Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XII

Die Grenzschenke Jadlowkers war immer offen, Tag und Nacht. Es war die Schenke der russischen Deserteure, jener Soldaten des Zaren also, die von den zahlreichen Agenten der amerikanischen Schiffahrtslinien durch Überredung, List und Drohung gezwungen wurden, die Armee zu verlassen und sich nach Kanada einzuschiffen. Freilich gab es viele, die freiwillig desertierten. Sie zahlten den Agenten sogar vom letzten Geld, das sie übrig hatten; sie oder ihre Verwandten. Die Grenzschenke Jadlowkers galt als ein sogenanntes verrufenes Lokal. Aber es war, wie in jener Gegend alle verrufenen Lokale, der ganz besonderen Gunst der österreichischen Grenzpolizei empfohlen, und gewissermaßen stand sie also gleichermaßen ebenso unter dem Schutz wie unter dem Verdacht der Behörden.

Als wir ankamen – wir waren stumm und bedrückt eine halbe Stunde gewandert –, war das große, rostbraune, doppelflügelige Tor schon geschlossen und sogar die Laterne, die davor hing, ausgelöscht. Wir mußten klopfen, und der Knecht Onufrij kam, uns zu öffnen. Ich kannte die Schenke Jadlowkers, ich war schon ein paarmal dort gewesen, ich kannte den üblichen Trubel, der dort zu herrschen pflegte, jene besondere Art von Lärm, den die plötzlich heimatlos Gewordenen verursachen, die Verzweifelten, alle jene, die eigentlich keine Gegenwart haben, sondern die gerade noch auf dem Weg aus der Vergangenheit in die Zukunft begriffen sind, aus einer vertrauten Vergangenheit in eine höchst ungewisse Zukunft, Schiffspassagieren in jenem Augenblick ähnlich, in dem sie vom festen Land aus in ein fremdes Schiff über einen schwankenden Steg schreiten.

Heute aber war es still. Ja, es war unheimlich still. Sogar der kleine Kapturak, einer der eifrigsten und lautesten Agenten, der all das viele, das er zu verbergen beruflich und von Natur gezwungen war, unter einer unheimlichen, geschäftigen Geschwätzigkeit zu verbergen pflegte, saßger, als er schon war, und also doppelt unscheinbar, ein schweigsamer Schatten seiner selbst. Vorgestern erst hatte er eine sogenannte »Schicht« oder, wie man sich in seinem Beruf anders auszudrücken pflegte, eine »Ladung« von Deserteuren über die Grenze gebracht, und jetzt klebte das Manifest des Kaisers an den Wänden, der Krieg war da, die mächtige Schiffsagentur selbst war ohnmächtig, der mächtige Donner der Weltgeschichte ließ den kleinen, geschwätzigen Kapturak verstummen, und ihr gewaltiger Blitz reduzierte ihn zu einem Schatten. Stumpf und stier saßen die Deserteure, die Opfer Kapturaks, vor ihren Gläsern, die nur halb geleert waren. Früher, sooft ich in die Schenke Jadlowkers gekommen war, hatte ich mit dem ganz besonderen Vergnügen eines jungen, leichtfertigen Menschen, der in den leichtsinnigen Ausdrucksformen der anderen, auch der Fremdesten, die legitime Bestätigung seiner eigenen Gewissenlosigkeit sieht, die Sorglosigkeit der soeben heimatlos Gewordenen beobachtet, die ein Glas nach dem anderen leerten und ein Glas nach dem anderen frisch bestellten. Der Wirt Jadlowker selbst saß hinter dem Schanktisch wie ein Unheilverkünder, zwar nicht ein Bote des Unheils, aber sein Träger; und er sah so aus, als hätte er gar nicht die geringste Lust gehabt, noch neue Gläser einzuschenken, selbst wenn seine Gäste es verlangt hätten. Was hatte dies alles noch für einen Sinn? Morgen, übermorgen konnten die Russen dasein. Der arme Jadlowker, der noch eine Woche früher so majestätisch dagesessen war, mit seinem silbernen Spitzbärtchen, eine Art Bürgermeister unter den Schankwirten, von der verschwiegenen Protektion der Behörden ebenso beschattet und gesichert wie von ihrem ehrenden Mißtrauen, sah heute aus wie ein Mensch, der seine ganze Vergangenheit liquidieren muß; ein Opfer der Weltgeschichte eben. Und die schwere, blonde Kassiererin neben ihm hinter der Theke war ebenfalls gleichsam von der Weltgeschichte gekündigt worden, zu einem kurzen Termin. Alles Private war auf einmal in den Bereich des Öffentlichen getreten. Es repräsentierte das Öffentliche, es vertrat und symbolisierte es. Deshalb war unser Abschied so verfehlt und so kurz. Wir tranken lediglich drei Glas Met, und wir aßen schweigsam gesalzene Erbsen dazu. Plötzlich sagte mein Vetter Joseph Branco: »Ich fahre gar nicht erst nach Sarajevo. Ich melde mich in Zloczow zusammen mit Manes!« – »Bravo!« rief ich. Und ich wußte dabei, daß auch ich gern getan hätte wie mein Vetter. Aber ich dachte an Elisabeth.


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