Jean Jaques Rousseau
Der Gesellschaftsvertrag
Jean Jaques Rousseau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Kapitel

Von der Aristokratie

Wir haben es hier mit zwei streng unterschiedenen geistigen Personen zu tun, und zwar mit der Regierung und dem Staatsoberhaupte, folglich mit zwei allgemeinen Willen, von denen der eine auf alle Bürger, der andere lediglich auf die Glieder der Regierung Bezug hat. Obgleich demnach die Regierung die innere Staatsverfassung nach Belieben ordnen kann, darf sie doch zum Volke nur im Namen des Staatsoberhauptes, das heißt im Namen des Volkes selbst reden, was man nie vergessen darf.

Die ersten Gesellschaften wurden aristokratisch regiert. Die Häupter der Familien beratschlagten untereinander über die Staatsangelegenheiten. Die jungen Leute gaben ohne Widerstreben dem Ansehen der Erfahrung nach. Daher die Namen Priester, Älteste, Senat, Geronten. Die Wilden Nordamerikas werden noch heutigentags auf diese Weise regiert und zwar sehr gut regiert.

Je mehr aber die verfassungsmäßige Ungleichheit die natürliche Ungleichheit überwog, wurde Reichtum oder MachtDas Wort optimates will bei den Alten augenscheinlich nicht die Besten, sondern die Mächtigsten bezeichnen. dem Alter vorgezogen, und es entstand eine Wahlaristokratie. Als endlich mit den Gütern auch die Macht auf die Kinder übertragen und so der Grund zu Patrizierfamilien gelegt wurde, verwandelte sich die Regierung zu einer erblichen, und man konnte zwanzigjährige Senatoren sehen.

Es gibt mithin drei Arten von Aristokratie: die natürliche, die Wahl- und die Erbaristokratie. Die erste ist nur für einfache Völker geeignet; die dritte ist die schlechteste aller Regierungen. Die zweite ist die beste, sie ist die Aristokratie im eigentlichen Sinne.

Außer dem Vorteile, daß die beiden Gewalten getrennt sind, hat sie noch den, daß ihre Glieder gewählt werden, denn während bei der Volksregierung alle Bürger schon von Geburt obrigkeitliche Personen sind, beschränkt die aristokratische letztere auf eine kleine Anzahl, die erst aus den WahlenVon großer Wichtigkeit ist die gesetzliche Feststellung der Wahlform; denn wenn man sie dem Willen des Fürsten überläßt, fällt man unvermeidlich der Erbaristokratie anheim, wie es den Republiken Venedig und Bern ergangen ist. Erstere ist auch schon längst ein aufgelöster Staat, und letztere erhält sich nur durch die außerordentliche Weisheit seines Senats; es macht eine ebenso ehrenwerte wie gefährliche Ausnahme. hervorgeht, was das einzige Mittel ist, durch das Rechtschaffenheit, Einsicht, Erfahrung und alles, was sonst zum Vorzug und zur öffentlichen Achtung berechtigt, zu ebenso vielen Bürgschaften einer weisen Regierung werden.

Ja, noch mehr! Die Versammlungen können bequemer abgehalten werden; die Geschäfte lassen sich leichter erörtern und mit größerer Ordnung und Genauigkeit ausführen; auch wird durch ehrwürdige Senatoren das Ansehen des Staates den auswärtigen Mächten gegenüber besser behauptet als durch eine unbekannte oder verachtete Menge.

Mit einem Worte, es ist das beste und natürlichste Gesetz, daß die Weisesten die Masse regieren, sobald man überzeugt ist, daß ihre Regierung das allgemeine Wohl und nicht ihren eigenen Vorteil bezweckt. Man darf die Mittel nicht ohne Not vervielfältigen oder durch zwanzigtausend Menschen vollbringen, was hundert auserlesene weit besser auszurichten vermögen. Dabei darf allerdings nicht außer acht gelassen werden, daß hier das Standesinteresse anfängt, die Macht des Staates weniger nach der Vorschrift des allgemeinen Willens zu lenken, und daß eine andere unvermeidliche Neigung den Gesetzen einen Teil ihrer vollziehenden Gewalt nimmt.

Noch eine andere gute Seite hat die Aristokratie. Sie verlangt weder einen so kleinen Staat noch ein so einfaches und rechtschaffenes Volk, daß wie in einer guten Demokratie die Vollziehung der Gesetze dem allgemeinen Willen unmittelbar nachfolge. Allerdings darf die Nation auch nicht so groß sein, daß die einzelnen Häupter, um sie zu regieren, sich in ihren einzelnen Landesteilen das Ansehen des Staatsoberhauptes geben und anfangen könnten, sich unabhängig zu machen, um schließlich der unumschränkte Herr zu werden.

Wenn indessen die Aristokratie einige Tugenden weniger erfordert als die Volksregierung, so verlangt sie doch auch andere ihr besonders eigentümliche, wie Mäßigung der Reichen und Zufriedenheit der Armen; denn eine strenge Gleichheit scheint hier nicht angebracht zu sein; selbst in Sparta wurde sie nicht durchgeführt.

Wenn diese Regierungsform übrigens eine gewisse Ungleichheit des Vermögens zuläßt, so liegt der Grund doch nur darin, daß in der Regel die Verwaltung der Staatsgeschäfte Männern übertragen wird, die ihnen am leichtesten ihre ganze Zeit widmen können, nicht aber, wie Aristoteles behauptet, damit den Reichen immer der Vorzug eingeräumt werde. Im Gegenteil ist es von hoher Bedeutung, dem Volke bisweilen durch eine entgegengesetzte Wahl den Beweis zu liefern, daß in dem Verdienste der Menschen durchschlagendere Gründe zur Bevorzugung liegen als im Reichtume.


 << zurück weiter >>