Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XIX

Ich ging als »Einzelreisender« ins Feld. Den Brief meiner Frau hatte ich im ersten Anfall von Unmut, verletzter Eitelkeit, Rachsucht, Gehässigkeit vielleicht – was weiß ich – zerknüllt und in die Hosentasche gesteckt. Jetzt zog ich ihn hervor, glättete den Knäuel und überlas die eine Zeile noch einmal. Es war mir klar, daß ich mich gegen Elisabeth versündigt hatte. Eine Weile später kam es mir vor, daß ich mich sogar schwer gegen sie versündigt hatte. Ich beschloß, ihr einen Brief zu schreiben, ich machte mich auch daran, das Papier aus dem Koffer zu holen, aber als ich ausgepackt hatte – man zog damals noch mit ledernen Schreibmappen ins Feld –, strömte mir aus dem leeren blauen Blatt gleichsam mein eigener Unmut entgegen. Es war, als müßte das leere Blatt eigentlich alles enthalten, was ich noch Elisabeth zu sagen hatte, und als müßte ich es abschicken, so glatt und wüst, wie es war. Ich schrieb nur meinen Namen darauf. Diese Post gab ich auf der nächsten Bahnstation ab. Noch einmal zerknüllte ich den Zettel Elisabeths. Noch einmal steckte ich den Knäuel in die Tasche.

Ich war, laut dem »Offenen Befehl«, ausgestellt vom Kriegsministerium, von Stellmacher unterzeichnet, zum Landwehrregiment Numero 35 instradiert, das heißt direkt zum Regiment, nicht etwa zum Ergänzungsbezirkskommando, das infolge der kriegerischen Ereignisse aus dem gefährlichen Gebiet in das Innere des Reiches verlegt worden war. Ich sah mich also vor der ziemlich verwickelten Aufgabe, mein Regiment, das sich auf dem ständigen Rückzug befinden mußte, irgendwo in einem Dorf, in einem Wald, in einem Städtchen, kurz: in einer »Stellung« ausfindig zu machen, das heißt ungefähr, als ein Irrender, einzelner zu einer flüchtenden, irrenden Einheit zu stoßen. Dergleichen hatten wir freilich in den Manövern niemals gelernt.

Es war gut, daß ich dieser Sorge vor allem hingegeben sein mußte. Ich flüchtete mich geradezu in sie. Ich brauchte so nicht mehr an meine Mutter, an meine Frau, unseren toten Diener zu denken. Mein Zug hielt fast jede halbe Stunde an irgendwelchen winzigen, unbedeutenden Stationen. Wir fuhren, ein Oberleutnant und ich, in einem engen Abteil, einer Zündholzschachtel sozusagen, etwa achtzehn Stunden, bis wir Kamionka erreichten. Von hier ab waren die ordentlichen Bahngeleise zerstört. Nur eine provisorische, schmalspurige Bahn mit drei ungedeckten, winzigen Lastwaggönchen führte zum nächsten Feldkommandoposten, der die augenblickliche Stellung der einzelnen Regimenter, auch nur unverbindlich, den »Einzelreisenden« anzugeben vermochte. Das Bähnchen rollte langsam dahin, der Lokomotivführer läutete unaufhörlich, denn Scharen von Verwundeten, zu Fuß und auf Bauernfuhrwerken, kamen uns auf dem schmalen Weg entgegen. Ich bin – wie ich damals zum erstenmal erfuhr – ziemlich unempfindlich gegen die sogenannten großen Schrecken. So empfand ich zum Beispiel den Anblick der Verwundeten, die auf einer Tragbahre lagen, wahrscheinlich, weil ihnen Beine oder Füße abgeschossen waren, weniger fürchterlich als die allein, ungestützt dahinwankenden Soldaten, die nur einen leichten Streifschuß hatten und durch deren schneeweißen Verband unaufhörlich neues Blut sickerte. Und bei alledem, zu beiden Seiten der schmalspurigen Bahn, auf den weiten, schon herbstfahlen Wiesen, zirpten die verspäteten Grillen, weil sie ein trügerisch warmer Septemberabend verführt hatte zu glauben, es sei immer noch oder schon aufs neue Sommer.

Beim Feldkommandoposten traf ich zufällig den Herrn Feldkuraten von den Fünfunddreißigern. Er war ein feister, selbstzufriedener Mann Gottes, in einem engen, prallen, glänzenden Priesterrock. Er hatte sich auf dem Rückzug verloren, mitsamt seinem Diener, seinem Kutscher, seinem Pferd und dem zeltüberspannten Trainwagen, wo er Altar und Meßgeräte, aber auch eine Anzahl Geflügel, Schnapsflaschen, Heu für das Pferd und überhaupt requiriertes Bauerngut verbarg. Er begrüßte mich wie einen langentbehrten Freund. Er schien sich vor neuen Irrfahrten zu fürchten, er konnte sich auch nicht entschließen, sein Geflügel dem Feldkommandoposten zu opfern, wo man sich bereits seit zehn Tagen lediglich von Konserven nährte und von Kartoffeln. Man liebte hier den Feldkuraten nicht sonderlich. Aber er weigerte sich, aufs Geratewohl oder nur auf ein Ungefähr hin loszuziehen, dieweil ich, eingedenk meines Vetters Joseph Branco und des Fiakers Manes Reisiger, das Ungefähr dem Warten vorzog. Unsere Fünfunddreißiger, so lautete die vage Auskunft, sollten drei Kilometer nördlich von Brzezany stehen. Und also machte ich mich mit dem Feldkuraten, seinem Wagen, seinem Geflügel auf den Weg, ohne Landkarte, lediglich mit einer handgezeichneten Skizze versehen.

Wir fanden schließlich die Fünfunddreißiger, allerdings nicht nördlich von Brzezany, sondern erst in dem Flecken Strumilce. Ich meldete mich beim Obersten. Meine Ernennung zum Leutnant war bereits beim Regimentsadjutanten eingelaufen. Ich verlangte, meine Freunde zu sehen. Sie kamen. Ich bat, man möchte sie meinem Zug zuteilen. Wie kamen sie! Ich erwartete sie in der Kanzlei des Rechnungsunteroffiziers Cenower, aber es war ihnen nicht gesagt worden, daß ich es sei, der sie hatte kommen lassen. Im ersten Augenblick erkannten sie mich gar nicht. Aber im nächsten schon fiel mir Manes Reisiger um den Hals, uneingedenk aller militärischen Vorschriften, indes mein Vetter Joseph Branco noch immer dastand, in Habt-acht erstarrt, aus Verwunderung und Disziplin. Er war ein Slowene eben. Manes Reisiger aber war ein jüdischer Fiaker aus dem Osten, unbekümmert und kein Dienstreglement-Gläubiger. Sein Bart bestand aus lauter wilden, harten Knäueln, der Mann sah nicht uniformiert aus, sondern verkleidet. Ich küßte eines seiner Bartknäuel und machte mich daran, auch Joseph Branco zu umarmen. Ich selbst, auch ich, vergaß das Militär. Ich dachte nur noch an den Krieg, und ich rief vielleicht zehnmal hintereinander: »Ihr lebt, ihr lebt! ...« Und Joseph Branco bemerkte sofort meinen Ehering und wies stumm auf meinen Finger. »Ja«, sagte ich, »ich habe geheiratet.« Ich fühlte, ich sah, daß sie mehr von meiner Heirat und von meiner Frau wissen wollten, ich ging mit ihnen hinaus, auf den winzigen, kreisrunden Ring um die Kirche von Strumilce. Ich sprach aber gar nicht von Elisabeth, bis es mir plötzlich einfiel – und wie konnte es mir auch entfallen sein! –, daß ich eine Photographie von ihr in der Brieftasche geborgen hatte. Am leichtesten war es wohl, es ersparte alles Reden, meinen Freunden das Bild zu zeigen. Ich zog die Brieftasche, ich suchte, das Bild war nicht drin. Ich begann nachzudenken, wo ich es verloren oder vergessen haben könnte, und auf einmal glaubte ich mich zu erinnern, daß ich die Photographie bei meiner Mutter zu Hause gelassen hatte. Ein unbegreiflicher, ja ein sinnloser Schrecken ergriff mich, als hätte ich das Bild Elisabeths zerrissen oder verbrannt. »Ich finde die Photographie nicht«, sagte ich zu meinen beiden Freunden. Statt zu antworten, zog jetzt mein Vetter Joseph Branco aus seiner Tasche das Bild seiner Frau und reichte es mir. Es war eine schöne Frau, von stolzer Üppigkeit, in der slowenischen Dorftracht, ein Krönchen aus Münzen über dem glatten, gescheitelten Haar und eine dreimal geschlungene Kette aus den gleichen Münzen um den Hals. Ihre starken Arme waren nackt, die Hände stemmte sie an die Hüften. »Das ist die Mutter meines Kindes, es ist ein Sohn!« sagte Joseph Branco. »Bist du verheiratet?« fragte Manes, der Fiaker. »Wenn der Krieg aus ist, werde ich sie heiraten, unser Sohn heißt Branco, wie ich, er ist zehn Jahre alt. Er ist beim Großvater. Er kann herrliche Pfeile schnitzen.«


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