Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XIII

Ich dachte an Elisabeth. Ich hatte nur zwei Gedanken, seitdem ich das Manifest des Kaisers gelesen hatte: den an den Tod und den an Elisabeth. Ich weiß heute noch nicht, welcher von beiden der stärkere war.

Verschwunden und vergessen waren im Angesicht des Todes alle meine törichten Befürchtungen vor dem törichten Spott meiner Freunde. Ich empfand auf einmal Mut, zum erstenmal in meinem Leben hatte ich Mut, meine sogenannte »Schwäche« zu bekennen. Ich ahnte freilich schon, daß der leichtfertige Übermut meiner Wiener Freunde dem schwarzen Glanz des Todes gewichen sein würde und daß es in der Stunde des Abschieds, eines solchen Abschieds, keinen Platz für irgendeinen Hohn mehr geben könnte.

Ich hätte mich auch beim Ergänzungsbezirkskommando Zloczow melden können, wohin der Fiaker Manes zuständig war und zu dem sich auch mein Vetter Joseph Branco begeben wollte. In Wirklichkeit lag es in meiner Absicht, Elisabeth und meine Wiener Freunde und meine Mutter zu vergessen und mich so schnell wie möglich der nächsten Station des Todes auszuliefern, nämlich dem Ergänzungsbezirkskommando Zloczow. Denn ein starkes Gefühl band mich an meinen Vetter Joseph Branco wie an seinen Freund, den Fiaker Manes Reisiger. In der Nähe des Todes wurden meine Gefühle redlicher, gleichsam reinlicher, ähnlich, wie sich manchmal vor einer schweren Krankheit plötzlich die klaren Einsichten und Erkenntnisse einstellen, dermaßen, daß man trotz der Angst, der Bedrängtheit und der würgenden Vorahnung des Leidens eine Art stolzer Genugtuung darüber empfindet, daß man endlich einmal erkannt hat; das Glück, das man durch Leiden erkannt hat, und eine Seligkeit, weil man den Preis der Erkenntnis im voraus erfährt. Man ist sehr glücklich in der Krankheit. Ich war damals ebenso glücklich, in Anbetracht der großen Krankheit, die sich in der Welt ankündigte: nämlich der des Weltkriegs. Ich durfte gleichsam allen meinen Fieberträumen, die ich sonst unterdrückt hatte, freien Lauf lassen. Ich war ebenso befreit wie gefährdet.

Ich wußte bereits, daß mir mein Vetter Joseph Branco und sein Freund Manes Reisiger lieber waren als alle meine früheren Freunde, mit Ausnahme des Grafen Chojnicki. Man stellte sich damals den Krieg sehr einfach und ziemlich leichtfertig vor. Wenigstens gehörte ich zu jenen nicht seltenen Leuten, die glaubten, wir würden nach Garnisonen aufmarschieren, womöglich geschlossen, und wenn nicht nebeneinander, so doch in einer einigermaßen erreichbaren Nähe bleiben. Ich stellte mir vor, ich wünschte es mir, daß ich in der Nähe meines Vetters Joseph Branco und in der seines Freundes, des Fiakers Manes, bleibe.

Aber es war keine Zeit zu verlieren. Überhaupt bestand in jenen Tagen die Bedrängnis, ja die Bedrängung, in der Tatsache, daß wir keine Zeit mehr hatten: keine Zeit mehr, den geringen Raum zu genießen, den uns noch das Leben ließ, und auch nicht einmal die Zeit mehr, den Tod zu erwarten. Wir wußten ja damals eigentlich nicht mehr, ob wir uns den Tod ersehnten oder das Leben erhofften. Für mich und meinesgleichen waren es damals jedenfalls die Stunden der höchsten Lebensspannung: jene Stunden, in denen der Tod einem nicht erschien wie ein Abgrund, in den man eines Tages stürzt, sondern wie ein jenseitiges Ufer, das man durch einen Sprung zu erreichen trachtet; und man weiß, wie lange die Sekunden dauern, die dem Sprung an ein jenseitiges Ufer vorangehn.

Ich ging zuerst, wie selbstverständlich, nach Hause zu meiner Mutter. Sie hatte offenbar kaum noch erwartet, mich wiederzusehn, aber sie tat so, als hätte sie mich erwartet. Es ist eines der Geheimnisse der Mütter: Sie verzichten niemals, ihre Kinder wiederzusehn, ihre totgeglaubten nicht und auch nicht ihre wirklich toten; und wenn es möglich wäre, daß ein totes Kind wiederauferstünde vor seiner Mutter, würde sie es in ihre Arme nehmen, so selbstverständlich, als wäre es nicht aus dem Jenseits, sondern aus einer der fernen Gegenden des Diesseits heimgekehrt. Eine Mutter erwartet die Wiederkehr ihres Kindes immer: ganz gleichgültig, ob es in ein fernes Land gewandert ist, in ein nahes oder in den Tod.

Also empfing mich auch meine Mutter, als ich ankam, gegen die zehnte Stunde vormittags. Wie gewöhnlich saß sie da, im Lehnstuhl, vor dem eben beendeten Frühstück, die Zeitung vor dem Angesicht und die altmodische Brille mit den oval geformten, stahlgeränderten Gläsern vor den Augen. Sie nahm die Brille ab, als ich ankam, aber sie ließ die Zeitung kaum sinken. »Küß die Hand, Mama!« sagte ich, ging auf sie zu und nahm ihr die Zeitung aus der Hand. Ich fiel geradezu in ihren Schoß. Sie küßte mich auf den Mund, die Wangen, die Stirn. »Jetzt ist Krieg«, sagte sie, als hätte sie mir damit eine Neuigkeit mitgeteilt; oder als wäre für sie der Krieg erst in dem Augenblick ausgebrochen, in dem ich nach Hause gekommen war, um von ihr, meiner Mutter, Abschied zu nehmen.

»Jetzt ist Krieg, Mama«, antwortete ich, »und ich bin gekommen, um Abschied von dir zu nehmen.« – »Und auch«, fügte ich nach einer Weile hinzu, »um Elisabeth zu heiraten, bevor ich in den Krieg gehe.«

»Wozu heiraten«, fragte meine Mutter, »wenn du ohnehin in den Krieg gehst?« Auch hier noch sprach sie, wie eine Mutter spricht. Wenn sie ihr Kind – ihr einziges übrigens – in den Tod ziehen lassen mußte, so wollte sie es allein dem Tod überliefern. Weder den Besitz noch den Verlust wollte sie mit einer anderen Frau teilen. Seit langem schon mochte sie geahnt haben, daß ich Elisabeth liebte. (Sie kannte sie wohl.) Seit langem schon mochte meine Mutter bereits gefürchtet haben, daß sie eines Tages ihren einzigen Sohn verlieren würde – an eine andere Frau –, was ihr vielleicht beinahe noch schlimmer erschien, als ihn an den Tod zu verlieren. »Mein Kind«, sagte sie, »du bist selbst imstande und allein berechtigt, über dein Schicksal zu entscheiden. Du willst heiraten, bevor du in den Krieg gehst; ich versteh's. Ich bin kein Mann, ich habe nie einen Krieg gesehn, ich kenne kaum das Militär. Aber ich weiß, daß der Krieg etwas Schreckliches ist und daß er dich vielleicht umbringen wird. Dies ist die Stunde, in der ich dir die Wahrheit sagen kann. Ich mag Elisabeth nicht leiden. Ich hätte dich auch unter andern Umständen nicht gehindert, sie zu heiraten. Aber ich hätte dir niemals die Wahrheit gesagt. Heirate und werde glücklich, wenn es dir die Umstände erlauben. Und Schluß damit! Reden wir von anderen Dingen: Wann rückst du ein? Und wo?«

Zum erstenmal in meinem Leben war ich vor meiner Mutter verlegen, ja winzig. Ich konnte ihr nichts anderes antworten als dieses kümmerliche: »Ich komme bald wieder, Mama!«, das mir heute noch wie eine Lästerung nachklingt.

»Komm zu Mittag, Bub«, sagte sie, als ob gar nichts sonst in der Welt los wäre und wie sie es immer schon ähnlich gesagt hatte, »wir haben heut Schnitzel und Zwetschkenknödel zu Mittag.«

Es war für mich eine großartige Manifestation der Mütterlichkeit: dieser plötzliche Einbruch der friedlichen Zwetschkenknödel in die Bereitschaft des Todes sozusagen. Ich hätte vor Rührung in die Knie fallen mögen. Aber ich war zu jung noch damals, um Rührung ohne Scham zeigen zu können. Und seit jener Stunde weiß ich es auch, daß man ganz reif und zumindest sehr erfahren sein muß, um Gefühl zeigen zu können, ohne eine Hemmung der Scham.

Ich küßte meiner Mutter die Hand wie gewohnt. Ihre Hand – ich werde sie niemals vergessen – war zart, schlank, blau geädert. Durch die dunkelroten, seidenen Vorhänge, zärtlich gedämpft, strömte das Licht des Vormittags in das Zimmer, wie ein stiller, gleichsam zeremoniell verkleideter Gast. Auch die ganz blasse Hand meiner Mutter schimmerte rötlich, in einer Art schamhaften Scharlachs, eine geweihte Hand in einem durchsichtigen Handschuh aus gefilterter Vormittagssonne. Und das zaghaft herbstliche Zirpen der Vögel in unserem Garten war mir beinahe so heimisch und gleichzeitig beinahe so fremd wie die vertraute, vom Rot verschleierte Hand meiner Mutter.

»Ich habe keine Zeit zu verlieren«, sagte ich nur.

Ich ging zum Vater meiner geliebten Elisabeth.


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