Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XVII

Die Pfarrer arbeiteten in jenen Tagen ebenso schnell wie die Bäcker, Waffenschmiede, die Eisenbahndirektionen, die Kappenmacher und die Uniformschneider. Wir sollten in der Döblinger Kirche heiraten, der Mann lebte noch, der meine Braut dort getauft hatte, und mein Schwiegervater war sentimental, wie die meisten Heereslieferanten. Mein Geschenk war eigentlich das Geschenk meiner Mutter. Ich hatte gar nicht daran gedacht, daß Brautgeschenke unumgänglich notwendig seien. Als ich zum Essen kam, die Knödel hatte ich auch bereits vergessen, saß meine Mutter schon am Tisch. Wie gewohnt, küßte ich ihre Hand, küßte sie meine Stirn. Dem Diener trug ich auf, mir dunkelgrüne Aufschläge und Leutnantssterne bei Urban in den Tuchlauben zu verschaffen. »Du wirst versetzt?« fragte meine Mutter. »Ja, Mama, zu den Fünfunddreißigern!« – »Wo stehen die?« – »In Ostgalizien.« – »Fährst du morgen?« – »Übermorgen!« – »Morgen ist die Trauung?« – »Ja, Mama!«

Es war Sitte in unserem Hause, während des Essens die Speisen zu loben, auch wenn sie mißraten waren, und von nichts anderem zu sprechen. Auch durfte das Lob keineswegs etwa banal sein, eher schon kühn und weit hergeholt. So sagte ich zum Beispiel, das Fleisch erinnere mich an ein ganz bestimmtes, das ich vor sechs oder acht Jahren, ebenfalls an einem Dienstag, gegessen hätte, und das Dillenkraut sei geradezu, heute wie damals, mit dem Beinfleisch vermählt. Völlige Sprachlosigkeit spielte ich vor den Zwetschkenknödeln: »Bitte genau die gleichen, sobald ich zurück bin«, sagte ich zu Jacques. »Wie befohlen, junger Herr!« sagte der Alte. Meine Mutter erhob sich, noch vor dem Kaffee, eine ungewöhnliche Handlung. Sie brachte aus ihrem Kabinett zwei dunkelrote, saffianlederne Etuis, die ich oft gesehen, bewundert und nach deren Gehalt zu fragen ich mich niemals getraut hatte. Neugierig war ich zwar immer gewesen, aber zugleich auch selig darüber, zwei unzugängliche Geheimnisse in meiner Nähe zu wissen. Jetzt endlich sollten sie mir enthüllt werden. Das eine, kleinere Etui enthielt das Bild meines Vaters in Email, von einem schmalen Goldstreifen umrahmt. Sein großer Schnurrbart, seine schwarzen, glühenden, fast fanatischen Augen, die schwere, vielfach und sorgsam gefältelte Krawatte um den überaus hohen Stehkragen machten ihn mir fremd. Vor meiner Geburt mochte er so ausgesehen haben. So war er meiner Mutter lebendig, lieb und vertraut. Ich bin blond, blauäugig, meine Augen waren immer eher skeptische, traurige, wissende Augen, niemals gläubige und fanatische. Aber meine Mutter sagte: »Du bist genau wie er, nimm das Bild mit dir!« Ich dankte und bewahrte es. Meine Mutter war eine kluge, klarsichtige Frau. Nun wurde mir's klar, daß sie mich niemals ganz genau gesehen hatte. Sie konnte mich gewiß inständig lieben. Sie liebte den Sohn ihres Mannes, nicht ihr Kind. Sie war eine Frau. Ich war der Erbe ihres Geliebten; seinen Lenden schicksalshaft entsprossen; ihrem Schoß nur zufällig.

Sie öffnete das zweite Etui. Auf schneeweißem Samt lag ein violetter, großer, sechskantig geschliffener Amethyst, gehalten von einer zart geflochtenen goldenen Kette, mit der verglichen der Stein allzu wichtig erschien, gewalttätig fast. Es war, als hinge nicht er an der Kette, sondern als hätte er sich die Kette angeeignet und zöge sie in seiner Gesellschaft mit, eine schwache, ergebene Sklavin. »Für deine Braut!« sagte meine Mutter. »Bring es ihr heute!« – Ich küßte die Hand meiner Mutter und barg auch dieses Etui in der Tasche.

In diesem Augenblick meldete unser Diener Besuch, meinen Schwiegervater und Elisabeth. »Im Salon!« befahl meine Mutter. »Den Spiegel!« Jacques brachte ihr den ovalen Handspiegel. Sie sah eine lange Weile ihr Gesicht an, regungslos. Ja, die Frauen ihrer Zeit hatten es noch nicht nötig, mit Schminke, Puder, Kämmen oder auch nur nackten Fingern Kleid, Antlitz, Haar zu richten. Es war, als befehle meine Mutter mit dem Blick allein, mit dem sie ihr Spiegelbild jetzt prüfte, dem Haar, dem Gesicht, dem Kleid distinguierte Disziplin. Ohne daß sie eine Hand gerührt hätte, verschwand plötzlich jede Vertraulichkeit, Vertrautheit, und ich selbst fühlte mich beinahe wie zu Gast bei einer fremden, älteren Dame. »Komm!« sagte sie. »Gib mir den Stock!« – Der Stock, dünnes Ebenholz mit silbernem Knauf, lehnte neben dem Stuhl. Sie brauchte ihn nicht als Stütze, sondern als Abzeichen ihrer Würde. Mein Schwiegervater im Schlußrock, mit Handschuhen eher bewaffnet als ausgestattet, Elisabeth im hochgeschlossenen silbergrauen Kleid, ein diamantenes Kreuz an der Brust, größer als sonst und so blaß wie die mattsilberne Agraffe an ihrer linken Hüfte, standen beide aufrecht, starr beinahe, als wir eintraten. Der Schwiegervater verbeugte sich, Elisabeth versuchte einen halben Knicks. Ich küßte sie unbekümmert. Der Krieg enthob mich aller überflüssigen zeremoniellen Verpflichtungen. »Verzeihen Sie den Überfall!« sagte mein Schwiegervater. »Es ist ein angenehmer Besuch!« verbesserte meine Mutter. Sie sah dabei Elisabeth an. In ein paar Wochen wäre ich wieder daheim, scherzte mein Schwiegervater. Meine Mutter saß auf einem schmalen, harten Rokokostuhl, aufrecht, wie gepanzert. »Die Menschen«, sagte sie, »wissen manchmal wohl, wann sie wegfahren. Sie wissen niemals, wann sie zurückkommen.« Dabei sah sie Elisabeth an. Sie ließ Kaffee in den Salon reichen, Likör und Cognac. Sie lächelte nicht einen Augenblick. Sie heftete in einem bestimmten Moment ihren Blick auf meine Blusentasche, in der ich das Etui mit dem Amethyst aufbewahrt hatte. Ich verstand. Ich hängte, ohne ein Wort, die Kette um den Hals Elisabeths. Der Stein hing über dem Kreuz. Elisabeth lächelte, trat zum Spiegel, und meine Mutter nickte ihr zu; Elisabeth legte das Kreuz ab. Der Amethyst schimmerte in einem gewaltsamen Violett auf dem silbergrauen Kleid. Er erinnerte an gefrorenes Blut auf einem gefrorenen Grund. Ich wandte mich ab.

Wir erhoben uns. Die Mutter umarmte Elisabeth, ohne sie zu küssen. »Du fährst mit den Herrschaften!« befahl sie mir. »Komm heute abend!« fügte sie hinzu. »Ich will die Stunde der Trauung wissen. Es gibt Schleie blau!« Sie winkte mit der Hand, wie Königinnen mit Fächern winken. Sie entschwand.

Im Wagen unten, mein Schwiegervater fuhr im Auto (er nannte mir die Marke, und ich behielt sie nicht), erfuhr ich, daß in der Döblinger Kirche alles parat sei. Die Stunde, wahrscheinlich zehn Uhr vormittags, sei noch nicht bestimmt. Unsere Trauzeugen waren Zelinsky und Heidegger. Einfache Zeremonie. »Schlicht militärisch«, sagte mein Schwiegervater.

Am Abend, während wir die Schleie blau langsam und vorsichtig verzehrten, begann meine Mutter, wohl zum erstenmal, seitdem sie Herrin in ihrem Haus war, während des Essens von den sogenannten ernsten Gegenständen zu sprechen. Ich begann eben, die Schleie zu loben. Sie unterbrach mich. »Vielleicht sitzen wir zum letztenmal beisammen!« sagte sie. Mehr nicht. »Du gehst heute aus, Abschied nehmen, wie?« – »Ja, Mama!« – »Morgen, auf Wiedersehen!« Sie ging, sie sah sich nicht mehr um.

Freilich ging ich Abschied nehmen. Das heißt: ich irrte eigentlich herum, um Abschied zu nehmen. Hier und dort nur traf ich einen Bekannten. Die Leute auf den Straßen stießen von Zeit zu Zeit unverständliche Rufe aus. Es bedurfte einiger Minuten, bevor ich ihren Sinn begriff, und die Rufe waren schon verklungen. Manchmal spielte die Musik den Radetzkymarsch, den Deutschmeistermarsch und »Heil du, mein Österreich!« Es waren Zigeunerkapellen, Heurigenkapellen in kleinbürgerlichen Lokalen. Man trank Bier. Wenn ich eintrat, erhoben sich ein paar Unteroffiziere, und auch die Zivilisten winkten mir mit den Bierkrügeln zu. Es kam mir vor, daß ich der einzige Nüchterne in dieser großen Stadt war und deshalb auch fremd in ihr. Ja, die vertraute Stadt entzog sich mir, rückte von mir fort, jeden Augenblick weiter, und die Straßen und Gassen und Gärten, so erfüllt und laut sie auch waren, schienen mir bereits ausgestorben, so, wie ich sie später sehen sollte, nach dem Krieg und nach unserer Heimkehr. Ich irrte herum bis zum Morgengrauen, nahm im alten Bristol ein Zimmer, schlief, angestrengt, erhitzt und gegen Gedanken, Pläne, Erinnerungen unaufhörlich fechtend, ein paar Stunden, ging ins Kriegsministerium, bekam günstigen Bescheid, fuhr in unsere Kaserne, Landstraßer Hauptstraße, und verabschiedete mich von Major Pauli, unserm Bataillonskommandanten, bekam einen »offenen Befehl«, der mich – schon hieß ich: Leutnant Trotta – zu den Fünfunddreißigern instradierte, eilte nach Döbling, erfuhr, daß ich um zehn Uhr dreißig getraut werden sollte, fuhr zu meiner Mutter und teilte es ihr mit, und dann zu Elisabeth.

Wir gaben vor, daß Elisabeth mich eine Strecke begleiten sollte. Meine Mutter küßte mich, wie gewöhnlich, auf die Stirn, stieg in den Fiaker, hart, kalt und schnell, trotz ihrer langsamen Art. Es war ein geschlossener Wagen. Bevor er sich noch in Bewegung setzte, konnte ich bemerken, daß sie hastig das Rouleau hinter der kleinen Wagenscheibe zuzog. Und ich wußte, daß sie drinnen, im Dämmer des Coupés, eben zu weinen begann. Mein Schwiegervater küßte uns beide, munter und sorglos. Er hatte hundert überflüssige Redensarten in der Kehle, locker fielen sie heraus, verwehten schnell wie Gerüche. Wir verließen ihn, ein wenig brüsk. »Ich lasse euch allein!« rief er uns nach.

Elisabeth begleitete mich nicht nach dem Osten. Wir fuhren vielmehr nach Baden. Sechzehn Stunden lagen vor uns, sechzehn lange, volle, satte, kurze, flüchtige Stunden.


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