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Als brauchte man eine neue Sprache,
um etwas Neues zu sagen!
Adolf Hildebrand.
Raffaels bestes Werk, in Farbe wie in Komposition, ist wohl seine »Disputa« in der Stanza della Segnatura. Und dieses Werk wird von Tausenden jahraus jahrein mit dem Rücken angesehen. Die Leute wissen nicht recht, was sie sich dabei denken sollen; sie halten sich darum an sein Gegenüber, die Schule von Athen. Hier können sie ihrer Bildung froh werden. Hier verstehen sie den Sinn. Hier können sie sich begeistern.
Wie diese Tausende und Abertausende, oder doch nicht viel anders, sind bis jetzt auch die meisten Gelehrten, Kunstgelehrten nämlich, der Kunst gegenübergestanden. Sie hatten sich von der Schule her die Regel gemerkt: »was man nicht deklinieren kann, das sieht man für ein Neutrum an«, und was sie nicht gegenständlich interessierte, kam schlecht bei ihnen weg.
Doch nicht nur der Gegenstand des Gemalten war diesen Leuten wichtig. Fast noch mehr Wert legten sie manchmal auf – die Gesinnung, politische, moralische, religiöse, die sich im Gegenstand aussprach. Heine, in seinen berühmten »Salons«, weiß über ein Bild von Delacroix nichts zu sagen, als revolutionsgeschichtliche Betrachtungen daran zu knüpfen; er trägt überhaupt »Politik« in die Malerei, wo er nur kann. Und vor allem trägt er Witz hinein. Der selige Ludwig Pfau, der ganze Bände über Kunst geschrieben hat, war ein Republikaner, und so galt David ihm als einer der größten Maler aller Zeiten.
Ein solcher Apostel politischer Freiheit, ein solcher Jakobiner im Schlafrock stellt an die Kunst Forderungen, die mit denen des famosen Kölner Kongresses, so anders sie in der Farbe erscheinen, im letzten Grund doch auf eins hinauslaufen.
Die Zahl dieser Apostel ist groß. Ihre Glaubensbekenntnisse sind unendlich verschieden. Sie sind aber alle, im Gegensatz zum Apostel Paulus, Gesetzesmenschen. Sie liegen vor allen möglichen Gesetzen auf den Knien und manchmal auf dem Bauche. Aber sie sind alle blind für die Hoheit, Reinheit, Heiligkeit und Majestät des einen Gesetzes: des ästhetischen. Und kein anderes Gesetz ist ihnen zu schuftig, zu banausisch; sie ziehen es, wenn es nicht anders geht, an den Haaren herbei, das ästhetische Gesetz damit zu rektifizieren, zu reinigen, zu heiligen – o die Pharisäer ... ja, ihm erst Sinn und Inhalt zu geben. Nur von Zeit zu Zeit entsteht unter ihnen ein großer Ehrlicher, ein Fanatiker und Heiliger großen Stils, und spricht es laut und offen aus, was die andern verdrückt tuscheln: daß alle Reinigung und Heiligung und Rektifizierung verlorene Mühe bleiben muß gegenüber der ästhetischen Forderung als der Sünde cat exochen, dem Bösen an sich, dem bösen Feind wie er im Buch steht, dem Buch an sich, der Bibel: P. J. Proudhon und Leo Tolstoi.
Doch nicht diese großen Hasser und Verleumder der ästhetischen Forderung sind das große Uebel. Das große Uebel sind, wie immer, die vielen Kleinen, die nicht hassen, sondern lieben, aber, weil sie blind sind, sich komisch vergreifen in ihrer Liebe, die nicht verleumden, sondern loben, und wie loben! etwa am Dreieck die Farbe ... und wovon die einen behaupten, das Dreieck müsse rot sein, und die andern, es müsse blau sein.
Diese sind das große Uebel – der Kunstschreiberei. Und, ach, sie sind noch immer die große Mehrzahl derer, die sich schriftlich – oder mündlich – mit Kunst befassen. Ja unter den andern, der wenig zahlreichen Minderheit, gestehen wir es uns nur, sind wieder noch weniger, die nicht wenigstens stellenweise in die alte Erbsünde zurückfallen. Wir selber haben kein reines Gewissen.
* * *
Aber – man kann auch in das entgegengesetzte Uebel verfallen. Diese Gefahr liegt so nahe nicht wie die andere, sie ist auch bei weitem nicht so verhängnisvoll, sie wird ins Große kaum Schaden stiften; sie ist wahrhaftig nicht banal: eine Gefahr ist sie deswegen doch.
Sie ist auch nicht so leicht zu definieren wie die andere, die alltägliche. Sie liegt aber, wenn ich es mit einem Wort sagen soll, in der allzu einseitigen Ueberschätzung des Handwerks in der künstlerischen Aeußerung. Die Betrachtung der Kunst rein als sublimiertes Handwerk, die Schätzung eines Kunstwerks nur nach der Gesteigertheit und Verfeinertheit der Ausdrucksmittel, die Schätzung der im Werk liegenden Schönheit nur nach dem Grad und nicht nach der Art und unbekümmert darum, ob Enge oder Weite in ihr ist, ob Kleinheit und Kleinlichkeit oder Größe, ob sie uns nieder blicken läßt oder hoch, ob sie, im Bild gesprochen, irdisch ist oder himmlisch, ob sie uns im Genuß bloß unfruchtbar berührt oder sich uns befruchtend in die Seele senkt und Welten in uns zeugt, kurz: die nicht genügende Unterscheidung von Amateurkunst und großer Kunst, die Ablösung des professorlichen Moralphilistenums durch ein ästhetisches Dandytum, den Begriff »künstlerisch« so zu färben, daß er in einer bedenklichen Nuance von »artistisch« zu schillern droht, das Nichtbeachten, um es gerade heraus zu sagen, des »Poeten« im Künstler, das ist die andere Gefahr, die Aestheten-Gefahr, deren Bazillen von der Atmosphäre gewisser Werkstätten und Liebhaberkabinette fast ebenso unzertrennlich sind, wie die großen weißen Maden vom überreifen, übermürben, überpikanten Käse.
Solche Käse sind notwendig alt, und jene genannten Mikroben wachsen auch nur in alten Kulturen mit Keimen der Dekadenz. Sie sind charakteristisch für das heutige Frankreich. Von dort aus sind einige Spuren (oder Sporen) davon in ein herrliches deutsches Buch übergegangen, das, trotz dieser Sporen, oder vielleicht gerade ihretwegen? wohl die Mission haben könnte, ein Salz und Sauerteig zu werden in der deutschliterarischen Behandlungsweise der Kunst und Kunstgeschichte.
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Denn dieses Buch » Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst«. Vergleichende Betrachtung der bildenden Künste, als Beitrag zu einer neuen Aesthetik. Von Julius Meier-Gräfe. Stuttgart, Verlag Julius Hoffmann hält sich himmelweit entfernt sowohl von der laienhaften, offen oder versteckt moralisierend-philosophierenden, wie von der impotent-unfruchtbaren sogenannten wissenschaftlichen Art. Das ist sein Verdienst, das nicht unterschätzt werden soll. Ein Gelehrter ist sein Verfasser nicht, wenigstens kein zünftiger, aber mancher Zunftstolze, bei Gott, wird sich pitoyable neben ihm ausnehmen.
Nein, Schulluft weht oder vielmehr steckt keine in dem Buch. Eher riecht's darin nach Werkstatt. Manchmal sogar zu viel. Manchmal riecht's sogar nach Kunsthändlerkabinetten. An welches Uebel in dieser Richtung das Buch wenigstens streift, habe ich angedeutet. Hier ein Beispiel:
»Nichts wie der Umstand, der Art von Vollkommenheit, wie sie einem begnadeten Auge erscheint,– und sei sie nichts als die Darstellung einer Nadelbüchse –, so nahe zu kommen, als der geschulten Kraft erlaubt ist, vermag den betrachteten Geist in die Wolken zu erheben. Der eine genießt im Olymp, der andere ergießt sich vor Freude in der Natur, der dritte bleibt auf seinem Stuhl in Betrachtung versunken, das ist eine reine Lokalfrage ...«
Ich bitte um Entschuldigung, eine Nadelbüchse und Wolken und Olymp und – –
Um Bergeshöhlen mit Geistern schweben!
Man wird mich nicht mißverstehen. Ich nehme die Nadelbüchse nicht wörtlich, sondern wie sie gemeint ist. Aber bei Gott, für mich liegen hier andere Fragen als lokale. Auch den Stil kann ich an dieser Stelle nicht loben, so sehr ich denselben sonst durchgehends – oder fast durchgehends – bewundere, als außerordentlich frisch und lebendig und eindringlich, den Leser packend wie gut gesprochenes Wort, auch präzis, jeder Schwierigkeit gewachsen und nur selten, von der eigenen Leichtigkeit fortgerissen, den festen Boden des solid Gedachten unter den Füßen verlierend.
Noch eine Stelle: »Man begreift einigermaßen den Aerger empfindlicher Gemüter über seine (Monets) Ausstellungen in dem großen Saal bei George Petit, wo zuweilen einige Dutzend Bilder genau denselben Ausschnitt eines und desselben Baumzweigs auf einer und derselben Wiese nebeneinander zeigen und sich nur durch Nuancen in der Beleuchtung unterscheiden. Diese Kollektionen sehen auf den ersten Blick wie große Musterkarten für Farben aus und mögen im Grunde nichts anderes sein. Ich habe Leute noch wertlosere Dinge mit Leidenschaft sammeln gesehen ...«
Ist das ein Argument, dieser letzte Satz? Warum sollte man sie nicht sammeln, diese Lernbemühungen eines Ringenden, diese halb physikalischen, halb künstlerischen Experimente, und sie als solche schätzen und hochhalten? Aber muß man, wenn man in dieser Schätzung auch noch so weit geht, sie nun deswegen als Werke großer Kunst aufstellen oder sie gar als letzten Maßstab solcher proklamieren, an dem gemessen dann ein Schwind zum lallenden Kinde, ein Thoma zum unbeholfenen Bauernbuben, und ein Böcklin zum Schweizer Barbar wird?
Diese Konsequenz zieht Meier-Gräfe nicht in bezug auf Schwind, über dessen liebenswürdige Kunst er liebenswürdige Worte sagt, aber in bezug auf Thoma und Böcklin.
Nicht die Dummen nur, denke ich, werden den Kopf schütteln, wenn sie lesen, daß Meier-Gräfe unsern Böcklin einen Realisten oder gar Naturalisten, und den Max Liebermann einen Idealisten nennt. Dennoch möge jeder die Begründung dieser Urteile mehr als einmal lesen und ernstlich seinem Nachdenken unterziehen. Es steckt viel darin. Es ist gut gesagt, wenn es auch den meisten Deutschen spanisch oder meinetwegen japanisch vorkommen wird.
Des Autors Urteile über Thoma und Böcklin werden auf viele ehrliche Enthusiasten wie persönliche Beleidigungen wirken. Das kann sachlich nicht schaden. Jedem Enthusiasmus tut es gut, wenn er von Zeit zu Zeit zur Besinnung gerufen wird.
Anknüpfend an gewisse Strandbilder Monets schreibt Gräfe; »Die Wucht, mit der die Brandung an den roten Felsenriffen mit gleich Wogenschlägen gewaltigen Pinselhieben – (auch wieder kein einwandsfreier Stil) – gemalt ist, singt ein stärkeres Lied von der Größe des Elements als die dicksten Tritonen des Schweizer Meisters; und der ungeheure Horizont in anderen erschreckend phantasielosen Bildern, die nichts wie Wasserfläche geben, wirkt bedeutender als alle die berühmten Meeresidyllen, mit denen sich die deutschen Museen in den letzten Jahrzehnten gefüllt haben. Gute Malerei hat nun einmal alle diese gegenständlichen Ungeheuerlichkeiten nicht nötig ...«
Nicht nötig. Gewiß. Aber unbestritten große Maler, ganz große, waren zu allen Zeiten so frei, sich dieselben zu gestatten, und die Ungeheuerlichkeiten eines Böcklin können einem zufällig lieber sein, als z. B. die Ungeheuerlichkeiten anderer Art eines Delacroix, auf dessen reines Malertum und Genie der Autor einen Hymnus singt, der nicht höher gestimmt sein könnte. Was meint Meier-Gräfe dazu?
Sein Urteil über Böcklin ist das französische im allgemeinen. Ueber Eigentümlichkeiten der Rassen und das Trennende zwischen ihnen hat Gräfe viel Richtiges gesagt. Ueber ihn, als Deutschen, wird sich wenigstens die französische Rasse nicht beklagen können; sie hat in ihm einen Erklärer und Verherrlicher ihrer Kunst gefunden, wie er, trotz Richard Muther, noch nicht da war.
Nur hie und da stößt man auf Stellen, die merken lassen, daß sich dem Verfasser im Rausch seiner Begeisterung etwas regt wie ein altmodisches Gewissen: »Halten wir unsere Kunst mit zarten Sinnen und freuen wir uns, solange sie bleibt. Versuchen wir ihr standzuhalten. Die alte Kunst nahm nicht das ganze Sinnen und Denken der Menschen, nicht weil man es ihr verweigerte, sie brauchte es nicht. Man genoß sie lächelnd und erhobenen Hauptes. Die heutige will uns zu Gallert machen. Sie ist anspruchsvoll geworden wie alle alten Damen. – Geben wir ihr so wenig wie möglich, und vor allem nicht das Eine, den Schwur der ewigen Treue, an dem ihr nicht mal viel gelegen ist.«
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Aus einzelnen Kapiteln weht allerdings eine Luft, die mancher auch nicht gerade bornierte Deutsche wenig angenehm empfinden wird, weil ihn dünkt, es sei eine allzu spezifisch Pariser Luft aus der Gegend von Montmartre und Batignolles, wo es nach Dingen riecht, die unsern deutschen Nasen zu ungewohnt sind.
Wer bei gewissen Abschnitten diese Empfindung haben sollte und vielleicht einigen deutschen Unmut in sich aufsteigen fühlte, dem rate ich, die Eingangskapitel des Werkes, die er vielleicht überschlagen hat, in gesammelter Stimmung nachzulesen. Da wird er finden, daß dieser begeisterte Apostel der Pariser »Moderne« ganz alten Dingen, etwa altbyzantinischen Mosaiken gegenüber ein Verständnis an den Tag legt und eine Wärme ausströmt, die man bei berühmten Autoritäten auf diesem Gebiet umsonst suchen würde. Ein paar Seiten, die ich im Auge habe (32 bis 38), geben überraschende Aufschlüsse. Sie lesen sich stellenweise wie Poesie. Ich bin persönlich in einen hellen Jubel darüber ausgebrochen. Auch auf die Stellen über Rembrandt kann man in diesem Sinn verweisen. Ebenso auf die Kapitel über Feuerbach und Marées, über Hildebrand und Ludwig von Hofmann.
Wer über solche Künstler solche Worte findet, dessen Hymnen auf Manet und Monet wollen beherzigt sein.
Das Gleiche gilt von seiner Begeisterung für Rodin. Hier können wir noch weiter mit ihm gehen. Was er über den Kopf Balzacs sagt, ist mir aus der Seele gesprochen. »Diese Fratze zeigt besser das Heldentum dieses Ueberwinders als die Allegorien vermöchten. Es ist die einzig zeitgemäße Art der Darstellung; in diesen Augen, die nach innen wachsen, in den Löchern und Lappen, aus denen diese kaum noch Gesicht zu nennende Maske gemacht ist, und in dieser grotesken Haltung voll Stolz und souveräner Verachtung, die über ihre Häßlichkeit erhaben ist, malt sich die Larve dieses Ungeheuers und das, was sich dahinter verbarg. Es ist ein fabelhaftes Symbol; es übertreibt, was hier zu übertreiben war. Die Häßlichkeit, die stolze Folge bewußter Selbstverwüstung wird zum Denkmal des Schönen.«
Ueber Klinger schreibt Meier-Gräfe: »Klinger hat zwei wesentliche Seiten. Die eine gedankliche, die nur für den Gedankenleser interessant ist; die andere, in der man einen Künstlerplan ahnt, die Tendenz, nach Ruhe zu gelangen und wieder an die Tradition anzuschließen, die er in Hildebrand verehrt. Die beiden sind nicht zu scheiden, am selben Werk finden sie sich, fortwährend im Kampf; hier eine Stelle, wo nur der Künstler sprach, dem eine Form vorschwebte; dort hängt der Gedanke dran, der ihn zu Weiterungen verleitet, die das Ganze in Frage stellen.«
Ich meine, man könne nicht knapper und treffender das Wesen dieses Künstlers charakterisieren.
Kläglich getäuscht hat sich Meier-Gräfe, der doch den Beethoven so richtig einschätzt, in seinen großen Erwartungen, die er gegenüber dem unfertigen »Drama«, Klingers jüngstem Werk, in rührendem Optimismus ausspricht. Das wird er stillschweigend heut selber zugestehen.
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Im allgemeinen sind Meier-Gräfe die Schwächen der modernen französischen Kunst in der Skulptur deutlicher zum Bewußtsein gekommen als in der Malerei. In seiner Kritik der Kunst Rodins schreibt er Worte, tiefer als je ein Schulphilosoph über die ewigen Gesetze der Aesthetik geschrieben hat; mit bewunderungswürdiger Sicherheit legt er da den Finger auf den wunden Fleck, vielmehr in die tiefinnerliche Wunde der modernen Kunst.
»Stellt man aber gewisse Rodins, die schon dem Umfang nach in geschlossenen Räumen kaum denkbar sind, ins Freie, so wird die Tragik deutlich. Die Tiefe ihrer Erfassung, die Schönheit, die wir vorhin ahnten, die Macht des Ausdrucks, der wir jedes Bedenken zu opfern bereit waren, alles das hindert sie nicht oder zum Mindesten nicht mit Sicherheit, zu formlosen Massen zu werden und das ganze Gebäude der Begeisterung, das sie umgab, in Frage zu stellen.
Weil es ewige Gesetze gibt, die auch das Genie nicht umzustürzen vermag, die selbst ein Michelangelo nicht ungestraft lockern konnte, und die Rodin mehr als irgend einer seiner Vorgänger außer acht läßt, ja zuweilen als nicht vorhanden betrachtet: Raumgesetze, die wir Heutigen, deren Augen mit Blindheit geschlagen wurden, seitdem wir geglaubt haben, sehen zu lernen, kaum noch zu formulieren vermögen, und die einige wenige unter uns gerade nur dann noch erkennen, wenn sie sich verheerend gegen uns richten.«
Je öfter ich diese Sätze lese, desto mehr muß ich sie bewundern. Sie tun, was ihr Verfasser vergessen hat. Sie setzen von dem Worte des Titels Neue Aesthetik die erste Hälfte zwischen Gänsefüßchen.
Die angeführten Sätze bekommen noch mehr Relief, wenn man sie im Lichte der folgenden betrachtet.
»Die Liebe zur Natur, die auf dem Wege der Aegypter und Gotiker zu sich selbst gelangt, hat ein weites Herz. Es ist immer dieselbe Verwechslung von Natur und natürlich. Jeder Künstler, der mehr von der greifbaren Welt will als das Natürliche von ihr lernen, entfernt sich von der Kunst. Es war sicher nicht der Naturalismus, der Rodin zu den Aegyptern und Griechen zog, sondern just der Trieb nach einem Gesetzmäßigen, um der Natur gegenüber Rückgrat zu behalten, nach einer Regelung der Uebertreibung des Natureindrucks, vor dessen Notwendigkeit er sich nicht zu verschließen vermochte; nach einer Formulierung des nicht in der Außenwelt Liegenden, sondern nur in der Kunst Begründeten.«
Das ist deutlich. Und keine Wahrheit in künstlerischen Fragen tut unserer Zeit mehr not als die hier ausgesprochene.
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Im ganzen, das ist richtig, schmeichelt das Buch den Franzosen mehr als den Deutschen. Hoffentlich nützt es diesen um so mehr. Und so mag es, ohne es vielleicht zu wollen, auch eine patriotische Tat sein. Die Zumutung, die darin dem Kaiser gemacht wird, er hätte 1889 das Berliner Nationaldenkmal, dem Reichstag und der Hauptstadt zum Trotz! von Hildebrand bestellen sollen, ist sogar naiv-patriotisch, wenn sie nicht – boshaft gemeint ist.
Im Kapitel Marées lesen wir: »Mit der Bewunderung vor dieser Kunst mischt sich der Ekel vor der Welt, die sie zurückwies. Wohin sind wir gekommen, daß solche Gottbegnadete in Einsamkeit verbluten müssen; wo ist der Fürst, der solche Untaten duldete, welche Hohnmoral haben wir in den Knochen, daß solche Verdammte gezwungen werden, sich selbst lebendigen Leibes zu verzehren! Eine unerhörte Zeit! Man kann vor ihren humanen Regungen Abscheu empfinden ...«
Das ist der Aufschrei eines Künstlers über die Not der Kunst. Und es ist vielleicht auch der Aufschrei eines bekümmerten Patrioten.