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Von Joseph Gregor
Für jeden Freund des deutschen Theaters stellt das Erscheinen der Memoiren von Adele Sandrock, besorgt von ihrer so feinfühligen Schwester, die dem Andenken der Unvergeßlichen schon soviel Gutes und Wertvolles erwiesen hat, einen bedeutsamen Augenblick dar. Denn Adele Sandrock war keine jener Naturen, die ein halbes Leben erbittert für den eigenen Ruhm kämpfen, um ihn die andere Hälfte hindurch ebenso schrankenlos zu genießen. Die Kämpfernatur der Sandrock war keines von beiden; nicht um ihren Ruhm hat sie gekämpft, sondern um das Theater – und zu genießen verstand die Ruhelose überhaupt nicht. Sie war rastlos im Vordringen, rastlos in der Pflicht, eine von jenen, die nur zwischen Probe und Aufführung glücklich sind.
In dieser Unbedingtheit des Berufsmenschen sehe ich nur eine Parallele, und die reicht in die großen, heiligen Zeiten der Schaffung des deutschen Theaters zurück. Die Neuberin. Wie diese – und so manche Fanatikerin der Bühne – faßt die Sandrock den unbedingten Entschluß, zum Theater zu gehen, ohne die Zeit und ohne das Schicksal zu befragen, weil sie ihn fassen muß. Wer vermag es, sich vorzustellen, was es bedeutet: Sie lernte Deutsch aus den Werken der deutschen Klassiker. Wer vermag es, Englisch aus den Werken Shakespeares zu lernen? Im Falle der Sandrock aber staunen wir kaum, weil wir dieser Frau alle nur denkbaren Kräfte zutrauen, wenn wir sie auch nur einmal auf der Bühne gesehen haben .... Wie die Neuberin ist auch die Sandrock von einem unstillbaren Wandertrieb beherrscht, dessen Beute wahrhaftig nicht die Schlechtesten des deutschen Theaters waren. Ihre Karriere war vorbestimmt, nachdem sie das Glück gehabt hatte, zum Künstler-Kreise von Meiningen zu zählen – aber jedesmal, wenn das Glück sich erfüllen will, ist sie es, die ihm in den Arm fällt! Ihre Karriere war in Wien nach dem märchenhaften Erfolge ihrer Iza (im »Fall Clémenceau«) gesichert, aber sie begleitete das Deutsche Volkstheater nicht weiter, das, eben eröffnet, in ihr die stärkste Stütze gefunden hat. Ihre Karriere war doppelt gesichert, als sie mit ihrer wunderbaren Maria Stuart, ihrer Feodora, ihrer Orsina das Burgtheater erobert hatte, aber nur, um es nach Jahren größter Triumphe gleichfalls wieder zu verlassen, wiewohl alle Hoffnungen gerade auf sie gesetzt waren! – Aber sie konnte nicht anders, sie hatte die Ruhelosigkeit der Neuberin in sich, sie mußte zu anderen Bühnen, anderen Erfolgen. Sie streifte auch das Deutsche Volkstheater wieder, aber nur wie im Fluge, und dieser Flug galt der neuen großen Metropole des deutschen Theaters, galt Berlin.
Die stärkste Parallele mit der großen Gründerin des deutschen Theaters aber ist eine rein künstlerische, die sogleich das Wesen von Adele Sandrock entscheidet: sie wußte zu kämpfen wie ein Mann! Diese stark maskuline Seite ihres Wesens hat den größten Reiz ihrer Rollenauffassungen gebildet, sie hatte schon von Natur die Herbheit der Frauengestalten Ibsens, deren Sieg in ihre Epoche fiel, der Rebekka, der Rita und Gina. Und wo nehmen wir auf der Bühne Augenblicke her wie jene, wo sie, die gerade mit den »weiblichsten« aller Rollen begonnen hatte, mit dem Gretchen und dem Klärchen, sie, die als Adelheid alle Anziehungskraft des Weiblichen glänzen ließ – den Ton der Geliebten, der Gattin, Mutter traf! In der alten, geheimnisvollen Sehnsucht des Theaters, Heros und Heroine zu vermischen, war Adele Sandrock allen weit voran. Daher ihre größte Rolle: Hamlet, unentschlossene Weichheit und männliches, edles Leiden in einer Gestalt.
Leiden? Ja, das ist es, das ist ihre stärkste Verwandtschaft mit der großen Neuberin, deren Biographie keiner lesen könnte, ohne daß ihm bei den letzten Seiten der tiefste Menschheitsschauer befiele. Wir haben alle über den Film gelacht, da Adele Sandrock eine mürrische Tante mit großer, gestickter Reisetasche war oder eine verwitterte Amtsratswitwe mit kleiner Schürze. Hat aber jemand dieses Antlitz enträtseln können, dieses große, herbe, vielgefurchte Antlitz, in dem, wie aus einem faltigen Vorhang von Schicksal, der Humor aufblitzte, die Güte?
Nun wird Adele Sandrock, wiederum geführt von der über den Tod hinaus liebenden Schwester, diesen Vorhang heben. Gewiß werden wir viel vom Theater erfahren, es besser verstehen lernen. Aber noch mehr ein großes, heißes, menschliches Herz.
Erst im Jahre 1939 fand ich den Mut und die Kraft, Adelens schriftlichen Nachlaß durchzusehen. Es ging auch nicht auf einmal, nur nach und nach war es mir möglich, mein Vorhaben auszuführen, und ich war nicht wenig erstaunt, als ich ein bald fertiges Memoirenwerk, von ihrer Hand geschrieben, vorfand, worin sie der Welt mitteilt, wie sie gelebt, gearbeitet und gelitten hat. Da sie, wenn jemand aus ihrem Leben etwas Näheres erfahren wollte, stets sagte: »Meine Erinnerungen schreibe ich selbst, wenn ich einmal alt bin«, so nehme ich an, daß diese Aufzeichnungen doch wohl für die breite Öffentlichkeit bestimmt sind und zögere nun nicht länger, die Drucklegung der Aufzeichnungen zu veranlassen. Wo eine Lücke entstand, habe ich diese ausgefüllt. Denn nur ich kannte Adele, wie sie wirklich war, jede Regung ihres Herzens. Wenn sie zur Tür hereinkam, wußte ich schon, wie ihr zumute war, und wenn man ein ganzes Leben zusammen gelebt hat, dann ist das ja auch kein Wunder. Und so lege ich nun dieses Buch in die Hände all derer, die gleich mir meine geliebte Schwester nicht vergessen werden. Neben dem Marmordenkmal, das ich ihr an ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag zum Geschenk gemacht habe, soll es bestehen und die Erinnerung an sie lebendig erhalten.
Wilhelmine Sandrock,
Adelens Schwester
Berlin-Charlottenburg, im Juli 1940