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Das ist mein Mann! äußert sich der junge Goethe über Heinse. »Er hat Hunderten das Wort vom Maule weggenommen. Eine solche Fülle hat sich mir so leicht nicht dargestellt ... Man muß ihn bewundern oder mit ihm wetteifern. Wer etwas anderes tut, der sagt: So! und so! der ist eine Kanaille.«
Und als Goethe im Jahre 1774 zu Düsseldorf (auf der Reise mit Lavater zu Jakobi) den späteren Dichter des Ardinghello persönlich kennen lernte, rief er aus: »Heinse ist in der Tat ein herrliches Genie ... ich hätte nicht gedacht, daß so viel Grazie in dem jungen Faun verborgen läge.«
Dies statt aller andern zeitgenössischen Urteile über Heinse. Die Frage ist, was uns der Mann und sein Werk noch in unsern Tagen bedeuten.
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Aus Heinses Tagebüchern brachte die »Insel« seinerzeit einige Auszüge und machte dazu die Anmerkung: Es befinden sich Offenherzigkeiten darunter, die vielleicht zu Heinses Zeiten hätten gedruckt werden können, aber nicht heute.
Seit einem Jahrhundert ist ein großer Lärm um die Preßfreiheit. Von der Literaturfreiheit redet kein Mensch. Leider ist das aber nicht dasselbe. Die Preßfreiheit ist heute groß, im XVIII. Jahrhundert gab es noch gar keine. Und die Buchfreiheit, die Literaturfreiheit wäre im XVIII. Jahrhundert größer gewesen als heute!
Die Presse mit ihrem vorwiegend oder sogar ausschließlich politischen Charakter hängt allein von der Politik ab; ihre Freiheit ist gleichbedeutend mit politischer Freiheit. Die Literaturfreiheit, die Buchfreiheit, mit einem Wort die Kunstfreiheit stehen dazu oft genug im umgekehrten Verhältnis. Die Geschichte liefert die Belege hierzu tausendweis. Der freieste Staat Europas ist England, sagen die Politiker, und sie haben wohl recht. Aber ist deswegen die Literatur in England frei? Unsere liberalsten politischen Parteien – man muß das immer und immer wieder sagen – hätten für die lex Heinze gestimmt, wenn nicht ... Ja was denn? Wenn nicht das liebe Zentrum einige Zusätze beantragt hätte. Das Gesetz wäre ohne diese Zusätze nicht viel weniger schlimm gewesen und wäre durchgegangen. Daß wir einstweilen noch damit verschont sind, verdanken wir dem Zentrum. Das Zentrum hat es schon einigemale trefflich verstanden, sich selber in die Suppe zu spucken.
Die politische Tyrannis ist eben noch lange nicht die schlimmste. Sie ist eigentlich nur schlimm für ihre Widersacher, d. h. im letzten Grund für Leute, die an ihrer Stelle sein möchten und nicht können. Der erbittertste Feind der Könige war zu aller Zeit die Aristokratie, insofern man darunter eine vornehme und aus eigener Machtvollkommenheit herrschende Klasse versteht, während dieser Name sehr uneigentlich gebraucht wird, wo es sich um eine viel weniger vornehme, wenn auch noch so bevorzugte Klasse handelt, die nur von Königs Gnaden und Königs Handlangereigenschaft herrschend ist.
Worauf ich hinaus will? Ich meine: Wenn ein Aristokrat oder wenn ein Demokrat von der Freiheit redet, so meint er die politische, d. h. die Freiheit im parteiegoistischen oder klassenegoistischen Sinn. Diese aber kann der wahren, ich meine der kulturfördernden Freiheit diametral entgegengesetzt sein. Es gab in der Welt keine kulturfeindlichere Macht als die spartanische Aristokratie; und wer wüßte eine wahre, nicht nur sogenannte Demokratie zu nennen, die den Boden zu einer großen Kultur abgegeben hätte! Große Kultur aber blühte in dem despotischen alten Aegypten, blühte in Rom unter dem Alleinherrscher Augustus, blühte in Florenz unter Lorenz dem Prächtigen, in Frankreich unter Ludwig dem Vierzehnten. Und das perikleische Zeitalter hat auch seinen Namen nicht vom souveränen Volk. Wahrlich: was die Politiker Freiheit nennen und die Freiheit, die ich meine, die Freiheit, die die Kultur braucht, sind zweierlei.
Die Politiker brauchen vielleicht Preßfreiheit; die Kultur braucht Buchfreiheit, Literaturfreiheit, Kunstfreiheit, die Kultur braucht – allen politischen und sozialistischen alten Weibern zum Schauder sei es gesagt – aristophanische Freiheit, braucht eine Freiheit, die der Frechheit auf ein Haar ähnlich sieht.
Oder eigentlich ist das Unsinn. Nicht die Kultur braucht die Freiheit. Umgekehrt. Die Freiheit braucht die Kultur. Die Kultur eben bringt die Freiheit mit sich. Die Kultur allein kann die Freiheit bringen. Die Freiheit ist der Kultur liebstes Kind.
So lehrt es die Geschichte.
Und wenn wir heute – nicht im politisch-engen sondern in einem weitern und höhern Sinn – weniger Freiheit haben als im XVIII. Jahrhundert, so folgt daraus das eine nur: Daß wir heute weniger Kultur haben als im Zeitalter des Königs, der mit Voltaire fast auf gleich und gleich verkehrte und zweier allerersten Reichsfürsten, geistlicher obendrein, wovon der eine den Freigeist und Freimaurer Laroche zum hohen Beamten und der andere, des heiligen Römischen Reiches Kanzler, den Verfasser des Ardinghello zum Vorleser hatte.
Liberale Politiker reden gern vom Fortschritt, glauben gern an den Fortschritt, konstatieren gern den Fortschritt: und allerdings ist ein großer Fortschritt von jenem Fürst-Primas und Erzbischof bis zu den heutigen deutschen Bischöfen und ihrem getreuen Zentrum – ein Fortschritt, es fragt sich nur, wohin. Naive Katholiken freuen sich darüber; ihre Freude ist sehr unkatholisch. Die gläubigen Protestanten freuen sich nicht darüber: sie hätten dennoch allen Grund dazu. Nichts wie Mißverständnisse.
Wer nicht mißversteht und sich schmerzvoll und verhüllten Hauptes wegwendet von dem Schauspiel dieses Fortschrittes, das ist die Kultur ...
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Der »Ardinghello« ist im Jahr 1787 zum erstenmale erschienen. Ich weiß nicht, ob man im Jahre 1887 auf sein hundertjähriges Wiegenfest aufmerksam gemacht hat; viel Aufmerksamkeit war jedenfalls für das Buch damals nicht zu gewinnen. Es war die Zeit der Hochflut des Naturalismus, und Ardinghello und Naturalismus paßten schlecht zusammen. Ganz abgesehen von dem selbstverständlich ungeheuern Unterschied in Stil und Darstellung, redet aus ihm auch eine diametral entgegengesetzte Weltanschauung.
Der Naturalismus war im Grund ein verdächtiger Apostel der Natur, von der er seinen Namen hatte. Seine Grundstimmung war Pessimismus. Pessimismus aber ist gleichbedeutend mit Verneinung. Der Pessimismus verneint eingestandenermaßen die Schönheit, d. h. die Jugend, die Kraft, die Gesundheit, d. h. das Leben überhaupt. Er sah überall den Tod, d. h. Laster, Sünde, Häßlichkeit, Krankheit, Sterben.
Naive Gemüter konnten zur Zeit des Naturalismus die Nana als das hohe Lied der Sinnlichkeit preisen, auch als das hohe Lied der Lust, der Schönheit u. s. w. Wir begreifen diesen Irrtum heute schon gar nicht mehr. Für uns ist die Nana ein Buch, von dem ein Verwesungsgeruch ausgeht der schauerlichsten Art, das von Spitalluft durchtränkt ist, wie kein zweites Buch der Weltliteratur und wo – was schlimmer ist – Sinnlichkeit und Laster fortwährend als Synonyme auftreten. Weiter kann man den Pessimismus, weiter kann man die Verneinung nicht treiben. Kein Mönch des Mittelalters hätte abschreckendere, gräßlichere Bilder ersinnen können, um vor der Sinnlichkeit zu warnen, um die Natur zu verdächtigen, um die Schönheit zu verteufeln. Und diesen Zola hat man verstanden als einen Apostel der Natur.
Ein Apostel der Natur, ein Apostel der Sinne, ein Apostel der Schönheit, das ist Wilhelm Heinse. Das ewige Thema bei Zola ist: Sünde, Laster, Krankheit, Sterben. Aus der Häßlichkeit und Perversität kommt man bei ihm nicht heraus. Damit verführt er aber nicht zum Leben, damit schreckt er davon ab. Und unbewußt will das ja Zolas unbewußter Pessimismus. Und darum ist allerdings Zola – wenn es die Leute der »lex Heinze« auch nicht einsehen – ein Moralist im Sinne des Christentums.
Das Thema des Ardinghello ist: Jugend, Schönheit, Gesundheit, Kraft. Ein Jubel geht durch das Buch, eine Lust am Leben, eine hohe Freude der Sinne, ein berauschender Genuß der Schönheit; man wird unwillkürlich davon gepackt, wird mit hineingerissen in die dionysische Stimmung, das Buch wirkt ansteckend. Das Buch verführt zum Leben. Und darum ist allerdings Heinse – dies begreifen die Leute der »lex Heinze« – im Sinne des Christentums ein Immoralist.
Diese Denunziation will ich gern auf mich nehmen. Ich füge gleich noch eine zweite hinzu, indem ich sage: Heinse, der erzbischöfliche, churfürstliche Vorleser, war ein Antichrist reinsten Wassers. Das ist nun freilich auch keine Empfehlung in einer Zeit, wo alles, was mit dem Staat ganz- oder halb-offiziell zusammenhängt, sich wie ein Mann gegen Nietzsche erheben zu müssen glaubte, weil er, ganz offen, kein Christ sein wollte. Zur Zeit Heinses gab es in Deutschland tausendmal mehr fromme ehrliche Christen als heute. Aber diese ehrlichen frommen Christen hatten noch nicht, wie die Heuchelhelden von heute, den Gendarm in ihrem Dienst. Das ist der Unterschied. Damals war man Christ, wenn man es war, weil man nicht anders konnte; heute ist man es aus Furcht vor dem christlichen Gendarmen – das Wort natürlich symbolisch verstanden. Das ist die Furcht des Herrn von heute.
»Die christliche Religion«, meint aber Heinse, »ist eine Mönchs- und Nonnenreligion, die von der Wurzel aus nicht dazu gemacht ist, je allgemein zu werden, so wenig je Quäker und Anabaptisten allgemein werden können. Sie lehrt einen Abscheu vor allen sinnlichen Vergnügungen und Weltgeschäften, die Menschen sollen nie hier, sondern immer jenseits des Grabes zuhause sein«. Und die Moral des Christentums findet Heinse »so erhaben, daß man wirklich kein Fleisch und Blut und kein Bedürfnis, sich zu bewegen und sich mit andern zu beschäftigen, dabei haben darf«.
Aber eigentlich widersprach alle Moral, so wie sie gelehrt wurde, Heinses psychologischen Ueberzeugungen. Als zweiundzwanzigjähriger Student schrieb er an Gleim: »Das einzige Mittel wider den Menschenhaß ist die Lehre von der Notwendigkeit der Gedanken und folglich auch der Handlungen ... ich habe das Rezept; davon in einem der heftigsten Anfälle von dieser Krankheit mitten unter einem Donnerwetter erfunden – erfunden – denn ich habe es noch niemals gelesen ...« Und wirklich, es war ein eminent neuer Gedanke, der sich erst heute allmählich in den Köpfen Bahn bricht. Heinses Erfindung ist wirklich erstaunlich.
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Es versteht sich jedoch von selbst, daß Heinse, wie man im damaligen Stil sich ausdrückte, kein Feind der Tugend war oder gar ein Freund und Prediger des Lasters. Im Gegenteil. Er haßte das Laster, wie er die Natur liebte, wie er die Schönheit, wie er die Gesundheit, wie er die hohe Freude am Leben, wie er die Kraft, die schaffende, schöpferische, und wie er als Ausfluß von dem allem Kampflust und Wagemut liebt und über alles erhebt.
Das Laster ist für ihn das Gegenteil von dem allem, ist für ihn Unnatur und Perversität, ist für ihn Ruhe, Faulheit, Schwäche, ist für ihn Krankheit, Lebensüberdruß und die feige Todesfurcht des Dekadenten. Die Moral des Judenlykurgus bekämpft er aber »als barbarische Feindin des Lebendigen«.
Er teilt übrigens seine Moral mit andern berühmten »Immoralisten«. So gehört bei ihm zur Schwäche auch das Mitleid und er meint: »Ein Miltiades, Themistokles, ein Sulla und Cäsar können bei Gegenständen Vergnügen empfinden, die bei einem Schwachen Abscheu erregen und ihn martern, weil er nicht die große Selbständigkeit hat, die Leiden anderer außer sich zu fühlen, ihre Natur und Eigenschaften wie jene mit ihren Kräften zu ergründen und zu erkennen, die Sphäre seines Geistes dabei zu erweitern und zugleich über alles dies emporzuragen, ohne sich als Teil damit zu vermischen und selbst zu leiden. Griechen und Römer vergnügte vieles, wovor wir fromm moralischen Seelen Abscheu haben.« Und er zitiert den merkwürdigen Ausspruch eines Alten, daß man sich über das Leiden anderer »erbarmen«, daß man aber nicht »mitleiden« solle.
Wie ihm das Mitleid Schwäche bedeutet, so empfindet er die Verleumder des Krieges als Verleumder des Lebens selber. Er meint: »Die höchste Weisheit der Schöpfung ist vielleicht, daß alles in der Natur seine Feinde hat; dies regt das Leben auf. Und außer dem Krieg gibt es nichts für ihn, »was den Menschen so zur Vollkommenheit treibt, deren er fähig ist«.
Wir sehen hier Heinse in voller Uebereinstimmung mit zwei berühmten modernen Immoralisten, d. h. mit zwei Geistern, die sich im schärfsten Widerspruch zu ihrer Zeitanschauung befanden, mit Stendhal und Nietzsche. Aber alle drei haben in diesem Punkt einmal auch sehr bedeutende Christen auf ihrer Seite. Der fromme Moltke und der nicht weniger fromme John Ruskin sind hier mit den Immoralisten ein Herz und eine Seele. Auch diese beiden Männer müssen somit von den Friedensaposteln, wenn sie ehrlich sein wollen, als unmoralisch empfunden werden.
Wir aber freuen uns, konstatieren zu können, daß selbst die ernstesten und aufrichtigsten Bekenner des Christentums gelegentlich eine Seite aufweisen, wo sie dem Christentum direkt ins Gesicht schlagen, ohne es auch nur zu merken, und uns also den Beweis liefern, daß die moralischen Wertungen im christlich-demokratischen Sinn ihren Haken haben, selbst bei guten germanischen Christen – von römischen gar nicht zu reden.
Aber nicht nur im Sinn des Christentums, auch gegenüber der Religion aller modernen Nationalökonomen ist Heinse, wie Stendhal und Nietzsche, ein Immoralist. Krämertugenden sind für ihn keine Tugend. »Florenz macht einen starken Kontrast mit Rom,« schreibt er, »alles regt und bewegt sich, und läuft und rennt und arbeitet ... Der Römer überhaupt hat gewiß einen höheren Charakter. Die Politiker mögen die menschlichen Ameisenhaufen rühmen und preisen, so sehr sie wollen, und diese selbst auf ihre Arbeitsamkeit sich noch so viel einbilden: Maul und Magen, denn dieser wegen geschieht's doch, ist wahrlich nicht, was den Menschen über das Vieh setzt!« Ardinghello findet es darum bewunderungswürdig, daß Romulus, »der hohe Geist, aus gutem Grund jedem Mitgenossen seiner Republik die niederen Handwerke verbot«.
Von der sokratischen Philosophie sagt Heinse, sie habe den Fehler, »daß sie alles auf den Nebenmenschen und die Gesetze des Staates bezieht und nichts an und für sich betrachtet«. Und er entrüstet sich höchlichst über den Weisen mit dem Schierlingsbecher, nach dessen Lehre »zuletzt nur der Löwe gut und schön wäre, der seinen Atheniensen Hasen finge«.
Die Menge hat für Ardinghello nur den Zweck, »die alleredelsten Gewächse und Herrlichkeiten der Natur, die ganz außerordentlichen Menschen, derer bei allen Nationen äußerst wenige sind«, aus sich zu erzeugen.
Das klingt schon wie die Lehre vom Uebermenschen. Schon daraus mag jeder sich selber sagen, daß dieser »Ardinghello« kein Buch ist, in dem eine weichliche, schlaffe, feige Moral gepredigt wird, trotz aller wollüstigen Szenen darin. Der Held hat einen Begriff vom Glück, vor dem die rigorosesten Moralisten verstummen müssen.
Zwar ist er auch ein schwacher Mensch. »Wir sind nur Funken,« philosophiert er, »unseres Schicksals ungewiß, die in dem Unermeßlichen herumstäuben. Wohl dem, der wie ein Schmetterling sich an den Blumen ergötzt, die er vor sich findet! Denn hat der, welcher mit Gefahren kämpfte und sein Ziel errang, am Ende etwas Besseres? Genuß jedes Augenblickes, fern von Vergangenheit und Zukunft, versetzt uns unter die Götter. Was hat der Mensch und jedes Wesen mehr als die Gegenwart.«
Doch er schämt sich schnell dieser weichlichen Philosophie, und er erhebt sich zu einem wahrhaft heroischen Begriff des Glückes. »Weg mit dieser Mückenweisheit!« ruft er, »unser Geist hat mehr Tiefe. Nur die Kraft ist selig, die Widerstand nach ihrem Maß überwältigt, und ihn nach ihrem Wesen ordnet, sei's auch unter Pein und Leiden. Dem Herkules, als er den Antäus bezwang, rannen die Schweißtropfen süßer hervor aus seiner Stirn, als ihm je die Umarmungen einer schwachen, gefälligen Dirne waren.«
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So viel über die ethische Seite des Ardinghello. Seine ästhetische ist nicht weniger bedeutend.
Wenn man nämlich Aesthetik als Theorie versteht. Eine andere Frage ist der ästhetische Wert des Buches an sich. Das Buch will ja sozusagen ein Roman sein. Aber gerade in diesem Sinn, meine ich, sollte man es nicht ernst nehmen. Vielmehr sollte man die Romanform, und das ist gewiß auch die Absicht des Verfassers, als eine Art Maskerade auffassen und darüber wegsehen. Als Roman beurteilt, käme es zu schlecht weg. Und zwar nicht nur als Ganzes, wo die arme Handlung unter der Masse von Schilderung, Betrachtung und Reflexion fast verschwindet, sondern auch in den einzelnen erzählenden Teilen selbst.
Heinse ist kein Erzählertalent. Er ist es so wenig wie Klinger und sein Freund Jakobi. War es eigentlich Wieland? Ich kenne ihn zu wenig. Und Goethe selber im engeren Sinne des Wortes? Ich habe persönlich noch niemand kennen gelernt, der von seinen Novellen begeistert gewesen wäre.
Unser deutsches XVIII. Jahrhundert in seiner zweiten Hälfte ist, von den Großen ganz abgesehen, reich an geistreichen, man sagte damals genialen Schriftstellern; aber keiner unter ihnen ist ein anmutiger, fesselnder Erzähler – wir können ja heute keinen mehr als solchen genießen – keiner ist darunter, der etwa dem geschmähten Casanova das Wasser reichen dürfte, oder auch nur dem Verfasser des »Faublas«, der bei uns kaum dem Namen nach bekannt ist und dessen graziöser Leichtigkeit und immer sprudelnder Erfindungsfülle auch der wie einem Zauber unterliegen wird, der den Mann aus andern Gründen vielleicht verabscheuen muß.
Heinse ist, um ein guter Erzähler zu sein, viel zu aufgeregt, viel zu lyrisch, viel zu dithyrambisch.
Aber er ist, vielleicht aus denselben Gründen, ein guter Schilderer. Seine Naturschilderungen und Landschaftsbilder aus Italien sind die ersten dieser Art. Hier ist Goethe gar nicht mit ihm zu vergleichen. Goethe hat im Landschaftsbild nicht nur als »Maler«, sondern auch als »Dichter« sich fast immer mit zeichnerischen Umrissen begnügt. Heinse hat als Erster farbig gemalt. Seine Schilderungen sind eine Antizipation der Romantik auf diesem Gebiete, insofern nämlich die Romantik es war, die später ausschließlich diejenigen Seiten der Natur als poetisch empfand und mit einseitiger Liebe schilderte, die wir heute nach ihrem Namen bezeichnen und darnach kurzweg romantisch heißen.
Noch bedeutender und eigenartiger ist Heinse in seinen Beschreibungen von Statuen und Gemälden. Sie sind selber kleine Kunstwerke. Ja, sie sind bis heute unerreicht in der deutschen Literatur. Auch werden sie rückhaltlos allgemein bewundert.
Heinses hohe Sinnlichkeit feiert hier ihre Triumphe. Sie gewinnt der deutschen Sprache Fähigkeiten ab, die ihr niemand zugetraut hätte auf diesem Gebiet. Er hat eine Kraft der Veranschaulichung von sonst kaum genannten Dingen, daß man nur staunen kann. Wie er eine Venus von Titian beschreibt oder eine antike Statue, so etwas war in deutscher Sprache noch nicht dagewesen und ist auch bis heute nicht wieder erreicht worden.
Und diesen Beschreibungen von Kunstwerken entsprechen seine Schilderungen der weiblichen Schönheit. Er macht dabei nicht Halt vor den Kleidern: aber er wirkt dennoch nie lüstern. Das macht, seine Sinnlichkeit hat keine Spur von bösem Gewissen. Sie ist naiv, wie die der Alten. Ich glaube, Wieland und namentlich seine meisten Schüler kämen, in diesem Punkt mit Heinse verglichen, schlecht weg.
Der seinerzeit viel bewunderte Thümmel z. B. erzählt die Geschichte des Klärchens von Avignon fast in ekelhaft lüsterner Weise, mit einem geradezu schmutzigen Schmunzeln. Man muß sich daran erinnern, um Heinses keusche Poesie der Wollust und unbefangenen Schönheitskult in gehörigem Abstand davon zu empfinden und zu würdigen.
Heinses rein künstlerische Sinnlichkeit – wo das Wort eine ganz andere Bedeutung hat – steht ebenfalls hoch über der Wielands. Dessen wollüstige Schilderungen, z. B. im Oberon, empfinden wir als Phantasien, als nichts weiter; Heinses Darstellungen dieser Art aber wirken auf uns wie Anschauungen.
Der Unterschied ist ungeheuer.
Und noch etwas anderes: Bei Wieland kriegt man den Eindruck nicht los, als ob der Autor, selber kühl bis ans Herz hinan, sich nur für den Leser in Unkosten stürze, nur für den Leser die wollüstige Situation ausmale. Diese Absicht merkt man und wird verstimmt. Es kann vorkommen, daß man vielleicht ausruft: für was hält mich dieser Dichter?
Heinse dagegen (oder Ardinghello) spricht wie im Rausch der Sinne, spricht wie mit sich allein, wie in notwendig unwillkürlichen Erinnerungsgenüssen des Erlebten, ohne Gedanken an einen Leser, ohne Absicht auf einen solchen. Er kann einfach nicht anders. Seine Natur selber spricht. Die Wirkung davon ist darum einesteils unmittelbarer und andernteils keuscher und unschuldiger, weil sozusagen unbewußt und ungewollt.
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Also der Ardinghello ist bedeutend durch Schilderung und Beschreibung mehr als durch Erzählung. Er ist es aber vielleicht noch in höherm Grad durch seinen philosophischen Gehalt. Seine Moralphilosophie habe ich nur beiläufig charakterisiert, etwas näher soll hier auf seine Aesthetik eingegangen werden.
Entscheidend für Heinses Entwicklung in dieser Richtung war Düsseldorf. Fünfundzwanzig Jahre war er alt, als er, von Jakobi für die »Iris« geworben, dort hinkam.
Er wurde hier mit einem Schlag reif. Die Düsseldorfer Galerie tat Wunder an ihm. Bis in seinen Briefstil hinein merkt man die Wirkung. Vorher war er Wieland-Schüler, lebend, was die Schönheit anlangt, in den vagen Regionen des Traumes und der Phantasie. Nun packt ihn plötzlich die bildende Kunst, und deren immer gegenwärtige Anschauung läßt ihn, schon im privaten Briefwechsel, einen merklichen Sprung über Gleim und Wieland hinaus tun. Von da an beherrscht, in höherm Grad als bei allen gleichzeitigen Schriftstellern – Goethe ausgenommen – die konkrete Anschaulichkeit seine Sprache und seinen Stil. Seine Bilderbeschreibungen, in Briefen an Gleim, erregen jetzt schon einen förmlichen Aufruhr in deutschen Kunst- und Literaturkreisen. Sie werden, was sie in der Tat waren, als etwas durchaus Neues und Unerhörtes empfunden.
Folgte dann sein Brief über Rubens, der uns noch heut in Erstaunen versetzt und den man um so mehr bewundern wird, je näher man ihn mit gattungsverwandter gleichzeitiger Literatur oder auch späterer, etwa Wackenroders Herzensergießungen, zu vergleichen sich die Mühe nimmt.
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Heinses ästhetische Anschauungen stehen mit seinen ethischen in innigem und bedingendem Zusammenhang. Der Genuß von Kunst und Schönheit besteht für ihn nicht im interessenlosen Betrachten mit sozusagen ausgeschalteten Trieben und Begierden. So verstanden ist l'art pour l'art für ihn ein Unsinn.
Die Kunst ist ihm direkte Stimulanz des Lebens. »Glaubt indessen nicht,« ruft er aus, »daß ich mich aus Muße und Langeweile verliebe; ich beschäftige mich gerade mit den ersten Werken der bildenden Kunst, der alten und der neuern: allein das Leben selbst triumphiert über alles, und gewinnt im Gegenteil dadurch noch mehr Stärke.«
»Schönheit ist Glückverheißung,« meint Stendhal, »Schönheit ist die freieste Wohnung der Seelen,« sagt Heinse. »Bei einer gotischen Moral,« drückt er sich deutlicher aus, »kann keine andere als gotische Kunst stattfinden.« »So lange nicht ein Sokrates mit seiner Schule am hellen Tag über die Straße zu einer neuen reizenden Buhlerin ziehen darf, um ihre Schönheit in Augenschein zu nehmen, wird es nicht anders werden.«
Was sagen dazu gewisse zeitungslärmige Gegner (nicht Anhänger) der lex Heinze, die bei aller Gegnerschaft (vielleicht ihren Abonnenten zuliebe), fortwährend die drolligsten Vorbehalte machen zu müssen glauben der Kunst gegenüber, und sich dabei gebärden, als ob sie nicht wüßten, wozu die Jungfrau in Schönheit blüht und die Blume des Feldes, und was der Farbenschmelz bedeutet auf den Flügeln des Schmetterlings, und warum der Vogel in hellern Farben prangt im Frühling als im Winter.
»Die schulgerechten Antiquare«, wußte schon Heinse, »sprechen berauscht von der Venus des Praxiteles und seinem Liebesgott, und mit Abscheu vor Phrynen und Bathyllen, wie die Toren, die nicht wissen, was sie wollen. Freilich kommt bei der geringsten Untersuchung das geheuchelte konventionelle Geschwätz zum Vorschein.«
Wie unsere Sitten, so sind unsere Kleider sein Schmerz. »Bei unserer Tracht,« klagt er, »sieht man meistens bloß den Schneider, und wenig oder nichts von der eigenen Art des Menschen zu handeln und sich zu bewegen, und den Formen seines Gewächses; und alle Schönheit erliegt und versinkt unter den Falten und Wülsten: oder wird im Gegenteil steif gepreßt und geschnürt und mit eckichten, häßlichen Lappen ohne Zweck behangen.« Diese Art, uns zu kleiden, empfindet Heinse geradezu als ein unübersteigliches Hindernis zu einer großen Kunst aus erster Hand. Besonders bezweifelt er, daß wir in der Kunst, Malerei und Bildnerei das »Nackte« haben können, »das wahrscheinlich und natürlich, nicht erkünstelt und bloß erlernter, fremder Kram wäre.«
Nun ist freilich seit Heinse genug Nacktes bei uns gemeißelt und gemalt worden. Ob aber Heinse damit widerlegt ist?
Und längst nicht mehr zutreffend ist natürlich, was Heinse über deutsche Kunstzustände äußert: »Die Produkte der Kunst«, meint er, »müssen in Deutschland wie das Unkraut wachsen. Das, was man bei uns gute Gesellschaft nennt, der Hof und der Adel, und die Gelehrten selbst, die sie alle wie Frühlingssonne erzielen und zur Reife bringen sollten, bekümmert sich wenig um sie, betrachtet sie als unnütz und bloßen Zeitvertreib. Es scheint, daß eine Grenzscheide für Poesie und alle bildenden Künste gezogen wäre, wo die Sprachen aufhören, die von der lateinischen abstammen. Klima und Regierung ist ihnen da zuwider.«
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Heinses Kunsturteil im einzelnen ist auch meistens sehr interessant. Er traut sich eins zu. Er ist nicht in Uebereinstimmung mit gewissen heutigen Künstlern, die gegen die Kunstkritik schreien, ohne die sie doch nicht sein möchten. Er verachtet »die Elenden, die von einem Manne von Geist und Welt verlangen, daß er ein Schmierer, wie sie, sein soll, wenn er über ein Gemälde urteilen will«.
Dem Akademismus und sich antik dünkenden hohlen Formalismus, der damals in Deutschland aufkam (und den Goethe eher unterstützt als bekämpft hat), tritt Heinse mit einem schönen Wort entgegen. »Jede Form ist individuell, lehrt Ardinghello, und es gibt keine abstrakte; eine bloß ideale Menschengestalt läßt sich weder von Mann und Weib, noch Kind und Greis denken. Eine junge Aspasia oder Phryne läßt sich bis zur Liebesgöttin oder Pallas erheben, wenn man die gehörigen Züge mit voller Phantasie in ihre Bildungen zaubert: aber ein abstraktes, bloß vollkommenes Weib, das von keinem Klima, keiner Volkssitte etwas an sich hätte, ist und bleibt meiner Meinung nach ein Hirngespinst.«
Schon in einem Brief an Gleim aus Düsseldorf, lang vor seiner italienischen Reise, äußert sich Heinse sehr entschieden im antiwinckelmannschen Sinn. »Das voreilige und sinnlose Abreißen der Antiken« ist ihm die Hauptquelle, woraus die anderen Uebel entspringen. »Fürs erste gewöhnt sich der Knabe an eine Gestalt und Proportion, die er im wirklichen Leben nie wiederfindet, weswegen er dann alles verachtet und lästert, was unser Herrgott gemacht hat ...«
Man muß die Zeit bedenken, in der diese Sätze geschrieben wurden, um ihre ganz erstaunliche Originalität und Selbständigkeit zu fühlen.
Heinses Sprache nimmt wiederholt den Ton der Entrüstung an. »Solch unerträglich leere Gesichter und Gestalten,« ruft er aus, »nennen die armseligen Schelme, die weiter nichts als ihr Handwerk nach Gipsen erlernt haben und treiben, wahre hohe Kunst; und wollen mit Verachtung auf die Kernmenschen herunterschauen, die die Schönheiten, welche in ihrem Jahrhundert aufblühten, mit lebendigem Herzen in sich erbeutet haben.«
Ebenso bedeutend ist seine Aeußerung über das Häßliche in der Kunst: »Soll der Künstler,« fragt er, »das Laster schön darstellen, und ist er deswegen ein Kotmaler, wenn er es häßlich darstellt? Häßlichkeit verändert hier seinen Namen und wird zur Schönheit der Kunst. Der Kunst dieses nehmen wollen, heißt sie zum schalsten Zeitvertreib machen.« Auch hier, scheint uns, steht Heinse in hohen Kunstbegriffen und begeisterter Ueberzeugung nicht hinter Goethe zurück.
Und weit übertrifft er ihn mit seiner Einsicht in das eigentliche Wesen der Malerei. Er stand damit als Deutscher damals wohl einzig da. Und er findet Worte, die wie von heute klingen, von denen niemand glauben würde, daß sie im Zeitalter Winckelmanns und Carstens geschrieben sind.
Das Hauptstück der Malerei ist nach ihm die Wahrheit der Farbe, so wie die Zeichnung der wesentliche Teil der Zeichnung. »Malen ist Malen: und Zeichnen Zeichnen. Ohne Wahrheit der Farbe kann keine Malerei bestehen: eher aber ohne Zeichnung! Das Zeichnen ist bloß ein notwendiges Uebel, die Proportionen leicht zu finden; die Farbe das Ziel, Anfang und Ende der Kunst.« Als das schwierigste und höchste in der Malerei (auf deren materiellen Seite) erkürt er die Kunst, »das Lebendige wiederzugeben mit allen den feinen Tinten in ihrer Vermischung und schwindenden Umrissen, die keine bloße Linie faßt.« Davor hat er Respekt. »Da gehört Auge und Gefühl dazu, das die Natur nur wenigen gab.«
Einsichten, die im XIX. Jahrhundert erst mühsam und langsam wiedergewonnen werden mußten, bringt Heinse mit einer Klarheit und Schönheit zum Ausdruck, die mit Bewunderung erfüllt: »Die schönsten Bilder sind weiter nichts, als ein geistig Licht in die Seele, die sie aufheitern, und allerlei unbestimmte süße Gefühle in ihr erregen, wie ein reiner vollkommener Akkord auf einem wohlklingenden Instrumente. Und solche Schönheit ist das eigentliche Wesen der bildenden Kunst, und keine Handlung, die die Poesie weit wahrer und lebendiger vorstellt.«
In demselben Sinn und nicht ohne Ueberlegenheitsgefühl verteidigt er die Landschaftsmalerei gegen Winckelmann in einem Brief an Gleim. Er findet den schwachen und allgemeinen Grund, den Winckelmann gegen die Landschaftsmalerei anführt, »daß man nichts daraus lernen könne, sollte man von einem Manne nicht erwarten, der sich so lange mit der Kunst beschäftigte.«
»Die Seele der Kunst ist Schönheit und weder Lehre noch Warnung, und die vielen jugendlichen Gestalten, die die Griechen hervorbrachten, wobei sie gewiß weder an Lehre noch Warnung dachten, waren wahrlich nicht ihr Schlechtestes.«
Das glauben wir allerdings auch.