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Während seines Revierganges, der ihn zufällig nahe der Dickung vorbeiführte, wo Boso in der Schlinge zappelte, hatte der Jäger das kurze Rauschen, das Schütteln und Rütteln wahrgenommen.
Sogleich dachte er: »Da hängt ein Stück Wild.«
Er schritt durch das Buschwerk, erst vorsichtig pirschend, dann unbekümmert energisch.
Als er anlangte, lag Boso schwach, fast erstickt am Boden.
»Hab ich die Sache doch richtig erkannt«, murmelte der Jäger, »diese verdammten Wilddiebe.«
Er bückte sich: »Ein Kitzbock! Armer Kerl! Es wär schad um dich! Ist dir noch zu helfen, helf ich dir! Du hast genug ausgestanden.«
Behutsam lockerte er den Draht, löste ihn sacht vom Hals des Gedrosselten, betrachtete Boso mitleidig.
»Viel hat nicht gefehlt, und er wär hin!«
Boso begann Luft zu schlürfen. Er trank Luft in immer längeren Zügen. Noch immer lag er; blieb noch immer ohne Kraft, sich emporzurichten. Er schaute wirr vor sich hin.
Die scharfe Witterung des Jägers riß ihn endlich ins Bewußtsein.
Er raffte sich zusammen, wurde hoch, allein er schwankte ein wenig.
Der Jäger stand lachend über ihm.
Boso, der ihn erblickte, tat einen entsetzten Sprung, stolperte und begann unbeholfen zu flüchten.
»Lauf nur, Bürschchen«, lachte der Jäger hinter ihm drein, »lauf nur!«
Mehr und mehr erholt rannte Boso, hatte einstweilen kein Ziel, genoß nur das Glück des Atmens.
Der Jäger murrte: »Dem Gauner, der die Schlinge gelegt hat, werde ich das Handwerk legen ... aber gründlich! Diese Schweinehunde, die mit der Schlinge arbeiten, das sind die Niederträchtigsten!«
Er versteckte sich in einem Holunderstrauch und lauerte.
Gar nicht lange mußte er warten.
Da schlich einer heran, ein Landstreicher, im übrigen ganz ordentlich angezogen. Ein verwegener Mensch, etwa zwischen Dreißig und Vierzig. Seinem unheimlichen Gesicht merkte man die Entschlossenheit zu jeder Gewalttat an.
Vom Rücken baumelte ihm ein leerer Sack.
Bevor er noch zur Schlinge kam, sprang der Jäger hervor.
»Halt«, schrie er, »halt, du Lump!«
Der andere, überrascht und erschrocken, schien im Boden zu wurzeln.
»Hab ich dich erwischt, du Halunke! Schlingen legen, das wär dir recht!«
»Bei gar nix ha'm Sie mich erwischt ...«, der Landstreicher wurde frech, »und schimpfen Sie nicht!«
»So? nicht schimpfen?!« Der Jäger brüllte: »Du suchst doch da deine Schlinge, du Strolch, du miserabler ...!«
»Nix such ich ... nix!«
»Nichts?! Was treibst du denn da hier im Wald?!«
»Ich geh spazieren ... das kann mir niemand verbieten ...«
»Spazieren?« Der Jäger lachte höhnisch: »Da, wo's überhaupt für alle Leut verboten ist, da gehst du, Kerl, spazieren? Kaum daß es Tag ist? Dort, neben dir, liegt dein Draht. Ein Kitzbock war drin gefangen. Aber ich hab ihn losgelassen.«
Wut erfüllte plötzlich den Landstreicher. »Hund, elender!« knirschte er.
Auf zehn Schritte standen sich die zwei Menschen gegenüber.
»Du bist verhaftet«, sagte der Jäger ruhiger, doch sehr bestimmt, »kein Wort mehr! Schluß!«
»Jawohl, Schluß!« Der Landstreicher schäumte. In seiner Hand funkelte eine Pistole.
Blitzschnell riß der Jäger das Gewehr zur Wange, feuerte, und der erhobene Arm des anderen sank getroffen herab.
»Na, mein Lieber«, sprach der Jäger, »das Schießen wirst du dir abgewöhnen. Her damit!«
Er nahm ihm unsanft die Pistole weg.
»Au!« Der Mann war nun kleinlaut: »Sie tun mir weh ...«
Aus seinem Aermel troff Blut.
»Wohltun werd ich dir«, grollte der Jäger, »du hättest mich niedergeknallt wie einen tollen Hund! Du bist ja ein ganz Gefährlicher!«
Er befahl: »Da ... mach den Draht los, heb ihn auf und gib ihn her.«
»Ich kann nicht«, antwortete der Mann, »ich bin verwundet ...«
»Ach was!« Der Jäger blieb unerbittlich: »Du hast ja zwei Hände! Schnell!«
Stumm machte der Landstreicher sich an die unfreiwillige Arbeit und reichte dem Jäger die Drahtschlinge.
»Die ist von dir!« stellte der Jäger fest, »leugne nicht! Du hast mich niederschießen wollen! Leugne auch das, wenn du kannst!«
Der Mann schwieg.
»Jetzt geh voraus!« gebot der Jäger.
Und der Landstreicher gehorchte. Nach ein paar Schritten blieb er stehen.
»Mir ist übel ... ich kann nicht weiter ...«
»Mach kein Theater! Vorwärts! Zu Haus werde ich dir schon helfen. Werde dich verbinden und werde dir sogar was zu essen geben, bevor ich dich dem Gendarm überliefere. Ich bin kein Unmensch wie du! Aber jetzt ... ohne Komödie ... vorwärts!!«
Die beiden schritten zum Jägerhaus.
Aber alle Vögel, nicht bloß die Wächter, sondern alle, verkündeten diesen seltsamen Auftritt im ganzen Wald.
Man hörte es mit Erstaunen, man begriff nicht, daß ein Er gegen einen anderen Er so feindselig sein konnte.
Im Buschwerk jedoch spielte sich eine Szene des Wiedersehens mit dem Verlorengeglaubten ab.
Boso begann laufend zu rufen: »Mutter! Mutter, Mutter!«
»Da ruft ein Kind nach der Mutter«, meldete Faline.
Sie blieben stehen und horchten.
»Mutter! Mutter!« klang es.
»Das ist Boso!« jauchzte Rolla, »Boso! Mein Boso! Ich kenne seine Stimme! Boso! Boso!«
Sie stürmte ihm entgegen, und als sie sich trafen, umtanzte er Rolla närrisch vor Freude.
Die anderen eilten herbei.
Es war eine frohe Begrüßung.
»Lana, meine liebe Schwester!«
»Boso! Mein Bruder Boso!«
Nun wollten sie hören, was eigentlich geschehen, wie Boso in Bedrängnis geraten und wodurch er losgekommen war.
Boso erzählte. Er hatte ja sehr wenig, beinahe nichts von der Bosheit verstanden, deren Opfer er geworden; noch weniger als nichts von seiner Befreiung. Aber was er wußte, was er gelitten, das berichtete er. Rolla und Lana bestürmten ihn mit Fragen.
»... und Er war bei dir?!«
»Wie ist Er gewesen ...?«
»... sag doch mehr von Ihm!«
Faline und ihre Kinder stellten keine Fragen; sie hörten schweigend zu.
Endlich erinnerte sich Rolla: »Du mußt sehr nett zu ihnen sein. Sie waren so teilnahmsvoll, die drei! Wirkliche Freunde sind das. Besonders Gurri! Sie hat mich getröstet, sie hat Lana und mich getröstet in unserer Angst und Not! Und sie hat recht behalten!«
Boso war nett zu allen; etwas befangen noch, denn die frühere Gespanntheit hatte er nicht vergessen. Er besann sich aber, daß Gurri ihm zur Seite gestanden, als er in der Würgschlinge zappelte.
Das zärtliche Getue wurde Gurri sehr bald zuviel.
Sie rief: »Jetzt wollen wir schlafen! Ich bin müde!!«
»Und es ist ganz hell ...« setzte Geno voll Sorge hinzu.
Behutsam schritten sie davon, ihrem Schlafplatz zu.
* * *