Straßen; schwer und dumpf legte sich beginnende Nacht über die Stadt. Die feuchten Schleier nahmen den Klang des fernen Lebens auf in ihr undurchdringliches Netz. Sie wuchsen zu riesenhafter Größe, drohend und selbstverständlich legten sie Beschlag auf die Dinge, auf die Konturen der Häuser und auf die Schatten huschender Menschen; alles erlag ihrer Macht.
Unten ging ein Zeitungshändler; nur wie eine Silhouette bewegte er sich auf dem lichtlosen Trottoir. Man hörte dünn und schrill seinen Ausruf: »Politiken – Aftenposten – Berlingske Tidende!« Ein paar Menschen, schattenhaft wie er, blieben stehen, kauften. Ihm schien, als blickten sie zu ihm hinauf; deutlich glaubte er das Weiß ihrer Gesichter zu erkennen. Oder begannen seine Nerven eigene Wege zu gehen?
Es konnte keine Täuschung sein. Jemand sah zu ihm herauf. Er erkannte auch, daß es eine Frau war. Sie löste sich aus dem Schatten der Häuser; während sie quer über die Straße ging, sah er deutlich ihre Silhouette und sah, daß sie zu seinen Fenstern heraufblickte.
Er wußte, daß er diese Frau kannte.
Er glaubte das Schrillen der Portierglocke zu hören. Aber es konnte auch eine Täuschung sein.
Nein. Schritte kamen die Treppe herauf; seine gespannten Nerven unterschieden deutlich das tap–tap jeder Stufe.
Dann ging die Entreeglocke.
Er wollte zur Tür gehen, um zu öffnen – aber, seltsam genug, irgend etwas in ihm war, das ihn festhielt. Er wußte, daß sich in diesem Moment, da er wartete, lauschend auf der Schwelle stand, mit einer unbegreiflichen Angst in allen Gliedern, daß sich in diesem Moment sein Schicksal vollzog.
Er hörte, wie man draußen leise sprach. Dann klopfte es an seine Tür. Es war nicht die Schwester, die klopfte, es war das schüchterne Pochen einer Fremden.
Er öffnete. Ins Zimmer trat die Baronin Laurgaard.
Er schloß die Tür hinter ihr, betroffen von ihrem Kommen, unfähig, ein Wort der Begrüßung hervorzubringen. Erst als sie ihm mit einem scheuen Lächeln die Hand hinstreckte, wich der lähmende Bann von ihm.
»Sie ...?«
Die Baronin ging auf den Sessel zu, der neben seinem Schreibtisch stand, und ließ sich schweigend nieder.
»Ich hörte, daß Sie ... daß Sie ... heute abend ...«
Sie nickte. »Mein Geburtstag. Ja. Und überdies: die Festsetzung der ... der ...«
»Ja, Baronin.«
»Ich bin fortgegangen«, sagte sie, und langsam trat der Ausdruck der Verlegenheit in ihre Züge; »ich bin fortgegangen – nein, ich bin davongelaufen ...« Sie hielt inne und senkte den Kopf.
»Man sprach von Ihnen, Herr Doktor Griggs. Alle Zeitungen waren zur Stelle. Der Kammerherr las sie einzeln vor. Und bei jedem Satz wurde gelacht. Ich hörte eine Zeitlang zu, entschlossen, mir nichts merken zu lassen, mich zu beherrschen. Denn mindert es Ihre Tat, wenn ein Dutzend nicht an sie glaubt?«
Er nahm ihre Hand.
»Der Kammerherr schien meine Gedanken zu erraten. Ich merkte es, denn der Klang seiner Stimme veränderte sich. Es war kein Zweifel für mich, was er beabsichtigte. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß man immer Beifall findet, wenn man jemand angreift; nun noch gar einen Abwesenden! Und einen Ausländer obendrein. Je mehr ich merkte, daß der Kammerherr Bundesgenossen erhielt – niemand sagte ein Wort, aber ich fühlte deutlich ihre Gedanken –, desto klarer wurde mir dies eine: daß ich auf der anderen Seite stand.«
»Was sagte Oevelund?«
»Oevelund kam mitten in die Verlesung der Zeitungen hinein. Ich merkte, daß ihm das alles unangenehm war. Einmal klopfte er ans Glas, um irgend etwas zu sprechen; aber Frau Aspinall – Ihre Landsmännin Yrsa Aspinall, Sie kennen sie ja – schnitt ihm das Wort ab. ›Lassen Sie Herrn Gandrup erst zu Ende lesen‹, sagte sie.«
»Und Sie, Baronin?«
»Ich hörte das alles mit an; langsam fühlte ich, wie mir das Herz zu hämmern begann. Die lächelnden Gesichter rechts und links von mir verzerrten sich; der Hohn der Zeitungsworte troff förmlich auf mich herab; ich glaubte ihn wie eine klebrige, zähe Masse zu fühlen, die höher und höher stieg. Das ganze Zimmer schien sie zu erfüllen, ich fühlte, wie mir das Atmen unmöglich wurde. Frau Aspinall muß meinen Gesichtsausdruck bemerkt haben; undeutlich schien es mir, als ob sie auf mich wiese: so, als ob sie Oevelund auf mich aufmerksam mache. Alles kreiste um mich. Ich sah, wie Oevelund plötzlich verschwunden war; nun war ich allein gegen eine Front von Feinden. Dann legte sich mir eine Hand auf die Schulter: es war Oevelund. Er war unbemerkt um die andern herum zu mir gekommen.
Die Berührung, mehr vielleicht das Bewußtsein seiner Anwesenheit brachte mich einen Augenblick in die Wirklichkeit zurück. Die schmähliche Szene schien zu Ende zu gehen, als Gandrup plötzlich aufstand und sein Glas erhob mit den Worten ...« Sie brach plötzlich ab.
»Mit den Worten ...«
»Was soll ich Ihnen diese Bosheiten wiederholen. Dieser Toast ließ mir das Blut zu Kopfe steigen. Ich wollte aufspringen, ihm eine verächtliche Bemerkung ins Gesicht schleudern; aber es wurde nur ein zittriges Auftasten. Während die Gläser aneinanderklangen, habe ich mich davongemacht. Zu Ihnen, Norman Griggs. Denn ich glaube, daß Sie mich brauchen.«
Er preßte ihre Hand in einem Gemisch irrer und widerstreitender Gefühle. »Ich danke Ihnen, Astrid Laurgaard. Sie sind zu mir gekommen, wie Gott zu einem Verzweifelnden kommt.«