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Das Moos begann saftig-grüne und gelbliche Farben zu zeigen.

Ganze Flächen kleiner Bodensenkungen waren mit hellblauen Vergißmeinnicht wie mit Teppichen überbreitet.

Dunkelblau schimmerten überall duftende Veilchen.

Ihr feiner, süßer Atem mengte sich mit dem Geruch der Erde, der von unzähligen Keimen verheißend schwoll.

Ein zartgrüner Schleier hing an den Bäumen, an den Sträuchern und Stauden. Sprossendes Laub.

Und lauwarmer Sonnenschein ermunterte, ein sanfter Lufthauch fächelte den Wald, der aussah, als bereitete er herrliche Feste vor.

Freudig klang das Amsellied des Morgens und ebenso in den abendlichen Stunden.

Die Finken schmetterten ihre melodischen Strophen; Rotkehlchen und Zeisige konzertierten; Elstern und Häher, jetzt noch ohne den Wächterberuf zu üben, machten sich dennoch durch eifriges Schakern und lautes kreischendes Schreien bemerkbar.

Gurri erinnerte sich der Lerche und erzählte von ihr.

Membo wie Nello lauschten, als hörten sie ein wundersames Märchen. Sie entzückten sich, wie klein, wie unscheinbar, wie genügsam die Lerche war und wie ihr Jubelsang unermüdlich vom Himmel her niederströmte. Die Lerche wurde zum Sehnsuchtstraum.

Stammelnd sagte Membo: »Ich...ich ... mö...möch...möchte die...die Le...Le...Lerche hö...hö...hören!«

Gurri schwieg.

So oft stammelte Membo von seiner Sehnsucht nach der Lerche, bis Gurri ihn warnte, sich das lieber nicht zu wünschen, denn es wäre doch teuer erkauft.

Nun verstummte Membo.

Er wie Nello hatten verstanden, daß Gurri ihre Gefangenschaft meinte; aber sie stellten keine Fragen, sie baten nicht um Einzelheiten von Gurris Erlebnis, noch rührten sie überhaupt daran, erwähnten auch die Lerche nicht mehr. Gurri hütete sich, darauf zurückzukommen.

Nach einem heftigen Trommelwirbel gellte zum erstenmal das Auflachen des Spechtes.

Wiederholt wurde das berstende Gocken der Fasane, das heftige Knattern ihrer Schwingen laut.

Kühner Falkenruf drang aus der Luft hernieder,

»Nun, kleiner Bruder«, sprach die hohe Eiche den Schmächtigen an, »meine Blätter sind noch winzig, nichts nehme ich dir fort, weder Atem noch Sonne.«

»Oh, du Heuchler«, zürnte der Schmächtige, »von der Kraft, die deine Wurzeln den meinigen stehlen, redest du gar nichts!«

»Nimm dir doch, soviel du kannst! Nütze die Gelegenheit! Entfalte dich!«

»Soviel ich kann! Wieviel kann ich denn neben dir? Du bist der Stärkere! Und du verspottest mich!«

»Wenn du endlich einsiehst, daß ich der Stärkere bin, halte Freundschaft mit mir.«

Erbittert entgegnete der Kleinere: »Endlich? Von jeher weiß ich, daß du stärker bist, und werfe dir das immer vor! Keine Freundschaft! Nur Vorwürfe!«

»Was willst du mit deinen Vorwürfen erreichen?«

»Meinen Groll gegen dich ausschütten!«

»Wäre statt Groll nicht Freundschaft besser?«

»Ich verzichte auf die Gnade deiner Freundschaft, die du mir anbietest! Der Schwächere, der ich leider bin, haßt den Uebermut, den Dünkel des Stärkeren! Ich kann nicht anders! Freundschaft ist zwischen uns unmöglich!«

Die hohe Eiche sagte: »Du langweilst mich mit deiner frechen Ohnmacht.«

»Der Starke nennt die Wahrheit immer frech!« zeterte der Schmächtige.

Er bekam keine Antwort mehr.

Würzige Gräser und Kräuter sproßten in Menge. Die Wiese wurde wieder nahrhaft und besät von den goldenen Köpfen des Löwenzahns, von den weißen Sternen der Margueriten.

Die Rehe labten, sättigten sich; sie zupften die erreichbaren jungen Blättertriebe von den Sträuchern.

Das fahlgelbe Winterkleid schwand wie durch Zauber hin; rotes Fell trat allgemach leuchtend hervor.

»Jetzt haben wir schon den dritten Rock«, stellte Gurri vergnügt fest.

Sie waren alle miteinander vergnügt, mehr noch, sie waren ausgelassen, beinahe bis zur Tollheit.

Am hellen Vormittag noch fegte ihr Frohsinn über die Wiese, und das Gras zischte seidig, wenn sie hindurchjagten, immer hörbarer.

Rolla, Boso und Lana hielten sich dauernd der Wiese fern.

Niemand vermißte sie, niemand redete von ihnen.

Auf Genos Haupt wuchs das, was künftig eine Krone werden sollte, erstaunlich schnell.

Zwei dünne Stengelchen, kaum so hoch wie der kleine Finger eines Menschen und durch die Basthülle scheinbar größer. Anfangs achtete niemand darauf.

Doch Geno verhieß ein kapitaler Bock zu werden, denn gemessen an den winzigen Stümpfen, die Nello und Membo trugen, machte er weit über sein Alter Eindruck.

Gurri lenkte die Aufmerksamkeit auf ihn: »Schau doch, Mutter! Die Krone von Geno wird immer höher!«

»Ich sehe es, mein Kind; er gerät dem Vater nach.«

Geno hob das Haupt. Alles, was ihn mit dem Vater in Beziehung brachte, erfüllte ihn mit stolzem Hoffen.

Nello betrachtete ihn ohne Neid: »Ja, du! Wer von uns darf sich dir vergleichen?«

Bewundernd stammelte Membo: »K...k...kei...kei...ner!«

»Und doch gibt es einen, der sich mehr dünkt als ich«, dachte Geno und entsann sich seit langem wieder einmal des überheblichen Boso; doch er sagte nichts.

Bambi blieb unsichtbar.

Faline wußte warum; sie wunderte sich keineswegs. Sie begriff, daß Bambi sich erst zeigen wollte, wenn er die Krone wieder trug.

Er schob sein Gehörn so voll gesunder Kraft wie nur je.

Die Einsamkeit, die er zuzeiten liebte, währte diesmal länger, als er wünschte.

Denn er hatte Sehnsucht nach den Kindern und empfand Neugierde, Geno zu sehen.

Ueberall im Wald zogen die Rehböcke umher, und ihr Gehörn ragte noch unfertig auf ihren Häuptern.

Keiner jedoch erblickte Bambi.

Auch die Hirsche schoben ihr Geweih.

Der Jäger nennt dieses Wachstum, das sich Jahr für Jahr an Reh und Hirsch vollzieht, »Schieben«, wie er das Abstreifen der Basthülle »Fegen« nennt.

Jetzt wanderten die Hirsche wieder ohne Verschämtheit umher. Sie wußten, sie durften sich blicken lassen.

Gleich den Rehböcken warteten sie nicht, bis sie ihre Kronen verfegt hatten, um sich zu zeigen.

Das tat einzig Bambi, den man überhaupt nur im seltensten Fall zu Gesicht bekam, und nur dann, wenn er es darauf anlegte.

Bald begegneten die vier Kinder, die sich stets in Falines Gesellschaft aufhielten, dann und wann einem Hirsch.

Jedesmal erhob sich ein weitläufiges banges Bah – ooh!

Faline schrie am lautesten. Die drei jüngeren Böcke krähten mit noch ungewechselten Stimmen, und alle zusammen ergriffen die Flucht.

Einzig Gurri stieß bloß ein rasches Bah – oh! aus, deutlich zum Spaß. Und um sich gefällig zu erweisen, lief sie mit den anderen davon.

»Hast du keine Angst vor den Königen?« staunte Nello.

»Wenig«, lächelte Gurri, »ein bißchen fürchte ich mich schon. Doch nicht so sehr wie die Mutter und ihr.«

»I...i...ich für...für...fürch...fürchte mi...mi...mich ent...ent...«

»Entsetzlich!« ergänzte Nello.

»Sie sind schön, die Könige«, gab Faline zu, »ich erkenne jetzt ihre Schönheit, die ich so oft geleugnet habe.«

»Na also!« Gurri unterhielt sich, »früher fandest du, daß sie abscheulich sind! Wenn du nun das Gegenteil weißt, wenn du die Könige als unsere Verwandten nicht mehr bestreitest ... wozu dann die Angst?«

»Vielleicht ist Angst ein falscher Ausdruck, mein Kind ... aber ich kann den Anblick der Könige nicht ertragen; ihre Nähe jagt mir Grauen ein.«

»Seltsam«, wunderte sich Gurri, »warum Grauen?«

»Du...du...du...«, brach Membo los, »du... bi...bist gro...gro...großa...ar...artig!«

»Sie hat Erfahrungen mit den Königen«, sagte Geno.

»Trotz dem Verbot des Vaters«, fügte Faline hinzu, »trotzdem sie wie wir alle von ihm gewarnt wurde, ist sie den Königen nachgegangen.« Sie sprach in so sanftem vorwurfsfreiem Ton wie von einer Sache, die verziehen und erledigt ist.

Bisher war nie von Gurris Abenteuern die Rede gewesen; niemand ahnte, was sie erlebt hatte.

»Erfahrungen?« meldete sich Nello bescheiden, »wenn du wolltest ...«

Leidenschaftlich stammelte Membo: »Bi...bi...bitte ...!«

Gurri erzählte zum erstenmal.

Nicht bloß Nello und Membo, auch Faline und Geno horchten voll sprachloser Gespanntheit.

Ganz einfach, ohne das Erschaute auszuschmücken, berichtete Gurri.

Sie ließ es unerwähnt, daß eine innere magische Gewalt sie zu den Königen gezogen, daß ihre donnernden Stimmen sie hingerissen.

Nur den kraftvollen Herrscher schilderte sie; dessen siegreichen Kampf. Sie schilderte, wie der überwältigte Rivale mit zerbrochener Krone zur Wiese hinausgetreten war, und wie ihn dort die Feuerhand niedergeschleudert hatte.

Daß sie selbst vorher von dem Unglücklichen schwer bedroht worden war, verschwieg sie ebenso wie daß eine Königin vor ihr geflohen. – Alle blieben tief erregt stumm.

Endlich platzte Membo, der seiner Hemmnisse ungeachtet Redselige, los: »Ei...ei...eine He...He...Heldin ... bi...bi...bist d...d...du! Wirklich!«

Lächelnd wehrte Gurri ab: »Heldin? Keine Spur! Ein neugieriges, keckes Ding, nichts weiter!«

Rundweg erklärte Geno: »So was hätte ich niemals gewagt.«

Nach kurzer Pause sagte die Mutter ungefähr dasselbe, was Bambi damals gesprochen: »Du hast eben Glück gehabt ...«

Heiter entgegnete Gurri: »Ja, Glück gehört dazu! Man muß an das Glück glauben, muß ihm fest vertrauen, dann hat man Glück!«

»Hast du das damals getan?« fragte Nello, »oder früher in deiner Gefangenschaft ...?«

»Nein!« gestand Gurri, »keineswegs so, wie ich es jetzt hier erzähle. Daran dachte ich keinen Augenblick! Dergleichen wird einem wohl erst hinterher klar.«

An den Sträuchern und an kleinen Bäumchen wiesen aufgerissene Rinden, bloßgelegtes Holz, das erst gelb und später rötlich wurde, die Spuren des Fegens.

Schwache Rehböcke fegten ihre Kronen an schwachen Zweigen, kleine an niederen Aesten, während starke, größere Böcke stärkere, höhere Sträucher bedrängten.

Bambi hatte seine Krone früher als alle übrigen rein.

Die heimlichsten Plätze suchte er; die kräftigsten Sträucher genügten ihm kaum.

Sein mächtiges Haupt fegte mit gewaltigen Hieben den Bast von der Krone, riß in breiten Streifen die Rinde von Hasel- und Holunderbüschen.

Man hätte gemeint, er litte an Tobsucht; doch seine Heftigkeit entsprang keiner Erregung, sondern nur harmlosem Eifer.

Endlich funkelte ihm die Krone, gebeizt durch den Saft des verwundeten Holzes, fast schwarz, und die langen sechs Zinken glänzten so hell wie Elfenbein.

Sein Kommen wurde als frohes Ereignis gefeiert.

Nello und Membo hielten sich abseits und verehrten stumm die fürstliche Erscheinung.

Er beäugte die zwei Kleinen und wendete sich zu Faline: »Wen habt ihr da bei euch?«

Faline nannte die Namen, setzte hinzu: »Ihre Mutter ist ein Opfer des großen Schreckens geworden.«

»Sind sie immer da?« wünschte Bambi zu wissen.

»Ich habe mich ihrer angenommen«, erteilte Faline Auskunft. »Geno und Gurri mögen sie gut leiden; sie sind ihnen wie Geschwister, und seit wir mit Rolla, mit Rollas Kindern auseinanderkamen ...«

»Was hat's denn gegeben?« Bambi zeigte eine Spur von Lächeln. Er war anläßlich des Wiedersehens zugänglicher und aufgeschlossener als sonst, und nach Falines Antwort: »Boso hat Geno beleidigt«, forderte er gütig: »Wie geschah das, mein Sohn?«

Geno meldete alles, was sich begeben, sachlich, ohne Bitterkeit; nur da er auch erwähnte, wie respektlos Boso von Bambi gesprochen, lächelte dieser ganz offen.

Er hatte Geno, während dieser erzählte, prüfend betrachtet.

»Wieso weißt du, daß ich es war, der dich rettete? Hast du mich erkannt?«

»Eigentlich nicht, Vater, ich sah dich ja kaum. Aber außer dir wäre kein anderer dessen fähig!«

»Auch ich«, bekannte Faline, »auch ich bin mit Rolla entzweit.«

Sie erzählte die Ursache.

»Und du, meine kleine Tochter?« Bambi trat zärtlich zu Gurri: »Du bist wahrscheinlich mit Lana böse?«

Gurri lachte. »Mit niemandem bin ich böse. Wirklich mit niemandem! Ich finde auch gar keinen Grund!«

Bambi schaute sie wohlgefällig an. »Das habe ich von dir erwartet.« Zu Faline: »Ihr hättet euch versöhnen sollen!«

Geno rief dazwischen: »Gurri hat's ohnehin vorgeschlagen!«

»Brav, meine Tochter«, lobte Bambi, »nun ... und ...?«

»Und«, berichtete Geno, »es war nicht möglich ... sie verhielten sich zu feindselig ...«

»Kein Wunder! Du tust Rolla Unrecht, Faline! Von Boso sage ich nichts; der ist ein dummes Kind! Aber Rolla kann so wenig dafür, daß Geno in Gefahr geriet, so wenig ... wie du selbst ...«

Faline verstummte und erinnerte sich, daß Gurri die gleiche Meinung geäußert hatte. Sie schämte sich und fürchtete, die Tochter werde ein triumphierendes Wort äußern.

Doch Gurri schwieg.

»Nun, ihr zwei«, redete Bambi die schüchternen Brüder an, »kommt einmal her zu mir.«

Sie näherten sich zögernd, ehrerbietig.

Zeichnung: Hans Bertle

»Habt ihr keinen Vater?«

»N...n...n...nei...nein!« Membo verschluckte sich.

»Er ist gefallen«, flüsterte Nello, »am selben Tag, an dem die Mutter ...«

»Also, meine Lieben, solange ihr Eltern braucht, dürfen sie euch nicht fehlen. Eine Mutter habt ihr ja«, sein Haupt deutete nach Faline, »und ich will euer Vater sein. Seid ihr einverstanden?«

»Wi...wi...wie ... so...soll...« Membo konnte nicht weiter.

Statt seiner sprach Nello: »Wie sollten wir anders als mit innigstem Dank ...« Auch er vermochte nicht weiter zu sprechen vor Ergriffenheit. Also schwieg er.

»Wer bin ich?« fragte Bambi.

»U...u...un...ser ... Für...Für...Fürst!« preßte Membo gewaltsam hervor.

»Nicht so, Kinder! Wie müßt ihr zu mir sagen?«

Nello gehorchte, in gerührter Freude erstickend: »... Vater ...«.

Membo gedachte, es noch besser zu machen, indem er mit nassen Augen stammelte: »T...t...teu...teu...rer ver...ver...verehrt...«

»Genug.« Bambi winkte ab: »Folgt mir, ihr drei.«

Er schritt ihnen voran, suchte im Buschwerk einen niederen Strauch: »Fege deinen Bast«, befahl er Geno.

Der schlug unbeholfen an den Zweig; aber Zweig wie Bast blieben unversehrt.

Geduldig belehrte ihn der Vater, bis Geno den rechten Nackenschwung heraus hatte.

Ein ganz schmales Fetzchen Bast hing mit winzigen Blutströpfchen herab; doch der Haselzweig, so zart er war, wies nur einen dünnen rötlichen Strich.

»Das ist schon etwas«, Bambi ermunterte den Sohn.

Membo drängte heran, um sein Stüpfchen zu erproben.

»Laß«, sagte Bambi, »du hast noch Zeit.«

Unbefangen stotterte Membo: »A...a...an...fang...fangen ...«

»Recht von dir, man kann nie früh genug anfangen.«

Nello tadelte den Versuch des Bruders: »Du scheinst dich mit Geno in eine Reihe zu stellen ...«

Erschrocken widersprach Membo: »N...n...nein!«

»Hört mich an, Kinder«, sprach Bambi, »ihr habt nun erlebt, daß die Blätter von Baum und Busch fallen, wenn die schlechte, die kalte Zeit kommt; nicht wahr? Ihr wißt, daß Baum und Busch sich neu begrünen, wenn die Sonne zu neuem Leben ruft. So weit seid ihr schon mit eurer Kenntnis des Daseins.«

Ein dreifaches »Ja!« klang als Antwort.

»Jetzt merkt euch: wir stehen unter dem ewigen Gesetz des Waldes, die Könige und wir. Sonst niemand! Das ist unser Adel! So wie Baum und Busch ihre Blätter verlieren, fallen auch von unserem Haupt die Kronen. Steigt der Saft in die Blätterknospen und sprießt das Laub hervor, wachsen unsere Kronen wieder. Mit jedem Jahr kräftiger. Habt ihr verstanden?«

Die drei jungen Rehböckchen nickten stumm bewundernd.

»Was Baum und Busch für einen Schutz in der schlechten Zeit genießen, weiß ich nicht«, fuhr Bambi fort, »vielleicht behütet sie etwas unter der Erde. Unser Kleid ist in der Kälte warm, dicht, erdfarben und wird jetzt wieder prangend rot. Jedenfalls denkt stets daran, wie innig wir mit Baum und Busch, wie untrennbar wir mit dem Wald verbunden sind!«

Membo hatte unterdessen an seiner Rechtfertigung gearbeitet. Jetzt brachte er ohne erhebliches Stottern plötzlich hervor: »Ich ... dach...te ... nie ... mich mi...mich mit Ge...no in ein...eine Rei...Reihe ... zu...zu ... stellen!«

Allein Bambi war verschwunden, worüber die Brüder in großes Staunen gerieten.

Geno beschwichtigte Membo: »Das ist kein Verbrechen, sich mit mir in eine Reihe zu stellen; wir sind ja Geschwister!«

Da Nello sich über die plötzliche Unsichtbarkeit Bambis nicht fassen konnte, erklärte ihm Geno: »Der Vater geht und kommt immer auf so rätselhafte Weise.«

Sie kehrten zu Faline und Gurri zurück, trugen auf ihren Mienen den Abglanz von Bambis Gegenwart, von früher Eingeweihtheit, von erstem Erwachsensein.

Voll entfaltet rauschte das junge Laub schmeichelnd holden Sang, wie eine zärtliche Luft die Blätter leise bewegte.

Der Ruf des Kuckucks tönte unternehmend durch den Wald.

Von Wipfel zu Wipfel schwang sich freudetrunken der Pirol, der immerfort beteuerte: »Ich bin da - a! Ich bin froh - oh!«

Faline blieb nun oft allein; nur Gurri hielt sich meistens zu ihr.

Geno streifte in Begleitung von Nello und Membo umher, oder er verließ auch diese Kameraden, um seinem früh erwachten Hang zur Einsamkeit nachzugehen.

Er war sich gar nicht bewußt, daß er jetzt so häufig die Trennung von Mutter und Schwester, sogar von den Gefährten vollzog. Hätte ihn jemand aufmerksam gemacht, wäre er sehr erstaunt gewesen, denn unvermindert liebte er sie alle. Aber keiner sagte ein Wort. So folgte er ohne Gedanken darüber und ohne jegliches Arg dem Trieb seiner Entwicklung.

Ihn regte es wunderbar an, Entdeckungen zu machen; selbständig, die Weisungen der Mutter nicht zu gebrauchen, Plätze zu finden, Blößen, Kräuter und alles als eigenste Errungenschaft, als erworbenen Besitz zu fühlen. Ihn vergnügte es, Bekanntschaften anzuknüpfen mit Rehen, mit gekrönten Prinzen, die, älter als er, sich in Gespräche verwickeln ließen, mit Eichhörnchen, die ihm als dem Sohne Bambis Achtung bezeigten.

Der Frühsommer schritt vor. Die Maiglöckchen waren abgeblüht; die goldenen Köpfe des Löwenzahns hatten sich in farblos graue, spinnwebartige Ballons verwandelt, die, leichter als die Luft, vor jedem Hauch dahinwirbelten oder ganz langsam schwebten.

Hitzig fegten die Hirsche ihr Geweih. Man sah an jungen Baumstämmen, an den stärksten Sträuchern die Wunden, die sie dem Holz schlugen.

In den Nestern saßen die Vögel und brüteten.

Des Abends führten die Fasane ihre Hennen eine Weile spazieren, damit sie vom Brutgeschäft ausruhen und etwas Nahrung genießen könnten. Während die Henne eifrig fraß, sorgte der Fasan für Sicherheit, hütete und witterte doppelt aufmerksam, indessen die Henne sich der kurzen Pause ohne Sorge erfreute.

Manchmal gab es bei den Nestern Zank und Kampf, wenn Elstern, Krähen oder Eichhörnchen sich als Eierräuber näherten oder die soeben ausgefallenen Jungen töten und verspeisen wollten.

Wiederholt wurden Jammer und Klage laut. Dann war der Ueberfall gelungen, und die verwaisten Eltern begannen sogleich eine zweite Brut.

Zuweilen blieb Geno im Vorüberschlendern vor einer Fasanhenne stehen, die immer am Boden auf ihren Eiern saß; redete mit ihr, hörte ihre Angst, ihren Kummer an und erinnerte sich später dieser mütterlichen Not, fand er die zahlreichen zerbrochenen Eierschalen, beredsame Ueberbleibsel der Dieberei von Elstern oder Krähen.

Einmal traf er Lana. Sie ging zufällig allein und sprach ihn an: »Bist du mir noch böse?«

»Wie kannst du das glauben? Nie war ich dir böse.«

»Mein Bruder ist nicht nett zu dir gewesen.«

»Nein, Boso war gar nicht nett!«

»Gleich damals hab ich gesagt, daß ich mich schäme!«

»Du, Lana? Du hast wirklich keine Ursache.«

»Doch, Geno! Ich schäme mich, weil du nicht mehr zu Bosos Freunden gehörst.«

»Er wird andere haben und braucht mich nicht.«

Lana gestand: »Mein Bruder hat keinen Freund!«

»An mir, Lana, hat er auch keinen Feind!«

»Wahrhaftig?«

»Du darfst mir glauben!«

»Ich glaube dir, Geno, und das beschämt mich noch mehr; denn Boso redet schlecht von dir!«

»Laß ihn! Wir beide bleiben trotzdem einander gut, nicht wahr, Lana?«

»Von Herzen! Wie stattlich du aussiehst, Geno!«

»Findest du? Das freut mich sehr!«

»Was macht deine Schwester? Bitte, sag ihr, daß ich sie immer noch so gern leiden mag wie früher. Sag Gurri, ich sehne mich nach ihr, und ich erinnere mich mit Wehmut an die schöne Zeit, als wir alle auf der Wiese spielten. Ach, die Wiese! Die liebe ich! Die werde ich stets lieben. Aber ich war es, die es durchgesetzt hat, daß wir nicht mehr hingingen; denn die Wiese ohne euch ...«

Lana konnte nicht vollenden.

Boso kam wütend gesprungen und fuhr sie an: »Mit wem erlaubst du dir zu sprechen? Du Unverschämte!«

»Deine Schwester trifft keine Schuld!« fiel Geno ein, »ich bin es gewesen ...«

»Du?« schnaubte Boso. »Du? Dafür sollst du mir büßen!« Er stürmte kampfbereit gegen ihn an.

Doch Geno ergriff blitzschnell die Flucht.

Zur Verblüffung der Geschwister jagte er davon, als wäre ein mächtiger Räuber hinter ihm her.

»Feigling!« rief ihm Boso nach.

Lana bat: »Schimpfe nicht, Bruder! Geno ist besser, als du ahnst!«

Das blieb vergeblich; ohne auf sie zu achten, rief Boso: »Feigling! Erbärmlicher Feigling!«

Geno entkam und wurde nicht verfolgt. Weil er sich, wenn es Schlafenszeit war, immer treulich an die gewohnte Stätte zur Mutter begab, erzählte er ganz leise Gurri diesen Vorfall.

»Die arme Lana«, meinte Gurri, »sie ist die Klügste von den dreien! Klüger sogar als Tante Rolla. Und ihre Anhänglichkeit teile ich! Wenn ich ihr nur einmal begegnen würde!«

»Dann schau, daß dich Boso dabei nicht erwischt.«

»Oh, mit Boso wäre ich bald fertig! Warum bist du eigentlich vor diesem Schwächling davongelaufen?«

»Weil Lana zugegen war.«

Das nächste Mal traf Geno, als er gerade in Begleitung von Nello und Membo sich erging, Boso, der ihm entgegenkam.

»Wir helfen dir!« flüsterte Nello eilig.

»Ja...ja...ja ... d...d...das ... wo...wo...wol...wollen ...«

Geno ließ Membo nicht zu Ende stottern. »Keiner von euch darf mir helfen!« sprach er fest.

Da rief schon Boso: »Na, du Feigling! Heute wirst du mutig sein! Das sieht dir gleich! Drei gegen einen! Aber ich fürchte mich nicht!«

Geno jedoch machte kehrt und stob in wilder Hast hinweg.

Alle waren überrascht.

Nello und Membo, die das Peinliche dieses Betragens wie eine persönliche Schmach empfanden, stellten sich zum Kampf.

Boso aber wich aus: »Euch kenne ich ja gar nicht! Ihr habt mir nichts getan und ich euch nichts. Was wollt ihr von mir?«

»Wir sind die Freunde Genos!« antwortete Nello.

»Mit euch hab ich nichts zu schaffen!« Boso zog sich zurück.

»Wi...wi...wir ... wer...werden d...d... dir's scho...schon zei...gen!« Membo bebte kampfbereit.

»Geno ist besser als du!« rief Nello, »besser und stärker!«

»E...er...er ... scho...schont ... di...dich!« schrie Membo.

Boso, schon im Fortlaufen, warf »meinetwegen!« hin.

Aus sicherer Distanz höhnte er: »Blöde Stotterer, ihr! Lernt erst sprechen!«

Als Nello und Membo sich anschickten, ihm nachzurennen, wurde er zum Verfolgten und raste davon, was er konnte.

Beim Schlafengehen setzten sie Geno tüchtig zu; sorgten jedoch dafür, daß weder Faline noch Gurri es hörten.

»Du bist gewiß nicht feig«, sagte Nello, »erkläre uns, warum du vor dem Prahler flüchtest?«

»Er...er...erklä...erkläre ...«, forderte Membo.

»Wir sind beide verlegen gewesen! Deinetwegen verlegen!« fügte Nello hinzu.

»Redet nicht so leise«, erwiderte Geno, »ich mache kein Geheimnis draus!«

Faline horchte auf: »Was hat's denn gegeben?«

»Gewiß wieder etwas mit Boso ...«, erriet Gurri.

»Jawohl, mit Boso!« bekannte Geno.

»Und du bist wieder durchgebrannt?« fragte Gurri.

»Das ist ein wahres Wort! Ich bin wieder durchgebrannt!«

Auf Falines Drängen beschrieb Gurri den ersten Zusammenstoß. Dann, als Geno den zweiten geschildert hatte, mußte Nello, den Membo mit Stottern oft unterbrach, das Ende der Szene berichten.

Er schloß: »Dieser Boso ist ein frecher Bursche!«

»Fre...fre...frech!« entrüstete sich Membo.

»Den sollte man tüchtig hernehmen!« rief Nello.

»Tü...tüch...tüch...tüchtig!« bekräftigte Membo.

Mit ihrem strengen Ton zerquetschte Faline die Stotterstimme: »Vor diesem übermütigen Gesellen bist du zweimal davongelaufen ...?«

»Durchgebrannt, Mutter!«

»Zweimal hast du geduldet, daß er dich beschimpft! Muß ich mich deiner schämen?«

»Ich glaube nicht, Mutter ...«

»Erkläre mir, warum du zweimal geflüchtet bist? Zweimal!«

Gurri sagte schnell: »Er hat ihn vor seiner Schwester nicht niederringen wollen!«

»Schwer zu begreifen!«

»Rücksicht, Mutter!« Gurri rief überzeugt: »Rücksicht! Auch gegen einen Feind ist Rücksicht nur das Zeichen von Stärke! Das begreifst du doch, Mutter!«

»Gut! Ich kann es gelten lassen. Aber zweimal! Warum? Warum denn zweimal?«

Geno hatte bis jetzt geschwiegen; nun lächelte er: »Du hast ja von Nello gehört, warum ...«

»Keine Silbe hat Nello davon erwähnt!«

Sanft sprach Geno: »Wir sind zu dritt gewesen! Meine Brüder hätten sich nicht zurückgehalten, und drei gegen einen ist unmöglich! Mit einem so sicheren Erfolg in Aussicht wäre Kämpfen Feigheit ...«

Mißbilligend wendete sich Faline ab: »Du wirst im ganzen Wald als Feigling ausgeschrien werden!«

»Auch dazu gehört Mut ...« Genos Antwort klang noch sanfter.

»Und dein Vater?« Faline fragte scharf.

Geno flüsterte: »Ich denke beständig an ihn ...«

Ohne daß Geno viel merkte, ging Gurri von da an fast immer mit ihm. Sie hatte die Absicht, dabei zu sein, wenn Boso sich zeigen sollte. Nello und Membo bat sie unter allerlei Vorwänden, mit Geno allein bleiben zu dürfen. Sie wünschte keinerlei Zeugen.

Inmitten des duftenden Blühens, umrauscht vom üppig grünenden Laub, wandelten die Geschwister vergnügt durch die Büsche und Blößen, über Schläge und Schneisen. Sie lauschten dem Singen der Vögel, dem Rufen des Kuckucks, dem Jauchzen des Pirols, dem gellenden Lachen des Spechts; sie folgten dem Taumelflug der Schmetterlinge, entzückten sich am Schwebetanz der in prächtigen Farben funkelnden Libelle. Das Summen der Bienen ergötzte sie ebenso wie das leise Brausen der Hummel.

Noch hegten sie keine Angst vor Gefahren.

Behutsam wichen sie dem Zug der Ameisen aus, und staunend hielten sie bei dem zarten Gewebe, darin die Spinne saß.

Sie rief: »Zerstört nicht mein Netz!« Doch ihre Stimme klang so leise, daß sie kaum vernehmlich wurde.

»Was willst du?« trat ihr Gurri näher.

»Gib acht!« lispelte die Spinne angestrengt, »du wirst mein Netz zerreißen!«

»Gewiß nicht!« versicherte Gurri, »wir richten niemals Schaden an.«

»Was für ein Meisterwerk!« bewunderte Geno.

»Ein großes Stück Arbeit ...«, sagte die Spinne, doch man hörte sie nicht.

Weiterschreitend sprach Geno vor sich hin: »Alles, alles lebt!«

»Hättest du das geglaubt, als alles kalt und tot war?« heischte Gurri Antwort.

»Du erinnerst mich an mein verzagtes Zweifeln.«

Gurri meinte: »Mancher muß das Schöne zweimal erleben, um es zu würdigen ...«

»Am Häßlichen kriegt man ein einziges Mal genug«, erwiderte Geno. »Das Schwere vergesse ich nie!«

»Ach, auch das Schwere ist wertvoll. Als wir noch kleine Kinder waren, dachten wir, die Herrlichkeit müsse ewig dauern.«

»Wir haben viel erlebt«, sagte Geno, »wenn's nur das Schwinden und Wiederkommen der Herrlichkeit wäre ...«

Gurri fiel ein: »Ich möchte das Leid nicht missen, nicht die Gefahren, nicht das Frieren und Hungern ...«

»Wahr, Schwester«, stimmte Geno zu, »das erkenne ich jetzt bei deinen Worten. Man wird stärker, wenn man gelitten hat ...«

»Das sorglose Schwelgen verweichlicht nur ...«

Nun war es Geno, der widersprach: »Wann leben wir schon ganz sorglos?«

Perri, das Eichhörnchen, rannte wie besessen einen Eichenstamm auf und nieder. »Wartet einen Augenblick! Ich habe Neuigkeiten!«

»Gute oder schlimme?« erkundigte sich Gurri.

»Wie man's nimmt ...« Perri schaukelte auf dem elastischen Ende eines Zweiges, »für euch kann es gleich sein; ihr braucht kaum etwas zu fürchten! Ich freilich muß mich am Boden jetzt ebenso hüten wie auf den Bäumen!«

»Ist wieder ein Räuber da?« Geno wurde ängstlich.

»Zwei!« rief Perri, »zwei! Ein Fuchs hat sich eingestellt! Ein junger, schüchterner Fuchs! Bis jetzt hat er nur Mäuse bedroht! Dafür scheint der Marder ... jawohl, einen Marder gibt es! Er zeigt so viel Wildheit und Blutgier wie alle von seiner Art!«

»Da siehst du«, wendete sich Geno an die Schwester, »die sorglosen Tage sind vorbei!«

»Euch geht das doch nichts an!« behauptete Perri, »ihr seid schon erwachsen; an euch wird sich weder Fuchs noch Marder herantrauen!«

»Woher weißt du das?« zweifelte Geno. Sie sagten schon eine Weile »du« zueinander. »Das ist fraglich!«

»Ich glaube es eben!«

»Mag es uns auch nicht betreffen«, erklärte Gurri, »wir können nicht fröhlich sein, wenn hier gemordet wird ...«

»Ja du, du und dein Bruder ...«, Perri lächelte, »ihr seid beide sehr anständig!«

Gurri ergriff die Gelegenheit: »Denkt man nicht schlecht von meinem Bruder?«

Erstaunt fuhr Perri auf: »Wie fällt dir nur so was ein?«

»Hat nicht Boso ...?«

»Laß doch«, bat Geno, »mir ist es gleich, ob Boso ...«

Perri saß nun mit hochgepflanzt wehender Fahne. »Boso?« warf sie verächtlich hin, »dir darf es in der Tat gleich sein, was der von dir redet! Man kennt ihn! Man weiß, er ist eingebildet, und er brüstet sich zu sehr!«

Geno und Gurri wollten sich empfehlen.

Da sagte Perri: »Hoffen wir, daß Er bald mit der Feuerhand zu uns kommt ...«

»Hoffen?« wunderte sich Geno, »hoffen, daß Er ... sind dir zwei Mörder nicht genug?«

»Eben wegen dieser zwei Mörder«, gab Perri Antwort, »nur wegen dieser zwei, denn Er ist ja doch mächtiger als alle!«

»Sonderbar«, bemerkte Gurri, »sonderbar ist Er, und sonderbar sind wir, wenn Er in Frage kommt.«

»Wieso sonderbar?« Perri machte ein neugieriges Gesicht.

Gurri erteilte ihr Aufschluß: »Weil Er das eine Mal uns als der grausamste Feind gilt und das andere Mal als der Retter. Im Winter nährt Er uns, und doch haben wir nichts, das entsetzlicher wäre als der große Schrecken, nichts, das uns alle so sehr bedroht!«

»Mir tut Er nie etwas Böses«, Perri legte die Vorderpfötchen an den weißen Brustflaum. »Im großen Schrecken aber rege ich mich immer furchtbar auf! Keineswegs um mich! Denn mir geschieht nie etwas! Und sonst, wenn Er mit der Feuerhand erscheint, bin ich euer Wächter! Jedesmal schmerzt es mich, so oft die Feuerhand einen von euch oder von den Königen zu Boden schleudert!«

Geno schüttelte das junge Haupt: »Ja, das sind sonderbare Dinge! Meine Schwester hat schon recht. Sonderbar, wie Er zu uns steht und wir zu Ihm. Wir müssen uns eben damit abfinden, daß Er der Allgewaltige ist, der Unbegreifliche! Seine Beschlüsse können wir nicht verstehen, sie bleiben uns immer rätselhaft, ob Er nun Fluch verhängt oder Segen spendet! Nachdenken darüber hat für uns keinen Sinn. Beides haben wir ergeben zu tragen.«

»Nein!« stimmte Perri zu, »Nachdenken hat keinen Sinn! Versucht man's, wird man wahnsinnig!« Sie wirbelte den Baum empor.

Allein geblieben, fragte Geno die Schwester: »Warum hast du nach meinem Ruf geforscht?«

»Liegt dir denn nicht auch viel daran, was man von dir denkt?« erwiderte Gurri.

»Nicht sehr viel ... mir war es ein wenig peinlich, als du davon anfingst ...«

»Wegen der Mutter«, entschuldigte sich Gurri, »sie hat gesagt, du würdest im ganzen Wald als Feigling ausgeschrien ...«

»Oh, das ist nicht ihre echte Meinung ...«

»Jetzt aber«, Gurri lachte beinahe, »jetzt kann ich die Mutter vom Gegenteil überzeugen, kann ihr vorhalten, wie unrecht es ist, so etwas auszusprechen ...«

»Du wirst ihr nichts vorhalten!« sprach Geno mit Bestimmtheit. »Ich muß dich ernsthaft darum bitten.«

»Wie du willst, Brüderchen. Aber auch dir muß es doch aufgefallen sein, wie oft unsere Mutter unrecht hat ...«

»Wir sind zuweilen verschiedener Meinung«, Geno milderte das Urteil der Schwester, »wer weiß, was für Ansichten wir haben werden, wenn wir einmal so alt sind wie die Mutter.«

Sie waren mit Nello und Membo zusammen.

Vor ihnen berichtete Gurri der Mutter, was Perri gesagt hatte: »Du siehst, der Wald denkt gut von Geno.«

Faline antwortete: »Mir ist's trotzdem nicht recht, daß er zweimal davonlief ...«

Nello flüsterte: »Wir Jungen sehen anders, und anders sehen die Alten ...«

Membo stand auf demselben Standpunkt wie Faline; also schwieg er ausnahmsweise.

Ratlos fragte Gurri: »Was kann man tun, die Mutter umzustimmen?«

Geno erwiderte: »Abwarten ...«

Als er sich wieder entfernte, begleitete ihn Gurri, die ihn nicht allein lassen wollte.

Diesmal trafen sie den schon ganz erwachsenen Ate, mit dem Geno auf einsamen Spaziergängen wiederholt ins Gespräch gelangt war. Ate trug eine hübsche Gabelkrone und benahm sich, wie wenn Geno nicht bloß ein kaum erwachsenes Kind, sondern ihm gleich wäre. Er zeigte keine Spur von Herablassung.

»Wen hast du da?« erkundigte er sich.

»Meine Schwester, Gurri.«

»Sie ist reizend, deine Schwester! Wirklich, Gurri, du bist reizend! So jung und schon so angesehen!«

»Hör mir auf damit!« lehnte Gurri ab. »Narrheiten!«

»Das darf ich doch sagen?« erwiderte Ate, »denn es ist wahr. Deine Leistungen sind keine Narrheiten!«

»Sage mir lieber, aber ganz ohne Höflichkeit, was hältst du von meinem Bruder?«

»Ich sehe nicht ein, warum du verlangst, ich solle die Höflichkeit beiseite lassen. Man muß das Schlimmste höflich sagen können.«

»Zugegeben!« Gurri blickte ihm vertrauend in die Augen, »Geno hat zweimal vor Boso Reißaus genommen ... was hältst du von ihm?«

Ate schaute sie heiter an: »Ich weiß alles! Ich kenne auch diesen Boso! Mit deinem Bruder bin ich sehr befreundet. Mit Boso will ich nichts zu tun haben!«

»Und wie erklärst du dir«, Gurri wurde immer zutraulicher, »wie erklärst du dir die zweimalige Flucht?«

»Gar nicht erkläre ich sie mir«, Ate blieb gelassen, »er wird schon einen Grund dafür haben, nicht wahr, Geno? Ich kümmere mich nicht um die Sache ...«

Gurri war entzückt.

»Wir haben nie darüber gesprochen«, äußerte Geno befangen, »und ich möchte euch bitten, auch jetzt ...«

Sie sprachen von andern Dingen.

Daheim meldete Gurri der Mutter diese Unterredung.

Doch Faline beharrte: »Wäre Geno nicht zweimal geflohen, hättest du's jetzt nicht nötig, um seinen Ruf besorgt zu sein!«

»Aber Mutter«, wendete Gurri ein, »wenn Geno trotzdem ...«

»Ich bleibe bei dem, was ich einmal gesagt habe!« Damit machte Faline allem weiteren ein Ende.

Keineswegs vermochte Geno zu merken, die Mutter hege geringere Zärtlichkeit für ihn; nur spürte er hin und wieder etwas wie Schonung im Ton der Mutter. Er nahm es jedoch ruhig hin.

Unerwartet erschien einmal eines Abends Bambi. Trotz ihrer Freude blieben alle bis auf Gurri stumm.

Gurri begann sogleich, ihm die ganze Geschichte auseinanderzusetzen: die zweimalige Flucht Genos, die Ansicht der Mutter.

Faline fiel ihr eifrig ins Wort: »Dein Sohn darf nicht vor einem frechen Burschen davonlaufen!«

»Und was ist deine Rechtfertigung, Geno?« fragte Bambi ernst.

Zum Erstaunen aller antwortete Geno freimütig und fest: »Ich rechtfertige mich nicht!«

Einzig Bambi staunte nicht; er nickte bloß.

Dann sprach er: »Ihr habt beide recht, du, Faline, und du, Geno! Und ihr beide seid zugleich im Unrecht!«

Rascher, als die vier diesen Spruch zu fassen vermochten, entschwand ihnen Bambi aus dem Gesicht.

Den nächsten Morgen jedoch fanden Geno und Gurri auf einer kleinen Blöße Lana.

Sie grüßte sehr freundlich: »Oh, wie schön! Ich habe immer gehofft, dich zu sehen, Gurri!«

»Ich freue mich mit dir!« sagte Gurri herzlich.

Lana war gerührt: »Wir sind ja seit Kindertagen miteinander gut gewesen!«

»Und wir bleiben einander gut!« fügte Geno hinzu.

»Ach, wie sehr vermisse ich euch!« rief Lana.

»Du fehlst uns auch!« beteuerte Gurri.

»Wenn ihr nur wüßtet, wie meine Mutter sich kränkt ...« Lana gestand das aufrichtig.

Aufrichtig entgegnete Gurri: »Tante Rolla ist Unrecht geschehen! Richte ihr aus, mein Vater hat dieselbe Meinung ...«

»Danke dir! Die Mutter wird sich getröstet fühlen!«

Geno erklärte entschieden: »Der ganze Zwist hat keinen Sinn! Es ist ...«

Da wirbelte oben durchs Gezweig Perri heran: »Lana! Ich warne dich! Dein Bruder kommt! Dein Bruder!«

Erschrocken fuhr Lana zusammen.

Geno befahl: »Bleibe!«

Gurri drang in sie: »Nein! Geh rasch fort!«

Lana hörte nichts; sie rannte davon.

»Wollen wir weg?« fragte Gurri.

Aber Geno erwiderte nichts und wich nicht vom Fleck.

Wütend sprang Boso daher: »Meine Schwester! Wo ist meine Schwester! Ist sie wieder mit euch gewesen? Schämt sie sich nicht, die Dumme!«

»Schäme du dich selber!« herrschte ihn Geno an, »du bist der Dumme! Nur du allein!«

»Feigling!« schnaubte Boso, »diesmal entkommst du mir nicht!«

Geno lachte: »Diesmal? Diesmal wirst du es sein, der mir nicht entkommt! Diesmal strafe ich dich!«

»Mit Hilfe deiner Schwester?« höhnte Boso.

»Komm nur an!« forderte Geno, »du sollst sehen, ob ich Hilfe brauche!«

Boso warf sich auf Geno; doch der hielt dem Anprall wie eine Mauer stand.

Gurri hatte sich ganz zur Seite gestellt und schaute dem Kampf ruhigen Gemütes zu.

Mit verdoppelter Wucht wiederholte Boso den Sturmangriff. Eine Wirkung war überhaupt nicht zu merken, denn Geno blieb so fest, als hätte ihn nur der Zweig des Strauches gestreift.

Als Boso sich dann verwirrt umwenden und zurechtfinden wollte, überrannte ihn Geno, daß er am Boden lag, und kaum hatte er sich emporgearbeitet, wurde er erneut umgeschleudert.

Er rollte ein drittes Mal unter dem Stoß, der ihn sofort traf, als er sich zusammenraffen wollte.

»Steh auf, armer Kerl ...«, sagte Geno, dessen Atem nicht schneller ging. »Steh auf, du armseliger Tropf.«

Betäubt erhob sich Boso, taumelte, unfähig, etwas zu entgegnen.

»Mach, daß du fortkommst«, Geno blieb wohlwollend.

Lana rief: »Komm, Bruder!«

Und Ate sprach lächelnd: »Du wirst dir's abgewöhnen, mit Geno Streit zu suchen ...«

Unter Ates Schutz war Lana herzugelaufen, den Kampf mitanzusehen.

»Entschuldige, Boso«, aufrichtiges Bedauern klang aus Genos Worten, »von diesen Zeugen wußte ich nichts. Ich habe eben Zeugen immer vermeiden wollen ...«

Zeichnung: Hans Bertle

Boso schwieg verbissen.

»Immer hab ich dich gebeten«, redete Lana zu Boso, »fang nichts an mit Geno, er ist stärker!«

»Du brauchst dich nicht zu schämen, Boso«, rief nun Geno, »du warst sehr tapfer! Und jetzt gestehe ich dir zu, daß dein Erlebnis größer gewesen ist als meines ...«

»Da könnt ihr euch doch versöhnen!« schlug Gurri vor.

Geno sagte still: »Ich bin bereit ...«

Aber Boso, der immer noch schwieg, wendete sich weg und humpelte davon.

Lana gab ihm das Geleit.

Ate schüttelte das Haupt: »Er ist ein eigensinniger Bursche. Ihm fällt es schwer, besiegt zu sein. Aber daß seine Schwester und ich dabei waren, das kann er nicht verzeihen.«

Heiter antwortete Gurri: »So was hab ich von jeher gewußt.«

Aus dem Gezweig frohlockte Perri: »Tüchtig hast du den kecken Boso abgefertigt! Und recht ist ihm geschehen! Das ist die verdiente Strafe für sein Prahlen!«

»Jetzt«, meinte Ate, »jetzt kann man's nicht mehr hindern, jetzt wird der ganze Wald davon erfahren.«

»Das hätte ich Boso gerne erspart ...«, sagte Geno.

»Die Mutter wird endlich zufrieden sein«, erklärte Gurri.

»Mag sie's von anderen hören«, erwiderte Geno, »wir erwähnen nichts! Versprich mir das, Schwester!«

Gurri nickte bloß.

Doch Ate winkte ihr zu: »Dein Bruder ist gleichfalls ein Eigensinniger. Nur, sein Eigensinn gefällt mir besser ...«

 

* * *

 


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