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Anfangs ging alles famos.

Geno und Gurri spielten Erwachsensein und kamen sich sehr wichtig vor.

Bedächtig traten sie mit einbrechender Dunkelheit auf die Wiese, kehrten bei dem ersten blassen Morgenschimmer zu ihrem Lager heim.

Der Waldkauz schrie etliche Male sein U–jj! U–jj! gellender und lauter als sonst. Man hörte ihn vorher nicht, und die Kinder erschraken; besonders heftig Geno.

Doch der Waldkauz unterließ jede Frage. Er tat so, als kümmerte er sich nicht um die kleinen Rehe. Er lachte nur vernehmlich und schadenfroh; saß aufgeplustert da, glich einer braunen, weißfleckigen Wollkugel und rollte ergötzt seine klugen dunkel glänzenden Augen. Dennoch beobachtete er die Kinder.

»Da müssen andere kommen«, dachte er, »andere als du, mein keckes Bürschchen, wenn mein Spaß gestört werden soll.«

Dagegen zeigten sich die Wächter, Elster, Häher und die übrigen, doppelt aufmerksam.

Der selbständige, musterhaft brave Wandel der beiden Geschwister dauerte drei Nächte und drei Tage. Nicht länger.

Der Wald dunstete vor Hitze, und ganze Schwärme von Mücken tanzten wieder in der Luft. Schmetterlinge taumelten wie trunken umher, Hummern und Bienen brausten durch die Büsche.

Da erwachten die Kinder aus dem Schlaf.

Nah über ihnen im Gezweig der jungen Buche hockte das Eichhörnchen und rief: »Eben habe ich eure Eltern gesehen!«

Gurri fuhr hoch: »Wo? Sag schnell, wo?«

»Nicht weit von hier. Kaum hundert Gänge.«

»Wie geht es ihnen?« erkundigte sich Geno.

»Ich glaube vortrefflich«, gab das Eichhörnchen Auskunft, »der Vater liegt und ruht; die Mutter steht daneben; sie knabbert Blätter von der Silberpappel.«

Da Gurri von der Mutter hörte, überwältigte sie plötzliche Sehnsucht, daß sie ausrief: »Mutter! Mutter!«

Zeichnung: Hans Bertle

Auch Geno empfand starke Sehnsucht; doch er bezwang sich, stieß die Schwester an und raunte: »Still!«

Und als Gurri ihre Stimme wieder erheben wollte, fügte er rasch hinzu: »Denk an den Vater! Wenn dich der Vater hört!«

Gurri verstummte und schämte sich. »Wann kommt die Mutter wieder, wann endlich?« flüsterte sie, »so lange ist sie schon fort. Ich habe Sehnsucht nach ihr.«

»Sie wird noch lange fort bleiben«, meinte Geno, »noch viel länger! Der Vater hat das ja vorausgesagt.«

»Schwer für uns«, flüsterte Gurri, »sehr schwer! Ich hab die Mutter furchtbar lieb.«

»Jetzt erst, seit sie nicht mehr bei uns ist, fühle ich, wie ich sie liebe«, antwortete Geno, »wie arg sie mir fehlt. Es ist hart, ohne Mutter zu sein. Doch Jammern hilft uns nicht. Wir müssen warten; wir müssen!«

»Warten ist das Schlimmste, das ich kenne«, Gurri gefiel sich in altklugen Worten.

Gerührt lauschte das Eichhörnchen, hatte seine buschige Fahne aufgepflanzt, steckte den kleinen Kopf mit den feingespitzten, von schmucken Schöpfen überragten Ohren hervor und versuchte zu trösten: »Ich werde euch immer Nachricht über eure Eltern bringen, liebe Kinder. Seid ruhig. Das kürzt euer Warten.«

Ein wildes Rauschen durchdrang das Gebüsch, fegte im Kreis und entfernte sich.

Flink war das Eichhörnchen den Baum emporgeturnt, hielt Umschau und sauste wieder herunter, um anzukündigen: »Sie sind es, eure Eltern.«

»Was tun sie denn?« wollte Gurri wissen.

»Sie spielen Haschen«, sagte das Eichhörnchen.

»Mit solchem Lärm«, staunte Geno, »zieht der Vater sonst nie durch das Strauchwerk.«

»Der Vater ist es nicht, der lärmt«, stellte das Eichhörnchen fest, »das macht die Mutter, die rennt voraus.«

Einen Tag hatte sich das Eichhörnchen nicht blicken lassen; des Nachts schlief es immer in seiner Wohnung.

Gurri hielt es nicht aus: »Mutter! Mutter!«

»Du sollst still sein!« mahnte Geno sofort, »du weißt, es ist verboten!«

»Ich habe ja nicht gerufen«, entgegnete Gurri naiv.

»So?« widersprach Geno, »ganz deutlich war es doch zu hören.«

»Ich habe nicht gerufen«, beharrte Gurri, »wie werde ich denn rufen, da es ja streng verboten ist?«

»Aber«, Geno wunderte sich, »wenn ich es doch selbst gehört ...«

»Nun«, gestand Gurri, und mehr gestand sie keineswegs, »so vor mich hin habe ich ›Mutter‹ gesagt, nur für mich, weil ich immerzu an die Mutter denke. Ganz leise werde ich wohl ›Mutter‹ sagen dürfen.«

»So leise«, entgegnete Geno, »daß man es weit in der Runde vernommen hat. Behalte deine Gedanken für dich! Ich denke dasselbe wie du, aber ich kann schweigen.«

»Du, du fürchtest dich zu reden«, maulte Gurri, »aber ich bin nicht so furchtsam wie du!«

»Ich wollte, du hättest mehr Furcht«, sprach Geno voll Sorge.

Es war, als ahnte er das Unglück, das Gurri treffen sollte.

Der Abend begann niederzugleiten. Amsellieder klangen von den höchsten Zweigen, Fledermäuse wurden vereinzelt sichtbar, wie sie die Luft durchzuckten. Enten flogen quarrend feldwärts; der Reiher schwamm mit ausgebreitetem Fittich dahin, ein stolzer Anblick. Und noch hämmerte der Specht.

Gurri strebte zur Wiese hinaus.

»Zu früh!« warnte Geno, »zu früh!«

»Mich hungert so sehr«, rechtfertigte sie ihre Eile.

»Du mußt bleiben«, mahnte er, »es kann Gefahr sein!«

»Ach«, widersetzte sich Gurri, »ohne Mutter, dazu hungern und wer weiß wie lange noch hierbleiben! Du! Immer mit deiner Gefahr!«

»Die müssen wir immer im Sinn haben!« rief Geno.

Doch Gurri wurde ungeduldig. »Es gibt jetzt keine Gefahr!«

Sie stürmte los.

Zögernd folgte Geno.

In diesem Augenblick schwiegen die Amseln.

Der Häher kreischte laut.

Die Elster schakerte heftig.

Fern über die Wiese rannte wie ein Gehetzter Freund Hase.

»Hörst du, Gurri, hörst du!« flehte Geno und barg sich im Dickicht.

Aber Gurri war schon draußen.

»Zurück!« geckerte das Eichhörnchen, »zurück!«

Doch da sprang wie ein roter Blitz der Fuchs Gurri in den Nacken.

Unter seinem Gewicht knickte sie zusammen. Entsetzen und der scharfe Fuchsgeruch betäubten sie beinahe.

Gurri wäre ohnmächtig geworden, hätte sie nicht ein durchdringender Schmerz geweckt. Das kam vom ersten Biß, den der Fuchs ihr zufügte.

Sie stieß ein schwaches Klagen aus.

Zum zweiten, tödlichen Biß gelangte der Fuchs nicht.

Ein kurzer Donner krachte.

Wie von einer starken Faust geworfen, überschlug sich der Fuchs, fiel zur Seite, zuckte ein wenig mit den Läufen und starb.

Er lag gerade vor Gurris angst- und schmerzentstelltem Antlitz.

Sie rührte sich nicht; ihr waren die Sinne geschwunden.

Von Gurris Rücken strömte das Blut, floß mit dem Blut des Fuchses zusammen und färbte das Gras.

Jetzt erlebte Geno, der, geschüttelt vor Grauen, im Gebüsch stand, die Furchtbarkeit, die Er verbreitete.

Jetzt atmete Geno die erstickende und zugleich aufpeitschende Witterung, die Er hatte.

Jetzt sah Geno, wie Er heranschritt, hörte Ihn sogar sprechen.

Erstarrt blieb Geno, ohne sich zu regen.

»Armes Ding«, sagte Er leise, beugte sich zu Gurri nieder, untersuchte die Wunde und hob die Betäubte in seine Arme. »Na, das heilt schon wieder. Du armes Kleines, dich nehme ich mit. Hätte ich eine Sekunde später geschossen, so wäre es schon vorbei mit dir.«

Mit dem Fuß schleuderte er den Fuchs ins Gebüsch und trug Gurri davon.

Geno entwich, flüchtete vor dem toten Fuchs, flüchtete vor Ihm, verstört, ratlos, halb irrwitzig.

Ueber den Verlust der Schwester konnte er sich nicht fassen.

»Mutter! Mutter!« rief er in seiner Herzensnot.

Er besann sich nicht mal; er mußte rufen. »Mutter! Mutter!«

Taumelnd streifte er durch das Buschwerk. Unmöglich, nach solchem Ereignis allein zu bleiben. »Mutter! Mutter!«

Rascheln, Knistern bewegte die Zweige.

Faline tauchte vor ihm auf; doch er nahm sie in seiner Verwirrtheit nicht gleich wahr, weinte ihr ins Gesicht: »Mutter! Mutter!«

»Da bin ich ja«, redete Faline, »was gibt's denn?«

Hinter ihr klang Bambis Stimme verwundert: »Du, Geno? Hab ich euch nicht verboten ...?«

Geno würgte hervor: »Gurri ... Gurri ...«

»Wo ist Gurri?« drang Faline und war von Verzweiflung gepackt, als Geno in abgerissenen Schluchzworten erzählte: »Der Fuchs ... sie ... angesprungen ... Blut ... dann ... dann Er ... mit der Feuerhand ... tot ...«

»Und Gurri?« schrie Faline.

»Was war mit Gurri?« fragte Bambi erregt.

»Die ...«, stotterte Geno, »... die hat Er genommen ... fort ... mit ihr ... Er ist mit ihr ... fort ...«

Bambi und Faline schwiegen, als hätte die Katastrophe sie stumm gemacht.

Dann sagte Bambi still: »Mein schönes kleines Kind ...«

Davon wurde Geno im Tiefsten ergriffen. Unklar hatte er eine winzige Hoffnung gehegt; wenn nur die Eltern da wären, könnte alles wieder gut werden. Nun löschte dieses schmächtige Lichtchen aus; nicht einmal die Eltern vermochten zu helfen.

Faline weinte leise vor sich hin: »Ich hätte die Kinder nicht allein lassen dürfen. Nie hätte ich das dürfen. Meine Gurri, meine geliebte, arme Gurri ...«

Geno gab ihr recht, sie hätte uns nicht allein lassen sollen ... wäre sie bei uns geblieben, hätte das nie geschehen können; er sah den Kummer der Mutter, ihre Reue, den Schmerz des Vaters und sagte kein Wort.

Er verschwieg auch, wie leichtfertig, wie achtlos trotz aller Warnungszeichen Gurri sich der Gefahr preisgegeben hatte. Damit wollte er die Eltern verschonen.

»Ist sie ...«, Bambi stockte, »... ist sie ... tot?«

»Ich weiß es nicht ...«, zitterte Geno, »... wirklich ... das weiß ich nicht ...«

Zu dritt gingen sie langsam bis an den Saum der Dickung, standen dort voll Ekel vor dem erschossenen Fuchs, der mit zerfetzter Flanke ausgestreckt im Unterwuchs lag.

»Elender Mörder ...«, brachte Faline hervor.

»Manchmal«, sagte Bambi, »manchmal übt Er Gerechtigkeit ... nicht immer ... doch zuweilen tut Er es.«

»Vielleicht«, meinte Faline verzagt, »vielleicht ... ist Er ein Retter gewesen ...«

Beide dachten jetzt an Gobo, den ja Er bewahrt und gepflegt hatte; allein es war eine trübselige Erinnerung.

Sie traten hinaus auf die Wiese, wo das Blut Gurris mit dem Fuchsblut noch im Gras versickerte.

»Da hat sie gelitten«, schluchzte Faline, »meine Gurri ... meine zierliche Gurri ...«

Die Nase am Boden, entfernte sich Bambi quer durch die nachtfinstere Wiese, nahm die Fährte auf, die Er hinterlassen hatte. Am nächsten Morgen war der Fuchs verschwunden, doch Er ließ sich noch deutlicher spüren.

Bambi verbarg sich in der Nähe.

Zeichnung: Hans Bertle

 

* * *

 


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