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Der Sommer verglühte gegen Ende des Augustmonats; anfangs September loderte er einmal noch flammend auf.
Den jungen Rehen schien es, dieser angenehme, wohltuend warme Zustand werde ewig dauern.
Voll roter Beeren hingen seit langem die Ebereschen, und so viel konnten die Vögel gar nicht essen, daß die Beeren weniger wurden.
In den Haselstauden guckten die Nüsse aus den entzweigeborstenen grüngelben Hülsen, die sich nun langsam verdorrend ganz gelb färbten.
Eifrig knackten und knabberten die Eichhörnchen an den Nüssen; sättigten sich beinahe bis zum Ueberdruß. Was sie nicht zu bewältigen imstande waren, sammelten sie in Verstecken als Wintervorrat. Nur erinnerten sie sich häufig nicht, wo sie diese Nahrung aufbewahrt hatten. Dann suchten sie verzweifelt danach.
Auch die Eichbäume gewährten ihnen üppigste Ernte. Unzählige Eicheln fielen zu Boden, und die Hirsche kamen des Nachts, um die umherliegenden zu kosten.
Bei dieser Gelegenheit traf Gurri das erste Mal mit den Hirschen und den Hirschkühen zusammen, die der Jäger einfach Tiere oder Kahlwild nennt.
Im ersten Moment erschrak Gurri freilich vor den riesenhaften Gestalten.
Dann jedoch faßte sie sich bald; erlustigte sich an dem Zetergeschrei, das Rolla, das Faline anstimmten.
»Bah-ooh! Bah-ooh!« es nahm kein Ende. Ueber das helle, dünne Plärren von Geno, Boso und Lana mußte sie nur lachen.
Zum Spaß plärrte sie selbst ein wenig.
Aber sie blieb stehen, indessen die andern davonstoben.
»Komm doch mit!« rief ihr Geno im Vorbeiflüchten zu, »das sind die Könige! Komm rasch!«
»Laß mich die Könige anschauen ...«, erwiderte Gurri.
Später, in der Dickung, mahnte Geno: »Die Könige sind gefährlich. Man darf nicht in ihre Nähe.«
»Aber, Geno, bei dir ist alles gefährlich.«
»Das meiste hat auch Gefahr für uns! Du solltest das wissen, Gurri, gerade du!«
»Hast du dich nicht gefürchtet, mein Kind?« fragte Faline.
»Vor den Königen? Nein, Mutter ...«
»Ich glaube«, sagte Faline bekümmert, »ich glaube, du bist noch immer leichtsinnig.«
»Vielleicht, Mutter ... was soll ich dagegen tun ...?«
»Wenn du nur deinen Rücken sehen könntest ...« Faline meinte die Narben, die sich, obwohl von Haaren ziemlich bedeckt, immer noch mit zwei scharfen Strichen auf Gurris Widerrist abzeichneten.
»Die Könige gefallen mir«, lenkte Gurri das Gespräch.
Faline war entsetzt: »Gefallen? Diese Ungeheuer?«
»Ich finde sie schön ...«, erklärte Gurri.
»Du bist ja verdreht!« eiferte die Mutter, »was ist denn schön an ihnen? Was? Plump sind sie, ungeschlacht, abscheulich!«
»Mir ist es leid, Mutter, daß unsere Meinungen nicht übereinstimmen. Die Könige üben einen ganz starken Eindruck auf mich. Wir dürfen stolz sein, daß wir so vornehme Verwandte haben ...«
»Rede nicht von Verwandtschaft«, unterbrach sie Faline, »gar noch Verwandtschaft! Wer hat dir solchen Unsinn in den Kopf gesetzt?«
»Niemand, Mutter; wirklich niemand! Mir fällt das ganz von selbst ein!«
Bambis tiefe Stimme erklang, wie stets unvermutet: »Ich höre euch die ganze Zeit zu.«
»Oh, Vater!« flüsterte Gurri.
»Vater! Vater!« rief Geno entzückt.
Faline hauchte kaum vernehmlich: »Zum Gruß ...«
»Sie hat recht, die Kleine«, sprach Bambi, »ihr Empfinden hilft ihr, das Richtige zu erraten. Die Könige sind unsere Verwandten ...«
»Aber, Bambi ...«, leise wagte Faline diesen Einwand.
Er setzte fort: »Irgend etwas trennt uns freilich von ihnen. Keiner weiß, keiner ahnt, was die Ursache sein mag. Doch die Trennung besteht. Leider! Unüberwindlich! Ebenso ist diese Scheu vor den Königen unüberwindbar. Man kämpft vergebens dagegen an!«
»Ja, Scheu habe ich vor ihnen«, gestand Faline leise, »Scheu und Abscheu ...«
»Mit deiner Abscheu übertreibst du. Warum denn Abscheu? Sie sind doch wirklich sehr schön, die Könige.«
»Schön ...?« Faline sträubte sich, als wollte man ihr einreden, Er wäre schön. »Sag, bitte, nicht, daß diese häßlichen Ungetüme schön sind ... Nur ihrer Kraft danken sie die Königswürde ... Nur, weil sie stärker sind als alle hier im Wald ...«
Noch nie hatte Faline eine so lange Rede an Bambi gerichtet.
Er bewahrte seine sanfte Ruhe.
»Du hast sie gewiß noch nicht richtig angeschaut, Faline. Deine Abscheu entspringt deiner Scheu, und Scheu ist bei dir, ist bei vielen von uns nichts anderes als Furcht. Doch Furcht verschließt die Augen. Schau sie nur einmal gut an, die Könige, schau sie nur gut an ... du wirst ihre Schönheit nicht mehr leugnen. Sie sind viel schöner, viel prächtiger als wir ...«
»Aber ... Bambi!«
»Ja, Faline! Das ist die Wahrheit. Du wirst auch erkennen, wenn du sie erst betrachtet hast, daß wir ihnen verwandt sind, daß wir auf diese Verwandtschaft ein wenig stolz sein dürfen.«
»Stolz ... wegen dieser widerlichen ...«
»Kein Wort mehr«, schnitt er ihr mild gebieterisch die Rede ab, »was dieses Kind mit seinem einfachen Gefühl beim ersten Blick entdeckt hat, muß dein reifer Sinn bestätigen.«
Gurri schwieg und hielt sich so unbeteiligt, als würde gar nicht von ihr, sondern von irgendeinem andern Kind geredet.
Die Beziehung zwischen Bambi und ihr war seit jenem nächtlichen Erscheinen Bambis, seit jenem Morgen, an welchem Gurri die Freiheit gewann, diese Beziehung war überhaupt sonderbar.
Bambi zeigte sich zu seiner Tochter ganz wie früher.
Ganz wie früher erlaubte sich Gurri nie, den Vater anzureden.
Dennoch bestand vom Vater zum Kind, von der Tochter zum Vater eine tiefere Herzlichkeit als je zuvor.
Beide spürten diese erhöhte Intimität, diese gesteigert innige Verbundenheit.
Doch beide, befangen, wurden von Scham gehindert, dem Ausdruck zu leihen.
Niemals gedachte Bambi, nicht einmal bei sich selbst, der unendlichen Mühen, die es ihn gekostet hatte, Gurri zu finden. Nicht zu Gurri, nicht zu Faline erwähnte er etwas davon.
Weder Gurri noch er rührten jemals an das gemeinsame Erlebnis der entscheidenden Nacht, des befreienden Morgens, ihres Zusammentreffens im Wald.
Allein dieses Abenteuer blieb mit allen Einzelheiten in ihrem Herzen frisch lebendig. Sie trugen es schweigend, eins vor dem andern stumm.
Auf der Wiese, auf den Blößen, im Dickicht wuchsen die Herbstzeitlosen hervor, standen mit ihren bleichsüchtigen Stengeln, mit den blaßvioletten Kelchen wie leere Becher da, nutzlos und nichts erwartend.
Geno und Gurri verschmähten diese armseligen Blumen; Faline konnte sich die Warnung sparen.
Sie sagte nur: »Das sind die Boten der leidensvollen Zeit.«
»Wie meinst du das, Mutter?« erkundigte sich Geno.
»Nun, mein Sohn, es ist das letzte, das blüht ...«
»Kann man von diesen seltsamen Pflanzen überhaupt sagen, daß sie blühen?« warf Gurri ein.
»Sie tun, was sie können«, meinte Faline, »die Erde hat jetzt nicht mehr die Kraft, Besseres hervorzubringen. Nach diesen letzten unscheinbaren Blumen gibt es kein Blühen mehr, mein Kind ... bis zum Frühling.«
»Dauert es lange, bis der Frühling kommt?« fragte Geno.
»Sehr, sehr lange, mein Sohn. Inzwischen müssen wir viel Kälte überstehen, müssen bösen Hunger erdulden und große Not leiden.«
»Werden wir das aushalten?« Geno war besorgt.
»Ich hoffe es«, antwortete Faline, »wenn ihr gesund bleibt ...«
»Ach was, ich fürchte die Kälte nicht«, ließ sich Gurri vernehmen.
»Weil du sie nicht kennst«, tadelte die Mutter.
Aber Gurri fuhr fort: »Kein Hunger schreckt mich, und die Not macht mir nicht angst ...«
»Das ist dumm gesprochen«, wies die Mutter sie zurecht.
Im stillen pflichtete Geno der Mutter bei, doch er empfand jetzt zu aufrichtigen Respekt vor der Schwester, um sich ein abfälliges Urteil zu gestatten.
»Wieso denn dumm?« staunte Gurri, »ich verstehe dich nicht, Mutter, uns geht es heute ausgezeichnet! Freuen wir uns doch darüber! Hat es einen Sinn, sich im voraus zu fürchten?«
»Man muß an alles denken, Gurri, an alles! Besonders an die Zukunft!«
»Wozu?« Gurri lachte, »was kommt, kommt! Oder sind wir imstand, durch Angst die Kälte zu hindern, kalt zu sein? Schützt uns die Furcht vor dem Hunger? Werden wir satt sein und keine Not haben, wenn wir uns heute schon mit Bangen quälen? Ja, dann will ich gerne ...«
Wieder unterbrach sie Faline: »Du redest, wie du's verstehst, und du bist leider immer noch so unbedacht wie früher.«
Gurri verlor ihre Munterkeit nicht. »Warum soll ich anders sein? Ich bin, wie ich bin. Wahrscheinlich ist jeder, wie er eben ist, und kann nicht aus seiner Art.«
»Sei nicht gar so zufrieden mit dir!«
Von neuem lachte Gurri. »Zufrieden mit mir? Aber, Mutter! Ich bin mit dem Wald zufrieden! Ich bin zufrieden, bei euch zu sein! Glücklich bin ich über meine Freiheit, denn nur, wer gefangen war, weiß, was Freiheit bedeutet! Aber zufrieden mit mir? Davon begreife ich nichts. Ueber mich habe ich mir noch nie einen Gedanken einfallen lassen.«
Faline sprach: »Der Winter ist eine Zeit unaufhörlicher Gefahren.«
Geno wurde ängstlich und voll Eifer. »Du hast sie ja angekündigt, Mutter, Kälte, Hunger, Not ...«
»Ach, das wäre das Wenigste«, Faline seufzte, »aber im Winter verfolgt Er uns alle. Niemand ist vor der Feuerhand sicher, weder alt noch jung. Wir können uns nirgendwo verbergen.«
»Und das Dickicht ...?« Geno hoffte, beruhigt zu werden.
Faline enttäuschte ihn. »Im Winter schützt kein Dickicht. Büsche und Sträucher sind kahl. Ueberall kann Er hineinschauen ...«
»Du hast doch den Winter überstanden!« rief Gurri, »trotzdem überstanden ... nicht wahr? Viele Winter?«
»Allerdings«, mußte Faline einräumen, »allerdings, viele Winter ... aber mit welcher Bitternis ...«
»Nun!« Gurri blieb fröhlich, »nun, wenn es so weit ist, wollen wir etwas Bitternis hinnehmen, wollen ein wenig Angst haben und werden den ekelhaften Winter ruhig überstehen. Erledigt!«
Geno bebte. Er konnte sich all das nicht vorstellen.
»Zittere nicht, Bruder! Unser Vater ... denk daran ... unser Vater ist Schutz genug!«
Damit schloß die Debatte.
Auf der Wiese spielten die Kinder von Faline und Rolla wieder ganz friedlich zusammen.
Auch die Mütter vertrugen sich.
Dennoch herrschte, kaum merklich, eine leise Gespanntheit zwischen den beiden Familien.
Rolla konnte Falines Zurückhaltung nicht verwinden.
»Du brauchtest kein solches Geheimnis aus Gurris Abenteuer zu machen«, fing sie einmal an, als sie nicht mehr darüber schweigen wollte.
»Wann hatte ich ein Geheimnis ...?«
»Ich habe ohne dich manches erfahren«, Rolla sagte das mit Genugtuung.
»So? Von wem denn?«
»Von den Wächtern. Zu ihnen hat deine Tochter gesprochen. Zu uns nicht!«
»Zu mir ebensowenig«, versicherte Faline.
»Merkwürdig! Nett finde ich das nicht!«
»Warum soll das nicht nett sein?«
»Den Wächtern teilt sie ihr Abenteuer mit, und die geschwätzige Gurri schweigt ihrer Mutter, schweigt uns gegenüber, als wären wir Fremde.«
»Ist meine Gurri so geschwätzig? Dann darf sie euch nicht mehr lästig fallen ...«
»Ich hab dich nicht beleidigen wollen, also sei jetzt nicht gekränkt. Gurri war stets ein munteres Ding! Das habe ich gemeint ... weiter nichts.«
»Sie ist doch ebenso munter geblieben wie sonst, bis heute ...«
»Aber erzählt hat sie nichts ... bis heute ... dir und uns nichts ... nur den Wächtern ...«
»Immer nimmst du ihr die Wächter übel. Du mußt begreifen, Rolla, die Wächter haben sie, haben dich und uns alle so oft vor der Gefahr errettet ... da war sie doch verpflichtet, ihnen von ihren Erlebnissen zu erzählen ...«
»Meinetwegen ... aber warum bleibt sie uns, ihren nächsten Freunden, gegenüber so stumm?«
»Sie ist es ja auch mir, ihrer Mutter, gegenüber ... und ich bin gar nicht gekränkt. Ich bin froh, daß ich sie wieder hab!«
Mit den Kindern trug sich das nämliche zu.
Boso und Lana konnten es nicht mehr aushalten; sie bedrängten Gurri.
Sie forderten einfach die Geschichte.
»Nun bist du ja wieder ruhig ...«, fing Boso an.
Gurri spitzte: »Ruhig? War ich jemals anders als jetzt?«
»Also ...« Lana ging gleich aufs Ganze los, »also, laß endlich mit dir reden!«
»Wir reden ja miteinander ... immer reden wir ... was wollt ihr denn?«
»Dein Abenteuer sollst du uns erzählen!« platzte Boso los.
»Die ganze Geschichte!« rief Lana.
Gurri schüttelte den Kopf: »Da ist nichts zu erzählen.«
»Wir wissen schon mancherlei«, hielt ihr Boso vor.
»Von den Wächtern wissen wir das«, fügte Lana hinzu, »der ganze Wald kennt eine Menge deiner Erlebnisse!«
»Na, dann könnt ihr ja zufrieden sein.«
Lana widersprach heftig: »Wir möchten alles hören!«
Und Boso beharrte: »Von dir! Von dir selber!«
»Ich kann darüber nicht reden!« erklärte Gurri. Sie rannte mitten in die Wiese.
Boso und Lana schickten sich an, ihr zu folgen.
Geno hielt sie auf.
»Laßt sie! Es ist umsonst! Sie wird nichts sagen!«
»Ist das Freundschaft?« Boso entrüstete sich.
Lana schwieg verärgert.
Gurri rief: »Kommt doch! Wettlaufen!«
Aber nur Geno sprang zu ihr hin.
Die Freundschaft schien wirklich gelockert.
Ein paar Nächte lang lockerte sie sich mehr und mehr.
Doch ein ernstes Ereignis trat ein, stürzte den Wald, besonders die Rehe, in größte Aufregung, und jede Gespanntheit schwand dahin.
* * *