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Wortpsychologie. – Von allen Ausdrucksmitteln, die zusammen den Stil ausmachen, den literarischen Stil, ist das wichtigste und wesentlichste die Wahl der Wörter. Sie ist unstreitbar sein geistigstes Element. Mehr als alles andere, was noch zum Stil gehören mag, offenbart die Wahl der Wörter die geistige Eigentümlichkeit des Schriftstellers. Ob ein Schriftsteller überhaupt selbständig und eigen empfindet oder ob er nur nachredet, verrät sich zuerst in der Wahl seiner Wörter, und nichts ist charakteristischer für ihn als seine Lieblingswörter oder sein Lieblingswort.
Und nicht nur für den Stil des Einzelnen, für ganze literarische Gruppen und Zeitabschnitte sind einzelne Wörter bedeutungsvoll und bezeichnend, gerade wie die oder jene Farbe für gewisse Maler und Malerschulen.
Nennen wir mit drei hervorstechenden Namen, etwa mit Heine, Heyse, Storm, sozusagen ein Kapitel unserer Literaturgeschichte, ein im Abschluß begriffenes Kapitel, so wird man folgendes zugeben: die sämtlichen Vertreter dieser Literatur haben ein Wort gemeinsam, das mehr als alle Wörter der Welt charakteristisch für sie ist; ein Wort, das gleichsam die Nabelschnur bildet zwischen dieser Literatur und ihrem Mutterschoß, der Romantik, und das mit einem Schlag den Geist dieser Literatur bezeichnet: dieser Literatur mit platonisch-christlich-transzendentalem Grundwesen, die dem religiösen Gegensatz von natürlich und übernatürlich den Gegensatz von Wirklichkeit und Poesie an die Seite setzte, wobei sie sich die Poesie nicht sowohl als gleichbedeutend mit der Kunst dachte, sondern vielmehr als gleichbedeutend mit dem einzig würdigen Stoff der Kunst und der der Dichtung; – einer Literatur also, die nicht nur im Kunstwerk, im Gedicht, sondern auch unter den Erscheinungen des Lebens, unter den Stoffen, zwischen poetisch und unpoetisch unterschied, die also für ihr Dichten nicht nur auf poetische Ausdrucksmittel bedacht war, sondern die auch vor allem nach »poetischen Stoffen« suchte und diese oft genug nicht im wirklichen Leben fand, sondern nur im Reich der Träume, in der Welt der holden Lüge, in der Welt des Märchens.
»Märchenhaft« heißt das charakteristische Wort dieser Literatur, das überall aus ihren Werken herausklingt, fast auf jeder Seite, wie ein ewiges Leitmotiv.
Es war ein schönes Wort, vor allem ein deutsches Wort, so deutsch, daß es sich in fremden Sprachen nicht einmal übersetzen läßt, und es drückte unzweideutig aus, was jene Literatur wollte: es enthielt ihren Begriff von »Poesie«.
Man könnte in allen möglichen Literaturen ein derartiges Wort nachweisen. In der vorgoethischen des 18. Jahrhunderts z. B. heißt es merkwürdigerweise – »Tugend«.
Auch diejenigen neueren Schriftsteller, die sich vor zwanzig Jahren die »Modernen« nannten, hatten ein solches ewig sich wiederholendes Leitmotiv, ein solches den Grundton ihrer Werke bestimmendes Wort, das an Häufigkeit des Auftretens nichts zu wünschen übrig läßt, und das ebenfalls sehr bezeichnend war für diese Literatur mit ihren keineswegs mehr transzendentalen, keineswegs mehr platonisch christlichen, mit ihrem, im Gegenteil, durch und durch atheistisch-materialistischen Grundwesen, diese Literatur, die nur noch den einen Gegensatz hochhielt, den von »wahr« und »nicht wahr«; eine Literatur, der deshalb jeder Stoff recht war, ob schön oder häßlich, ob edel oder schuftig, ob reinlich oder schmutzig, ob anmutend oder anwidernd; eine Literatur, welcher das Tier im Menschen interessanter war als der Gott im Menschen.
»Brutal« hieß ihr Lieblingswort.
So schön wie »märchenhaft« klingt es nicht, und deutsch ist es auch wieder einmal nicht. Daß es an sich ein Fremdwort ist, möchte hingehen; aber auch seine Anwendung ist nicht ursprünglich deutsch, ist vielmehr ganz direkt von gewissen zeitgenössischen Franzosen abgeguckt.
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Französischer Einfluß. – Auf dem Schlachtfelde haben wir unsern Erbfeind niedergeworfen; wirtschaftlich haben wir ihn überwunden, fast überwunden: in der Kunst ist unsere Niederlage um so größer. Es wäre ein schlechter Patriotismus – den viele verlangen – dies nicht zugeben zu wollen, den Kopf in den Sand zu stecken, daß die Augen blind werden, und uns dann behaglich selber anzulügen. Diese Behaglichkeit ist das Grab des wahren Patriotismus. Nicht blenden, schürfen müssen wir unsere Augen, daß sie immer richtiger und klarer sehen, was traurig und was erfreulich ist. Mit den Augen wird auch unser Herz empfindlicher werden und die entsetzliche Gleichgültigkeit wird dem Schmerze weichen; wenn aber unser Schmerz einmal tief und groß genug ist, dann werden wir auch hoher Freudigkeit wieder würdig sein. (1893.)
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Der Deutsche begreift manchmal kaum, wie der französische Schriftsteller nicht müde wird, seinen Lesern das immer und immer wieder zu beschreiben, was sie doch täglich vor Augen haben, nämlich Paris. Diese Kapitale ist eben seine Geliebte. Diejenige des deutschen Poeten heißt Natur, und er hat ihr gegenüber dieselben »Stärken« und dieselben Schwächen. Der ganze gewaltige Gegensatz deutscher und französischer Dichtung liegt in diesem Verhältnis. Ausnahmen gibt es auf beiden Seiten.
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» Deutschland, Deutschland über alles!« – Wir Deutschen singen und sagen es, und die Franzosen setzen es um in Taten, ihr: Frankreich, Frankreich über alles. Wir haben es immer gesungen und haben dabei immer, in unserm Empfinden und in unserm Tun, alles mögliche über Deutschland gesetzt: alle möglichen Ideale, alle möglichen Rechte, alle möglichen Neigungen, alle möglichen Rücksichten, alle möglichen Literaturen ... die einen ihren Kosmopolitismus, die andern ihren Partikularismus, die einen ihr Kirchentum, die andern ihr Königtum oder Junkertum, die Preußen ihr Preußentum und die Bayern ihre Reservatrechte. Und alle singen: »Deutschland, Deutschland über alles.«
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Von den Schwaben sagt man bei uns, sie verstehen keinen Spaß; die Deutschen sind aber alle mehr oder weniger Schwaben. Die Deutschen nehmen alles zu schwer, zu ernst, am meisten zeigt sich das in Sachen der Religion. Hier wird dieser Ernst fürchterlich. Und hier haben wir vielleicht den ernstesten Gegensatz zwischen Deutschen und Romanen. »Dem Franzosen,« sagt Bamberger, »ist darum der Katholizismus le réligion des gens comme il faut, weil er sich auf schädliche Diskussionen nicht einläßt«, und, möchte ich hinzufügen, weil dieser Kirche der diskrete Atheist lieber ist als der gläubige Raisonneur. Der Deutsche aber ist der geborene Protestant. »Er schreit wie ein Ketzer,« heißt eine volkstümliche deutsche Redewendung.
Merkwürdig ist, daß dieser ernste Deutsche von allen Dingen der Welt sich selber am wenigsten ernst nimmt. Nichts, woran er ernstlich glaubt, wird er so leicht verleugnen, ausgenommen seine Nationalität, die er noch heute im Ausland fast ebenso leicht verliert wie in früheren Zeiten. Und das ist freilich der fatalste Zug, wodurch wir uns von unsern Nachbarn und selbst von unsern nächsten Vettern unterscheiden.
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Wodurch sind die Franzosen so beliebt in der ganzen Welt? Jean Jacques Rousseau gibt schon vor 150 Jahren die Antwort: »Un goût croissant pour la littérature m'attachait aux livres français, aux auteurs de ces livres, et aux pays de ces auteurs. « Und, fährt er fort: »cette impression ne m'était pas particulière ... sondern, agissant plus ou moins dans tous les pays sur la partie de la nation qui aimait la lecture et qui cultivait les lettres, elle balançait la haine générale qu'inspire l'air avantageux des Français.«
»Wenn wir (im letzten Kriege) solche Schläge bekommen hätten,« schreibt Bamberger, »kein Hahn hätte danach gekräht, keine Zeile wäre (z. B.) geschrieben worden, um etwa die Neutralisierung des linken Rheinufers statt seine Einverleibung in Frankreich zu begehren.«
Und in seiner Erklärung der großen Popularität Frankreichs kommt Bamberger auf dasselbe hinaus wie schon Jean Jacques Rousseau vor 150 Jahren. »Das Phänomon,« sagt er, »erklärt sich ganz einfach daraus, daß die Franzosen im vorigen und in diesem Jahrhundert dem größten Teil der höhern Gesellschaftsklassen ihre Bildung gegeben haben, daß in einem großen Teil der gesitteten Menschheit noch heute Politiker, Juristen, Zeitungsleser, Herren und Damen der vornehmen Welt, große und kleine Humanisten, nach französischen Vorschriften denken. Die Köpfe selbst sind durch den Einfluß der französischen Literatur, Kunst, Politik, Sprache, Mode so bearbeitet worden, daß man kühnlich behaupten kann: die Funktionen des Gehirns sind ihnen nach französischem Gedankengang fassonniert.«
Wir aber, füge ich hinzu, wir dringen kaum ins Ausland mit unserm nationalen Geist, trotz unserer überlegenen wissenschaftlichen Leistungen, womit wir uns allzusehr brüsten.
Denn daran haftet eben nicht der nationale Geist. Sie sind nicht Früchte zu schönem Genuß mit dem Erdgeruch ihres Mutterbodens und der Süßigkeit einer besondern Kulturreife. Ihnen fehlt Form und Farbe und spezifischer Geschmack. Nur was sich aus ihnen heraus destillieren läßt, kann der Fremde von ihnen brauchen: den abstrakten Gedanken, die allgemeine Wahrheit.
Etwas anderes sind die lebendigen Seelen, die eins sind mit ihrem Leib, einem Leib voll besonderer Kräfte und Schönheiten, reich an Reizen der Verführung: die Werke der schönen Literatur – die unsere Gelehrten verachten als Belletristik.
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Geschmack. – Literarischer und künstlerischer Geschmack ist in allen Nationen nur das Vorrecht von Wenigen. Aber diese Wenigen dürfen nicht allzuwenig sein. Ihre verhältnismäßig kleine Gemeinde muß groß genug sein, um sich der ganzen Nation als eine herrschende Aristokratie aufzudrängen, als eine gesetzgeberische Macht, deren Geschmacksurteile dann von der großen Masse, die selber keine hat, willig anerkannt werden, eine Aristokratie mit einem Wort, die dieselbe Wirkung übt wie eine mächtige und anerkannte soziale Aristokratie auch, welcher jeder sich anzuähneln sucht, so viel er kann.
Ueberall bei gesunden Zuständen herrschen die Wenigen über die Vielen.
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Ideale und das Leben. – Ideale sind keine Menschen, und nur im Menschen lernt der Mensch sich kennen.
Aber sich kennen zu lernen ist nicht immer eine Freude, man macht dabei oft keine sehr erbauliche Bekanntschaft, und ein Buch, das uns darstellt wie wir sein sollen, ist uns deshalb meistens angenehmer und willkommener und stört uns weniger in der Verdauung, als ein Buch, das uns zeigt wie wir sind.
Daß wir keine Ideale sind, wissen wir ein für allemal, wir erheben gar keinen Anspruch darauf; aber wie wir genau sind, wollen wir lieber nicht wissen.
Die Wahrheit ist unbequem, und sogar von Büchern verlangt der Mensch, daß sie ihm schmeicheln ...
Mit vollem Recht, er bezahlt sie ja. Ein Schriftsteller, der seine Bücher verkaufen will, sollte sich das merken.
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Novelle und Roman ist sehr zweierlei. Die Novelle verträgt das »Fabulieren«, ja braucht zur Not gar nichts anderes zu sein. Der Roman unterliegt andern Gesetzen, wie er eine andere Aufgabe hat. Eine Novelle kann rein aus der Phantasie gesponnen sein, der Roman ist immer die dichterische Verarbeitung innerer oder äußerer Erfahrung. Wo diese nicht zulänglich ist oder gar fehlt, da hört im Roman aller Wert und alle Würdigkeit auf.
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Humor und Naturalismus. – Dieser Karl Strecker ist kein geringes Talent. Sein Meister Knippe, der allabendlich den schwarzen Pudel zum Zwecke gewisser Verrichtungen spazieren führen muß, könnte nicht vortrefflicher ausgefallen sein. Nicht weniger erbaulich wirkt die »dicke Mine« und ihr dreißigjähriger Flohkrieg. Bei solchen Darstellungen stößt einem unwillkürlich der Gedanke auf, daß zu dem, was den modernen Naturalismus von andern Vortragsweisen unterscheidet, auch die rein negative Eigenschaft der Humorlosigkeit gehört. Wären die erwähnten Bilder nicht humoristisch, so wären sie naturalistisch.
Die ewige »Flohhatz« der dicken Mine zeigt deutlich, daß es in der Kunst und also auch in der Charakteristik des Naturalismus nicht auf die Sache, sondern auf den Ausdruck für die Sache ankommt. Karl Strecker umgeht das Wort »Floh«. Solches werden die Naturalisten tadeln, und wo Strecker die »Jagdgründe« seiner »Kesseltreiben« sinnreich andeutend umschreibt, würde die neue Schule dieselben einfach mit ihrem Namen nennen, dem kürzesten, den sie haben. Im ersteren Falle lacht man, im letztern schriee man über Unanständigkeit.
Ich meine, dieses Beispiel mache es so recht klar, daß die berührte Streitfrage eine Frage des Geschmacks ist und daß, wer sie zu einer moralischen machen will, beweist, daß sein Kopf einfach zwei verschiedene Begriffe, die noch dazu Grundbegriffe sind, nicht auseinander halten kann. Zu Racine's und Corneille's Zeiten durfte man in der »poetischen« Sprache auch ein Pferd nicht bei seinem Namen nennen. Und man vergegenwärtige sich, welchen Sturm Victor Hugo hervorrief, als er zuerst gegen dieses Dogma ankämpfte und die unerhörte Kühnheit beging, auch in der skandierten Sprache ein Pferd kurzweg ein Pferd zu nennen.
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Louis Couperus. – In ihm besitzt die holländische Literatur zweifellos ein bedeutendes Talent. Sein Roman »Schicksal« ist ein tief ernstes Buch, eine Tragödie in Romanform. Und es ist zugleich ein in jedem Sinn »modernes« Buch. »Modern« ist es einmal durch die Belanglosigkeit, durch die Glanz- und Klanglosigkeit der äußern Handlung, d. h. durch den völligen Mangel an Pathos, das Wort in weitester Bedeutung genommen, und dann dadurch: daß auch im Helden nicht sowohl die menschliche Schönheit, Kraft und Herrlichkeit betont wird, sondern, modern pessimistisch, allein das Gegenteil davon.
Dieses Buch hinterläßt zunächst eine tiefe Traurigkeit der Seele. Aber doch mit Einschränkung: Wir staunen über das Vermögen des Autors, wir bewundern seine Kunst. Bewundern aber schließt freudige Erhebung in sich ein. Wir verzweifeln nicht an der Menschheit, in deren moralische Abgründe wir schaudernd einen Blick geworfen. Denn da auch der Verfasser, der Künstler, ein Teil dieser Menschheit ist, werden wir das mehr oder weniger bewußte Gefühl haben, daß eine Menschheit, die sich selber so zu erkennen und, was mehr ist, zu objektivieren, d. h. in der eigenen Kunst zu spiegeln versteht, nicht an sich selbst irre zu werden braucht.
Wer das Organ besitzt, womit man Kunstwerke genießt, wird an diesem »Schicksal«, worin sich uns ein Abgrund von Verworfenheit auftut, seine helle Freude haben, wenn er auch vielleicht gar nicht weiß warum, – weil es ihm eben begrifflich noch nicht klar zum Bewußtsein gekommen ist, daß an der Kunst uns eben vor allem und über alles das Können freut, d. h. die Kunst.
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Poesie. – Nicht in Worten liegt die Poesie, sondern in Vorstellungen; nicht Blumen und Bilder der Sprache, nicht schönrednerisches hochtönendes Pathos sind poetische Kunstmittel, sondern der individuell angepaßte, der fein charakterisierende, mit einem Wort, der für den gegebenen Fall wahre Ausdruck. Und darum muß, in letzter Konsequenz, alles gesagt werden dürfen, wofür nur die Sprache ein Wort hat.
Nicht das Leben ist poetisch oder unpoetisch, sondern allein die dichterische Darstellung des Lebens. Also nicht vom Stoff ist die Poesie oder Unpoesie eines Kunstwerks abhängig, sondern einzig von der Behandlung des Stoffes.
Und nicht anders ist es mit der Schönheit. In jedem noch so unförmlichen Block steckt die wunderbarste Statue, wenn man sie herauszuhauen weiß, und der wäre kein Künstler, der nach Blöcken suchte, in denen eine Statue bereits angedeutet scheinen könnte. Nichts ist schön in der Kunst was nicht wahr ist, d. h. was uns nicht den Eindruck richtiger Naturbeobachtung macht. Die Phantasie ist dem Künstler unerläßlich, aber die Gabe der feinen Beobachtung hat er noch nötiger, denn ohne sie vermag die Phantasie nur sinnlose Fratzen zu gebären.
Böcklins See-Ungetüme entzücken uns nur, weil so viel feine Naturbeobachtung in ihnen steckt, und die mythischen Märchen aller Völker enthalten mehr Wahrheit über die grausigen Schrecken der Natur und die Leidenschaften der Seele als tausend Feuilleton-Romane eines papiernen Zeitalters.
Ohne feingebildeten Wirklichkeitssinn kein wahrer Dichter. Viel verdankt die Kunst und insbesondere die Dichtung unserer Zeit den Naturwissenschaften; denn die Naturwissenschaften sind es, die den Beobachtungstrieb und die Beobachtungsfähigkeit immer höher gesteigert haben. Das Beste gibt übrigens der Dichter aus sich selbst, nicht aus seiner Phantasie jedoch, sondern aus seinem Erlebten, und darum muß der Dichter eine reiche Natur sein, weil der Arme nichts geben kann.
In ihrer Vortragsweise, in ihrer Methode ist die Dichtung eine Kunst; was Zola über die wissenschaftliche Methode des Naturalismus sagt, ist Unsinn; Naturalismus ist Verneinung der Kunst.
Aber die Dichtung ist doch auch wieder mehr als Kunst. In ihrer Wirkung kommt sie der Wissenschaft nahe, mit der sie auch das einfachste Ausdrucksmittel, das Wort, gemein hat. Darum ist die Komposition an ihr nicht das Wichtigste, sondern die Feinheit und innerliche Vertiefung in der Ausarbeitung, und namentlich liegt der Wert einer Dichtung nicht in unerhörten Erfindungen und künstlichen Verwickelungen, sondern in der Lebenswahrheit des Einzelnen. Denn am meisten ist die Dichtung den Naturwissenschaften verwandt. Sie ist nichts anderes als die Lebensgeschichte der Individuen, die Geschichte ihres körperlichen und vor allem ihres seelischen, ihres sittlichen Lebens, sie ist angewandte Psychologie; ihr ewiger und einziger Gegenstand ist die wichtigste Sache unseres Lebens, er ist das Leben selbst.
Die Dichtung ist, als Weltliteratur, die einzig wertvolle Geschichte der Menschheit.
Das ist die Dichtung. Ihre modernste und glücklichste Form ist der Roman; und er hat um so höheren Wert, ein je reicheres Magazin er ist von echten und unverfälschten Dokumenten des menschlichen Lebens.
Die besten Dichtungswerke aller Völker haben diese Forderungen im wesentlichen immer erfüllt.
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Ceci tuera ceça! Dieses Wort Viktor Hugo's vom Buch und von der Kathedrale, wird in Zukunft vom Buch und dem Theater gelten, wenn nicht vorher – von der Zeitung und dem Buche.