Joseph Roth
Die Kapuzinergruft
Joseph Roth

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XXXIV

Auch am Freitag erwartete ich sehnsüchtig meinen geliebten Abend, in dem allein ich mich zu Hause fühlte, seitdem ich kein Haus und kein Heim mehr hatte. Ich wartete wohl, wie gewohnt, in seine Obhut einzugehen, die gütiger war bei uns in Wien als die Stille der Nächte, nach dem Schluß der Kaffeehäuser, sobald die Laternen trist wurden, matt von dem unnützen Leuchten. Sie sehnten sich nach dem säumigen Morgen und ihrem eigenen Erlöschen. Ja, müde waren sie immer, übernächtige Lampen, sie wollten den Morgen haben, um einschlafen zu können.

Ach, ich erinnerte mich oft daran, wie sie die Nächte meiner Jugend durchsilbert hatten, die freundlichen Töchter und Söhne des Himmels, Sonnen und Sterne, freiwillig herabgeschwebt, um die Stadt Wien zu beleuchten. Die Röcke der Mädchen vom Strich in der Kärntner Straße reichten noch bis zu den Knöcheln. Wenn es regnete, rafften diese süßen Geschöpfe die Kleider hoch, und ich sah ihre aufregenden Knöpfelschuhe. Dann trat ich bei Sacher ein, meinen Freund Sternberg zu sehen. In der Loge saß er, immer in der gleichen, und der letzte Gast war er. Ich holte ihn ab. Wir hätten eigentlich zusammen nach Hause gehen sollen, aber jung waren wir, und auch die Nacht war jung (wenn auch schon fortgeschritten), und die Straßenmädchen waren jung, insbesondere die ältlichen, und jung waren die Laternen ...

Wir gingen also gleichsam durch unsere eigene Jugend und die jugendliche Nacht. Die Häuser, in denen wir wohnten, erschienen uns wie Grüfte oder bestenfalls Asyle. Die nächtlichen Polizisten salutierten uns, Graf Sternberg gab ihnen Zigaretten. Oft patrouillierten wir mit den Wachleuten durch die leere und bleiche Straßenmitte, und manchmal ging eines jener süßen Geschöpfe mit uns und hatte einen ganz anderen Schritt als sonst auf dem gewohnten Trottoir. Damals waren die Laternen seltener und auch bescheidener, aber weil sie jung waren, leuchteten sie stärker, und manche wiegten sich heiter im Winde...

Später, seitdem ich aus dem Kriege heimgekehrt war, nicht nur gealtert, sondern auch vergreist, waren die Wiener Nächte verrunzelt und verwelkt, ältlichen, dunklen Frauen gleich, und der Abend ging nicht in sie ein wie früher, sondern er wich ihnen aus, erblaßte und entschwand, ehe sie noch angerückt kamen. Man mußte diese Abende, die hurtigen und beinahe furchtsamen, sozusagen fassen, bevor sie zu verschwinden im Begriffe waren, und ich erreichte sie am liebsten in den Parks, im Volksgarten oder im Prater und ihren letzten, süßesten Rest noch in einem Café, in das sie einzusickern pflegten, zart und gelinde, wie ein Geruch.

Auch an diesem Abend also ging ich ins Café Lindhammer, und ich tat so, als wäre ich keineswegs aufgeregt wie die anderen. Sah ich mich doch seit langem schon, seit der Heimkehr aus dem Krieg, als einen zu Unrecht Lebenden an! Hatte ich mich doch längst schon daran gewöhnt, alle Ereignisse, die von den Zeitungen »historische« genannt werden, mit dem gerechten Blick eines nicht mehr zu dieser Welt Gehörenden zu betrachten! Ich war lange schon ein vom Tode auf unbeschränkte Zeit Beurlaubter! Und er, der Tod, konnte jede Sekunde meinen Urlaub unterbrechen. Was gingen mich noch die Dinge dieser Welt an?...

Dennoch bekümmerten sie mich, und besonders an jenem Freitag. Es war, als ginge es darum, ob ich, ein vom Leben Pensionierter, meine Pension in Ruhe weiterverzehren sollte, wie bis jetzt, in einer verbitterten Ruhe; oder ob mir auch noch die genommen würde, diese arme, verbitterte Ruhe, man könnte sagen: der Verzicht, den ich mir angewöhnt hatte, eine Ruhe zu nennen. Dermaßen, daß oft in den letzten Jahren, wenn dieser oder jener meiner Freunde zu mir kam, um mir zu sagen, jetzt sei endlich die Stunde da, in der ich mich um die Geschichte des Landes zu kümmern hätte, ich zwar den üblichen Satz sagte: »Ich will meine Ruh' haben!« – aber genau wußte, daß ich eigentlich hätte sagen sollen: »Ich will meinen Verzicht haben!« Meinen lieben Verzicht! Auch der ist nun dahin! Nachgefolgt ist er meinen unerfüllt gebliebenen Wünschen...

Ich setzte mich also ins Café, und während meine Freunde an meinem Tisch immer noch von ihren privaten Angelegenheiten sprachen, empfand ich, der ich durch ein ebenso unerbittliches wie gnädiges Schicksal jede Möglichkeit eines privaten Interesses ausgeschaltet sah, nur noch das allgemeine, das mich zeit meines Lebens so wenig anging und dem ich zeit meines Lebens auszuweichen pflegte ...

Ich hatte schon wochenlang keine Zeitungen mehr gelesen, und die Reden meiner Freunde, die von den Zeitungen zu leben, ja geradezu von Nachrichten und Gerüchten am Leben erhalten zu sein schienen, rauschten ohne jede Wirkung an meinem Ohr vorbei, wie die Wellen der Donau, wenn ich manchmal am Franz-Josephs-Kai saß oder auf der Elisabeth-Promenade. Ich war ausgeschaltet; ausgeschaltet war ich. Ausgeschaltet unter den Lebendigen bedeutet so etwas Ähnliches wie exterritorial. Ein Exterritorialer war ich eben unter den Lebenden. Und auch die Aufregung meiner Freunde, selbst an diesem Freitag abend, schien mir überflüssig; bis zu jener Sekunde, da die Tür des Cafés aufgerissen wurde und ein seltsam bekleideter junger Mann an der Schwelle erschien. Er trug nämlich schwarze Ledergamaschen, ein weißes Hemd und eine Art von Militärmütze, die mich gleichzeitig an eine Bettschüssel und an eine Karikatur unserer alten österreichischen Kappen erinnerte; kurz und gut: nicht einmal an eine preußische Kopfbedeckung. (Denn die Preußen tragen auf ihren Köpfen keine Hüte und keine Kappen, sondern Bedeckungen.) Ich war, ferne der Welt und der Hölle, die sie für mich darstellte, keineswegs geeignet, die neuen Mützen und Uniformen zu unterscheiden, geschweige denn, sie zu erkennen. Es mochte weiße, blaue, grüne und rote Hemden geben; Hosen, schwarz, braun, grün, blau lackiert; Stiefel und Sporen, Leder und Riemen und Gürtel und Dolche in Scheiden jeder Art: Ich jedenfalls, ich hatte für mich beschlossen, seit langem schon, seit der Heimkehr aus dem Kriege schon, sie nicht zu unterscheiden und sie nicht zu erkennen. Daher also war ich zuerst mehr als meine Freunde über die Erscheinung dieser Gestalt überrascht, die, wie aus der im Souterrain gelegenen Toilette emporgestiegen, dennoch aber durch die Straßentür hereingekommen war. Ein paar Augenblicke lang hatte ich tatsächlich geglaubt, die mir wohlbekannte, im Souterrain gelegene Toilette läge plötzlich draußen, und einer der Männer, die sie bedienten, wäre eingetreten, um uns zu verkünden, daß alle Plätze bereits besetzt seien. Aber der Mann sagte: »Volksgenossen! Die Regierung ist gestürzt. Eine neue deutsche Volksregierung ist vorhanden!« Seitdem ich aus dem Weltkrieg heimgekehrt war, in ein verrunzeltes Vaterland heimgekehrt war, hatte ich niemals den Glauben an eine Regierung aufgebracht; geschweige denn: an eine Volksregierung. Ich gehöre heute noch – kurz vor meiner wahrscheinlich letzten Stunde darf ich, ein Mensch, die Wahrheit sagen – einer offenbar versunkenen Welt an, in der es selbstverständlich schien, daß ein Volk regiert werde und daß es also, wollte es nicht aufhören, Volk zu sein, sich nicht selber regieren könne. In meinen tauben Ohren – ich hatte oft gehört, daß sie »reaktionär« geheißen werden – klang es so, als hätte mir eine geliebte Frau gesagt, sie brauchte mich keineswegs, sie könnte mit sich selbst schlafen und müßte es sogar, und zwar einzig zu dem Zweck, um ein Kind zu bekommen.

Insbesondere deshalb überraschte mich der Schrecken, der bei der Ankunft des seltsam gestiefelten Mannes und seiner seltsamen Verkündung alle meine Freunde ergriff. Wir hatten, alle zusammen, kaum drei Tische eingenommen. Einen Augenblick später blieb ich, nein, fand ich mich allein. Ich fand mich tatsächlich allein, und es war mir einen Augenblick so, als ob ich mich tatsächlich lange selbst gesucht und mich selbst überraschend allein gefunden hätte. Alle meine Freunde standen nämlich von ihren Sitzen auf, und statt, wie es zwischen uns seit Jahren üblich gewesen war, mir vorher »Gute Nacht!« zu sagen, riefen sie: »Ober, zahlen!« Aber da unser Ober Franz nicht kam, riefen sie dem jüdischen Cafétier Adolf Feldmann zu: »Wir zahlen morgen!« – und sie gingen, ohne mich noch einmal anzusehen.

Immer noch glaubte ich, sie kämen wirklich morgen, um zu zahlen, und der Ober Franz sei im Augenblick in der Küche oder sonst irgendwo aufgehalten und einfach deshalb nicht so prompt wie gewöhnlich erschienen. Nach zehn Minuten aber kam der Cafétier Adolf Feldmann hinter seiner Theke hervor, im Überrock und einen steifen Hut auf dem Kopf, und sagte mir: »Herr Baron, wir nehmen Abschied für immer. Wenn wir uns einmal irgendwo in der Welt wiedersehen sollten, werden wir einander erkennen. Morgen kommen Sie bestimmt nicht mehr her. Wegen der neuen deutschen Volksregierung nämlich. Gehen Sie heim, oder gedenken Sie hier sitzen zu bleiben?«

»Ich bleibe hier, wie alle Nächte«, antwortete ich.

»Dann leben Sie wohl, Herr Baron! Ich lösche die Lampen aus! Hier sind zwei Kerzen!«

Und damit zündete er zwei bleiche Kerzen an, und ehe ich mir noch von meinem Eindruck, er hätte mir Totenkerzen angezündet, eine Rechenschaft geben konnte, waren alle Lichter im Café erloschen, und blaß, mit einem schwarzen, steifen Hut auf dem Kopf, ein Totengräber eher als der joviale, silberbärtige Jude Adolf Feldmann, übergab er mir ein wuchtiges Hakenkreuz aus Blei und sagte:

»Für alle Fälle, Herr Baron! Bleiben Sie ruhig bei Ihrem Schnaps! Ich lasse den Rollbalken zu. Und wenn Sie gehen wollen, können Sie ihn von innen aufmachen. Die Stange steht rechts neben der Tür.«

»Ich möchte zahlen«, sagte ich.

»Dafür ist heute keine Zeit!« erwiderte er.

Und schon war er verschwunden, und schon hörte ich vor der Tür den Rollbalken niederrollen.

Ich fand mich also allein am Tisch, vor den zwei Kerzen. Sie klebten am falschen Marmor, und sie erinnerten mich an eine Art weißer, aufrechter, angezündeter Würmer. Ich erwartete jeden Augenblick, daß sie sich bögen, wie es Würmern eigentlich geziemt.

Da es mir unheimlich zu werden begann, rief ich: »Franz, zahlen!« wie sonst an jedem Abend.

Aber nicht der Ober Franz kam, sondern der Wachhund, der ebenfalls Franz hieß und den ich eigentlich nie hatte leiden mögen. Er war von sandgelber Farbe und hatte triefende Augen und einen schleimigen Mund. Ich liebe Tiere nicht und noch weniger jene Menschen, die Tiere lieben. Es schien mir mein Lebtag, daß die Menschen, die Tiere lieben, einen Teil der Liebe den Menschen entziehen, und besonders gerechtfertigt erschien mir meine Anschauung, als ich zufällig erfuhr, daß die Deutschen aus dem Dritten Reich Wolfshunde lieben, die deutschen Schäferhunde. »Arme Schafe!« sagte ich mir da.

Nun aber kam der Hund Franz zu mir. Obwohl ich sein Feind war, rieb er sein Gesicht an meinem Knie und bat mich gleichsam um Pardon. Und die Kerzen brannten, die Totenkerzen, meine Totenkerzen! Und von der Peterskirche kamen keine Glocken. Und ich habe nie eine Uhr bei mir, und ich wußte nicht, wie spät es war.

»Franz, zahlen!« sagte ich zum Hund, und er stieg auf meinen Schoß.

Ich nahm ein Stückchen Zucker und reichte es ihm.

Er nahm es nicht. Er winselte nur. Und hierauf leckte er mir die Hand, der er das Geschenk nicht abgenommen hatte.

Jetzt blies ich eine Kerze aus. Die andere löste ich vom falschen Marmor los und ging zur Tür und stieß mit der Stange den Rollbalken von innen auf.

Eigentlich wollte ich dem Hund entgehen und seiner Liebe. Als ich auf die Straße trat, die Stange in der Hand, um den Rollbalken wieder hinunterzuziehen, sah ich, daß mich der Hund Franz nicht verlassen hatte. Er folgte mir. Er konnte nicht bleiben. Es war ein alter Hund. Mindestens zehn Jahre hatte er dem Café Lindhammer gedient, wie ich dem Kaiser Franz Joseph; und jetzt konnte er nicht mehr. Jetzt konnten wir beide nicht mehr. »Zahlen, Franz!« sagte ich zu dem Hund. Er erwiderte mir mit einem Winseln.

Der Morgen graute über den wildfremden Kreuzen. Ein leiser Wind ging und schaukelte die greisen Laternen, die noch nicht, in dieser Nacht nicht, erloschen waren. Ich ging durch leere Straßen, mit einem fremden Hund. Er war entschlossen, mir zu folgen. Wohin? – Ich wußte es ebensowenig wie er.

Die Kapuzinergruft, wo meine Kaiser liegen, begraben in steinernen Särgen, war geschlossen. Der Bruder Kapuziner kam mir entgegen und fragte: »Was wünschen Sie?«

»Ich will den Sarg meines Kaisers Franz Joseph besuchen«, erwiderte ich.

»Gott segne Sie!« sagte der Bruder, und er schlug das Kreuz über mich.

»Gott erhalte ...!« rief ich.

»Pst!« sagte der Bruder.

Wohin soll ich, ich jetzt, ein Trotta? ...


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