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Faline blieb jetzt immer mit Geno beisammen.

Den Gatten und Vater bekamen sie nie zu Gesicht.

Hin und wieder berichtete das Eichhörnchen, es habe Bambi gesehen.

Er ging seltsame Wege, wurde in Gegenden getroffen, wo man ihn vorher nie vermutet hätte.

Das Eichhörnchen zeigte sich sehr teilnehmend an Gurris Verlust. »Ach, ich war gerade am Einschlafen, als ich den Donner hörte. Dem Fuchs gönne ich ja, daß Er ihn umgeworfen hat ... nur das kleine Prinzeßchen ... es ist zu traurig ... zu traurig ...«

Aufrecht saß das Eichhörnchen, an seine wehende Fahne gelehnt, beide Vorderpfötchen gegen die weiße Brust gedrückt, um sein Beileid zu beweisen. Doch die hochgespitzten Ohren, die von netten Büscheln überragt wurden, die glänzenden Augen, das wirkte nur fröhlich.

Von der Elster und vom Häher erfuhr Faline, was Geno ihr verheimlicht hatte.

»Mich trifft keine Schuld«, rechtfertigte sich die Elster, »den Fuchs habe ich lange bemerkt, habe auch gewußt, wo Er lauert. Wie ich auch rief und warnte, es war vergeblich. Die kleine Prinzessin hörte nicht.«

»Sie wollte nicht hören«, verteidigte sich der Häher, »was habe ich geschrien und geschrien! Umsonst! Das junge Ding muß einem leid tun! Sehr leid!«

»Ganz gut war es zu vermeiden«, schakerte die Elster, »denn Er hat ja nur auf den Fuchs gewartet.«

Faline stöhnte und Geno schmiegte sich seufzend an sie.

Die einzige gute Nachricht kam vom Waldkauz.

Er gellte nicht, er war nicht darauf aus, zu erschrecken.

Unhörbar flog er heran, setzte sich auf den niedersten Zweig, schaukelte hin und her, rüttelte den Flaum seines Gefieders und begann zart zu reden.

»Trösten Sie sich, Prinzessin Faline ... Schicksal! Dem Schicksal entgeht niemand.«

»Aber das Schicksal, wie Sie es nennen, das Schicksal sollte nicht so grausam sein«, antwortete Faline.

»Was wollen Sie?« erwiderte der Waldkauz, »das Schicksal war gnädig!«

»Finden Sie? Mein unglückliches Kind ... so frisch, so jung ... und dahin.«

»Aber! Aber!« Der Waldkauz gurrte sein angenehmes Lachen. »Ihre Tochter lebt!«

Faline fuhr auf, von Freude durchzuckt: »Gurri ... lebt?!«

Geno lauschte erleichtert, mit größtem Entzücken.

»Das war so«, erzählte der Waldkauz, »unter meinem Horst ist Er vorbeigegangen. Ich kann nicht behaupten, daß ich Ihn liebe. Oh nein! Aber ich sehe, Er trägt jemanden von Ihnen. Anders trägt Er ihn, als wenn Er ihn mit der Feuerhand ermordet hätte. Sie wissen, ich bin neugierig; rasch fliege ich Ihm nach und ... und erkenne Gurri. Freilich, die Kinder sind zu mir nicht nett gewesen. Aber jetzt vergesse ich das. Eigentlich kann ich Ihrer Gurri gar nichts vorwerfen. Nur der Bursche da war frech zu mir.«

»Verzeihen Sie!« fiel ihm Geno stürmisch ins Wort, »bitte, verzeihen Sie!«

Der Waldkauz gab ihm keine Antwort, sondern redete weiter: »Ich sehe, daß Gurri blutet. Sie tut mir leid, und ich denke an Sie, Prinzessin Faline, an Ihre Sorge, an Ihren Kummer, denke an Bambi ... Während Er geht, streiche ich ganz nahe über Ihn. Da merke ich, daß Gurri sich regt; immer heftiger regt sie sich, immer mehr wird sie munter. Sie will sich befreien, sie strebt zu Boden! Doch Er läßt sie nicht los; mir scheint, Er liebkost sie. Ich möchte Gurri gerne helfen und schreie dicht an Seinem Ohr, schreie, so laut ich kann. Vielleicht erschrickt Er und läßt Gurri fallen. Allein, Er fürchtet ja keinen von uns hier im Wald, und vor meinem Schrei erschrickt Er nicht. Das alles hab ich Bambi schon erzählt. Sie können ganz ruhig sein; Ihre Gurri wird gesund, sicherlich ... und bald!«

»Wenn sie nur lebt«, murmelte Faline schweren Herzens, »wenn sie nur lebt. Jedenfalls danke ich Ihnen für die Nachricht. Ich kann Ihnen nie genug danken.«

Ehe der Waldkauz etwas erwidern konnte, bat Geno leidenschaftlich: »Bitte, bitte, verzeihen Sie mir! Verzeihen Sie mir! Ich bereue meine Keckheit! Ich verehre Sie ... und glauben Sie mir auch das: Ich bin jedesmal erschrocken. Ich hab mich nur geschämt, es zu gestehen. Bitte, bitte, verzeihen Sie mir!«

»Schon gut! Schon gut!« Der Waldkauz wurde in seinem stolzen Behagen kugelförmig. Er lachte voll Genugtuung: »Sie sehen, mein kleiner Prinz, man ist doch zu etwas nütze! Auch alte Leute leisten zuweilen Großes. Man darf sie nicht einfach verachten, nur weil man jung ist.«

»Nie hab ich Sie verachtet!«

»Lassen Sie sich das zur Lehre dienen«, predigte der Waldkauz, »junge Leute wissen so viel wie gar nichts und meinen alles besser zu wissen! Sie sind aus einer noblen Familie, Prinz Geno, Sie haben den Edelmut Ihrer Eltern in sich, und es ist edel von Ihnen, daß Sie mich um Verzeihung bitten. Ich verzeihe Ihnen, ja, ich werde Ihr Freund sein.«

Er war geradezu großartig, der Waldkauz.

Die folgenden Wochen blieb Bambi unsichtbar.

»Wo ist der Vater?« fragte Geno oft.

»Das ahne ich nicht«, entgegnete Faline immer.

»Mutter«, sagte Geno, »Mutter, warum bist du nicht fröhlich? Gurri lebt ja doch.«

»Sie lebt«, Faline nickte, »ich hoffe, daß sie lebt ... aber ... sie ist nicht da ... nicht bei uns ... sondern irgendwo ... ferne ...«

»Meinst du, es geht ihr nicht gut?«

»O doch! Ich fürchte nur, daß es ihr viel zu gut geht.«

»Erkläre, Mutter ... erkläre mir das ... ich begreife nicht ...«

Nun weihte Faline ihren Sohn gründlich in das Schicksal von Gobo ein; schilderte, wie Er den schwachen, kleinen Gobo aus dem Schnee gerettet und heimgetragen hatte, wie Gobo bei ihm aufwuchs, gesund und stark wurde. Das alles, das früher den Kindern nur eine ergötzliche Geschichte bedeutet hatte, erhielt jetzt dunkle, drohende Schatten. Faline sprach von dem überraschenden, von dem glückseligen Wiedersehen mit dem Verlorengeglaubten. Sie erwähnte den alten Fürsten, der das Wort »Unglücklicher« ausgesprochen hatte.

»Gobo war der Welt entfremdet, behandelte uns und den Wald mit Geringschätzung, bildete sich ein, mehr zu verstehen als wir alle, und bildete sich ein, Er wäre sein Freund ... daran starb Gobo ... von der Feuerhand erschlagen ...«

»Schrecklich ...«, flüsterte Geno.

»Begreifst du jetzt, mein Sohn, warum ich nicht fröhlich sein kann? Jetzt ist mit unserer Gurri etwas Ähnliches geschehen, und jetzt bange ich um deine arme Schwester.«

Geno begriff.

Bei dem Dasein, das Mutter und Sohn nun führten, wagten sie sich selbst des Nachts kaum auf die Wiese, sondern streiften beständig durch die Büsche, über kleine Blößen.

Zwei-, dreimal hatten sie auf der Wiese Rolla mit ihren Kindern gesprochen. Seither vermieden sie, ohne etwas darüber zu reden, diese Begegnung und die Wiese überhaupt.

Faline war aufgewühlt, wenn sie Rolla mit den Kindern sah.

Geno wurde aus dem gleichen Grunde traurig.

Zudem schwatzte Rolla unaufhörlich von Gurri, worüber Faline außer Fassung geriet.

»Ich begreife nicht, wie das Unglück passieren konnte«, wiederholte Rolla immer aufs neue.

»Was hilft da Begreifen oder Nichtbegreifen?« dachte Faline, »es ist nichts zu ändern; leider ...«

Boso und Lana verlangten dringend die Geschichte von Gurri zu hören.

Geno hatte sie ihnen zweimal erzählt und beide Male darunter gelitten. Boso und Lana genügte das jedoch nicht. Sie wollten den Hergang wieder und wieder hören.

»Was hat der Fuchs getan?« fragte Boso.

Lana, als ob sie es nun erst erfahren würde: »Ist Er gräßlich gewesen? Er?«

»Du hast Ihn ja gesehen«, drängte Boso, »rede endlich!«

Geno wehrte sich: »Ich habe euch alles schon erzählt ...«

»Das schadet nichts!« rief Lana.

Und Boso verlangte sachlich: »Erzähle noch einmal! Von Anfang!«

Geno machte kehrt und entlief.

Weder er noch Faline hielten es aus, wenn Rolla und ihre Kinder von der Zeit sprachen, da Boso und Lana allein waren. Sie prahlten miteinander ein wenig.

Rolla schwieg darüber, daß sie sich nun dennoch einem neuen Gatten gesellt hatte.

Faline und Geno gingen nicht mehr auf die Wiese. Sie fanden Ersatz. Ein großer Kahlschlag ließ Faline staunen.

»Hier sind einst mächtige Eichen gewesen«, sagte sie, »Baum neben Baum. Muß Er alles zerstören?«

Geno machte sich nichts daraus; er nahm das Vorhandene nach Kinderart, wie es eben war, als etwas Endgültiges, und er trollte, angelockt von würzigen Düften, in den Schlag. Die Mutter folgte ihm.

Kleine Haselstauden wucherten überall, junge Silberpappeln, Holunder, Schlehdorn, Liguster, und es winkten vielversprechende Gräser, schmackhafte Kräuter. Dazwischen glänzten in breiten, hellen Scheiben die Stümpfe gefällter Stämme.

Die Wurzeln der alten Eichen hatten noch Urkraft bewahrt, und sie trieben aus den Rinden der verstümmelten Ueberreste ein Gewirr von Schößlingen hervor. Die waren bittersüß und strotzten von Saft.

Geno glaubte, noch nie so was Gutes gegessen zu haben. Auch Faline, die dergleichen von früher her kannte, labte sich an der köstlichen Aesung.

Den Hirschen galt dieser Schlag als ihr liebster Nährboden. Von allen Seiten wanderten sie herbei, suchten ihn auf, ganz heimlich mitten in der Nacht, besonders wenn kein Mond am Himmel stand oder wenn die Wolken ihn verhüllten. Dann weilten die Hirsche stundenlang hier.

Heute gab die dünne Mondsichel nur matten Flimmerschein.

In solch fahlem Licht wirkten die Hirsche noch weit größer.

Sie befanden sich jetzt in der Feist; sie hatten ihr Geweih verfegt, und wie sie einer nach dem andern auftraten, boten sie einen imposanten Anblick.

Geno hatte noch nie einen Hirsch gesehen.

Als der erste nebelhaft sichtbar wurde, ganz leise, beinahe geschlichen kam, riesig, schier drohend, begann Geno zu zittern und starrte die gespenstische Erscheinung an, ohne sich zu rühren.

Der zweite, der dritte glitt heran, gigantische Schatten, doch ohne Zweifel lebendig.

Jetzt hatte Faline die Hirsche wahrgenommen. Das Entsetzen packte sie, von dem die Rehe bei jedem Zusammentreffen mit Hochwild ergriffen werden. Sie stieß einen Schrecklaut aus: »Bah–oh!« Fluchtartig rannte sie weg vom Schlag in die Dickung, und sie schreckte fortwährend langgezogen: »Bah–oh! Bah–oh! Bah–oh!«

Sie konnte nicht aufhören.

Geno verlor die Fassung; er wollte fort, wollte zur Mutter, doch zunächst vermochte er nicht, sich vom Fleck zu bewegen. Gebannt hingen seine Augen an den ungeheuren Gestalten, die langsam umherwandelten.

Aus dem Dickicht klang das Schreien Falinens: »Bah–oh! Bah–oh!« Es entriß Geno plötzlich seiner Erstarrung.

Wie toll raste er der Mutter nach, in hohen, stürzenden Fluchten. Kein Ton war in seiner jungen, zugeschnürten Kehle, so sehr er sich auch bemühte, gleich der Mutter zu schreien.

Endlich erreichte er Faline.

»Mutter ... Mutter ...!« Seine Stimme war erstickt, »wer ist das?«

Faline aber schrie in kurzen Pausen: »Bah–oh! Bah–oh! Bah–oh!«

Sie ließ sich nicht aufhalten, ging mit steifen Schritten tiefer in den Wald hinein.

»Ist noch Gefahr, Mutter?« Geno war sehr bang.

»Nein, mein Sohn«, erwiderte sie endlich, »ich hoffe nicht ...« Sie brach in ein letztes empörtes »Bah–oh!« aus.

Schüchtern stellte Geno die Frage: »Wer war das?«

»Das waren die Könige ...«

Ehrfurchtsvoll wiederholte er: »Die Könige ... Sind die Könige böse?«

»Das weiß niemand genau. Zuweilen sollen sie sehr arg werden. Man hat eine furchtbare Geschichte herumgetragen.«

»Was für eine Geschichte, Mutter? Bitte, erzähl mir.«

»Ach, das ist schon lange her ... schon sehr, sehr lange ...«

»Bitte, Mutter, bitte, die Geschichte ...«

»Nun, einer der Könige soll einen unserer Prinzen gespießt haben.«

»War der Prinz tot?«

»Das kann ich nicht sagen. Ueberhaupt ... du hörst doch ... das ist schon sehr lange her. Keiner, der es gesehen hat, lebt mehr. Auch dieser König nicht. Er soll wenige Tage darauf durch die Feuerhand umgekommen sein. Niemand weiß heute, was zwischen dem König und dem Prinzen vorgefallen ist. Sonst kümmern sich die Könige nicht um uns.«

»Sehen wir ihnen nicht ähnlich, Mutter?«

»Keine Spur! Freilich gibt es einige unter uns, die behaupten, daß wir mit den Königen verwandt sind. Ich bin anderer Meinung. Ihre großen plumpen Figuren haben etwas erschreckend Fremdes! Widerlich!«

Geno schauderte.

Inzwischen ästen die Hirsche friedlich auf dem Schlag. Fast unsichtbar. Nur das rupfende Geräusch der abgebissenen Blätter und Gräser war vernehmlich.

 

* * *

 


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