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Unsere erste Heimat lag hinter uns, die harmlose Kinderzeit war vorbei, nun fing der Ernst des Lebens für uns an. Das war im Jahre 1870, als Deutschland und Frankreich miteinander Krieg führten. Wir wohnten in der Kurfürstenstraße, im Hause Nr. 144. Nicht weit von uns war eine höhere Töchterschule. Die Vorsteherin hieß Albertine Prox und war eine nette ältere Dame mit gescheiteltem Haar und einer Brille. Wir wurden in die Schule aufgenommen, sprachen aber nur Holländisch, Französisch und Englisch und wurden stets »die kleinen Holländerinnen« genannt. Wir lebten uns schnell ein und gaben uns sehr viel Mühe, ein schönes Deutsch zu lernen. Der ganze Tag verging mit Studieren. Wir hatten Tanzstunde, Klavierunterricht, Turnstunde, durften unter Aufsicht rudern, schwimmen und Schlittschuh laufen, kurz und gut, es gab viel zu tun.
Wenn unsere liebe Mutter Geburtstag hatte, durften wir einen Wunsch aufschreiben und ein Gedicht aufsagen, und einmal studierten wir sogar ein Theaterstück ein. Es hieß »Zündnadel«. In der Schule hatten wir sehr nette Freundinnen gefunden, und diese forderten wir auf, mitzumachen. Da zeigte es sich nun zum ersten Male, daß wir das Talent von der Mutter geerbt hatten, denn der Erfolg unserer Aufführung war einfach prachtvoll. Ich spielte einen alten Mann mit einem langen Bart, den Rentier Baumann, meine Schwester Wilhelmine einen Husarenoffizier und unsere Freundinnen Ida, Melanie und Käthchen Kittler die weiblichen Rollen.
Schon in Holland hatten wir vor Publikum gespielt und in unseren Kinderrollen großes Talent gezeigt, aber diese Aufführung in deutscher Sprache war doch ein gewisser Prüfstein für die Zukunft, denn wir hatten es uns in den Kopf gesetzt, Schauspielerinnen zu werden. Die Wohnung wurde in ein Theater umgewandelt, und es kamen viele Zuschauer, die sich über unsere Fortschritte in der deutschen Sprache nicht genug wundern konnten. Und das hatten wir nur unserem Fleiß zu verdanken, denn wir lernten Tag und Nacht. Auch in der Schule spielten wir Theater. Wenn die Vorsteherin Geburtstag hatte, gab es jedesmal eine Galavorstellung, die stets ausverkauft war.
Vorher hatte ich jedoch vorübergehend andere Pläne in meinem kleinen Kopf gewälzt. Wenn man als Kind Luftschlösser baut und sich vorstellt, was man alles werden möchte, unterlaufen einem die merkwürdigsten Gedanken, und so kam mir einmal die Idee, Zirkusreiterin zu werden. Ach, durch Papierreifen springen, stellte ich mir herrlich vor, noch schöner aber, die Hohe Schule zu reiten.
Eines Tages machte ich mich daher auf, ging zum alten Zirkusdirektor Renz und stotterte und schlotterte mein kühnes Vorhaben heraus. »Sie sind noch sehr jung«, meinte der alte Herr und betrachtete mich prüfend. »Immerhin, das würde nichts schaden, das ist kein Fehler, ganz im Gegenteil. Aber wie steht es mit den Knochen? Sind sie locker? Wenn man zum Zirkus will, darf man keine Knochen haben.«
Mir wurde angst und bange, da ich das Gefühl hatte, daß meine Knöchlein keineswegs locker waren, sondern peinlich fest genau dort saßen, wo sie von Rechts wegen auch hingehörten. Und da ich auf den Vorschlag, meine Knochen zerbrechen zu lassen, natürlich nicht eingehen konnte, schlich ich leise, kleinlaut und schlotternd, wie ich gekommen war, von dannen und gab die Zirkusgedanken auf.
Unsere Mutter hatte inzwischen auch Deutsch gelernt und studierte bei Berndal, der ein großer Schauspieler und tüchtiger Lehrer war, die Generalin von Mansfeld aus »Mutter und Sohn« von Charlotte Birch-Pfeiffer, eine sehr wirksame Rolle.
Mit ihr versuchte sie sich in der Urania bei Direktor Protz, und zwar mit außergewöhnlichem Erfolg. Ich durfte unter dem Namen »Fräulein d'Artoit« die sentimentale Liebhaberin spielen. Es war ein ganz großer Abend, und diese Vorstellung mußte oft wiederholt werden.
Ich wurde nun von meiner Mutter weiter für die Bühne ausgebildet, und als ich ein kleines Repertoire studiert hatte, bekam ich ein Engagement an das Hoftheater nach Meiningen, beim Theaterherzog und seiner Gattin, Freifrau von Heldburg. Meine geliebte Mutter begleitete mich, weil ich noch zu jung war, um allein dorthin zu fahren. Ich hatte mein schönstes Kleid mitgenommen, ein schwarzes Seidenkleid mit Federbesatz. Ich fuhr ins Schloß, um mich vorzustellen, und wurde auch gleich empfangen. Aber erst am anderen Tag sollte ich probesprechen. Mein Herz fiel mir bald in die Hosen, denn die Meininger waren schon damals sehr berühmt. Muttchen sprach mir Mut zu und ging die Szenen, die ich vorsprechen wollte, noch einmal mit mir durch. Dabei sagte sie: »Lege nur los wie zu Hause, dann wird es schon gehen. Du bist doch noch Anfängerin, und danach wird man dich beurteilen.«
Die Nacht verbrachte ich schlaflos. Ich sollte um zehn Uhr im Theater erscheinen. Mit klopfendem Herzen ging ich hin und wurde vom Intendanten Ludwig Chronegk empfangen. Nachdem ich Hut und Mantel abgelegt hatte, führte er mich zur erleuchteten Bühne. Der Zuschauerraum war dunkel. Ich hörte nur flüstern und dachte mir im stillen: Mein Gott, wie wird das enden? Auf einmal hieß es: »Darf ich bitten?« Ich machte einen tiefen Hofknicks, den ich vor dem Spiegel studiert hatte, und fing mit dem Gretchen an: »Ach, neige, du Schmerzensreiche ...« Dann kam die Sterbeszene aus »Kabale und Liebe« mit Ferdinand und eine Szene aus »Graf Essex«, in der ich die Lady Rutland sprach. Als ich fertig war, machte ich wieder meinen Hofknicks und hörte die Worte: »Wir danken, Fräulein Sandrock.« Weiter hörte ich nichts. Ich taumelte in mein Hotel zur Mutter.
Zwei lange Tage wurde ich auf die Folter gespannt. Endlich, am dritten Tag, kam ein Hoflakai mit einem Schreiben des Herzogs. Ich zitterte so, daß ich den Brief kaum zu öffnen vermochte. Meine Mutter nahm ihn mir aus der Hand, er enthielt einen auf drei Jahre bemessenen Vertrag, sowie Geld für die Reise hin und zurück und was ich sonst noch an Auslagen gehabt hatte. Drei Jahre sollte ich nun in Meiningen verpflichtet werden, für kleine Rollen und auch für Statisterie, denn statieren mußten alle ohne Ausnahme. Nur die ganz Großen waren davon ausgenommen.
Ich fuhr also im Besitz eines dreijährigen Vertrages mit steigender Gage stolz wie ein Spanier nach Berlin zurück. Meine Mutter war nicht wenig eingebildet auf ihr Jüngstes, denn es war doch eine große Ehre, beim Herzog von Meiningen spielen zu dürfen, noch dazu im ersten Engagement.
Als ich nun mit Muttchen wieder zu Hause anlangte, beglückwünschte mich meine Schwester von ganzem Herzen und sagte mir, sie habe ihre Hände auch nicht in den Schoß gelegt und, während wir in Meiningen waren, sich ebenfalls nach einem Engagement umgesehen. Man habe sie Direktor Anton Feldscher vom Hoftheater in St. Petersburg vorgestellt. »Ich habe auch vorgesprochen, die Marianne aus Goethes ›Geschwister‹, die Elfriede aus ›Aschenbrödel‹ und die ›Grille‹, und er hat mich sofort als Naive mit einem dreijährigen Vertrag nach Rußland engagiert.«
Nun war mein lieber Vater seine Töchter auf einmal los. Mutti wußte nicht, mit wem sie zuerst fahren sollte, ob mit Wilhelmine nach Petersburg oder mit mir nach Meiningen. Der Bruder blieb beim Vater. Er wollte Kunstmaler werden, denn dafür besaß er ein bedeutendes Talent.
Es wurden nun alle Vorbereitungen getroffen, und das gab nicht wenig Arbeit. Wir mußten doch eine Ausstattung haben, wenigstens die nötigsten Kleider und Gegenstände. Damals war man ja in dieser Hinsicht noch nicht so fein heraus wie heute, weil man fast alles selbst besitzen mußte, historische Kostüme ausgenommen. Ich ging auch zu Leichner, um Schminke zu kaufen, natürlich nur für die Bühne. Heutzutage gehen die Damen zwar geschminkt zu Bett und kommen schon geschminkt zum Frühstückstisch, früher aber schminkten sich nur Straßenmädchen am Tage.
Meine geliebte Mutter stand mir und Wilhelmine wieder treu zur Seite. Nachdem alles erledigt war, rückte die Zeit meiner Abreise schnell heran. Ich war nur um meine Bücherkiste besorgt, die so schwer war, daß fünf Männer Mühe hatten, sie zu transportieren. »Ach Jott, Frollein, wat schleppen Sie denn da mit sich 'rum? Det kostet ville Jeld.« Aber die Kiste mußte mit – und ein Lampenschleier. Der war nun nicht so schwer und belastete mein Gepäck nicht weiter, denn er war aus ganz dünnem Papier und erzeugte einen rosa Schimmer. Er machte mir besondere Freude, denn Petroleumlampen waren damals Mode und gebräuchlich. Nicht jeder verfügte über Gas.
Meine Mutter fuhr nun zuerst mit mir nach Meiningen, mietete mir ein nettes Zimmerchen mit Frühstück, das Mittagessen wurde im Restaurant eingenommen, und Abendbrot machte ich mir selbst zu Hause. Ich richtete mir alles so gemütlich ein, wie es die Verhältnisse nur irgend möglich machten. Die Hauptsache waren meine Bücher, und die brauchten viel Platz. Mein Mittagessen kostete mit Getränk und Trinkgeld eine Mark und fünfunddreißig Pfennig, mein Abendbrot fünfzig Pfennig und das Zimmer mit Frühstück und Bedienung fünfunddreißig Mark. So wurde alles genau auf Groschen und Pfennige ausgerechnet, damit ich ja mit dem, was ich verdiente, auskam.
Endlich war alles geordnet, und der Tag kam heran, an dem meine geliebte Mutter mich verlassen mußte. Der Abschied – ich habe ihn nie vergessen. Als ich auf dem Bahnhof stehenblieb und meine angebetete Mutter in den Zug stieg, um wieder nach Berlin zurückzufahren und Wilhelmine ihre Hilfe angedeihen zu lassen, war mir so, als hätte mein Herz einen schweren Knacks bekommen, denn von nun an überfiel mich ein Heimweh, dem ich zu erliegen drohte. Ich fand in Meiningen zwei sehr nette Freundinnen, ebenfalls Schauspielerinnen. Die eine hieß Angele Lang, die andere Alice Stolle, ein bildhübsches junges Mädchen, das wie ich Anfängerin war. Man hatte sie wohl wegen ihrer Schönheit engagiert, denn Talent war wenig vorhanden. Ich fragte sie oft: »Alice, warum gehst du eigentlich zur Bühne?« – »Aus Vergnügen«, war die Antwort, »aus purem Vergnügen, mein liebes Adelchen!« Auch ein Standpunkt, dachte ich mir. Diesen beiden habe ich es zu verdanken, daß ich meinem Schmerz nicht unterlag, sondern meine Pflicht erfüllen konnte.
Eines Tages wurde eine Probe von »Julius Cäsar« angesetzt, bei der auch wir erscheinen mußten. Der Herzog leitete die Probe selbst. Ich wurde aus den Reihen herausgerufen, und der Herzog sagte mir: »Sie werden das gewiß sehr gut machen.« Es kam die Szene, in der der ermordete Cäsar auf einer Bahre liegt, mit einem Leichentuch bedeckt. Ich mußte nun das Tuch fortnehmen und mit einem dramatischen Schrei, einem Ausbruch der Verzweiflung, an der Bahre zusammenstürzen. Der Herzog spielte mir die Szene vor, dann legte ich los – und hörte die Worte: »Sehr gut. Noch einmal!« Diese Szene wurde oft, sehr oft probiert. Mein Herz klopfte so stark, daß ich kaum wußte, was ich anfangen sollte. Wenn man bedenkt, wer dort alles auf der Bühne stand, wird man meine Aufregung begreifen. Es waren alles Künstler, die schon damals Weltruf besaßen: Nesper, Teller, Kainz, die Haverland, die Lindner und viele andere Größen.
Diese Rolle blieb mir. Ich spielte sie auch auf Reisen bei den Meininger Gastspielen, und zwar in Wien und Budapest. Ich lernte Wien kennen und lieben, Budapest erregte meine restlose Bewunderung. Ich fand die Ungarn herrlich, Kavaliere vom Scheitel bis zur Sohle, und ich war nicht wenig glücklich, als mich Direktor Stanislaus Lesser einige Jahre später an das Deutsche Theater in Budapest engagierte. Es gastierten vom Hofburgtheater in Wien fast alle damals bedeutenden Schauspieler dort, und da ich die erste sentimentale Liebhaberin war, spielte ich mit Josef Lewinsky, mit Bernhard Baumeister und Adolf von Sonnenthal. Auch Klara Ziegler gastierte als Medea, ich spielte die Kreusa und erhielt ihr Bild mit Unterschrift und der Widmung »Meiner liebreizenden Kreusa«, worauf ich nicht wenig stolz war.
Um nun wieder auf Meiningen zurückzukommen, muß ich eine Begebenheit erzählen, die mir den ersten großen Schmerz in meinem Künstlerleben bereitete. Die Sache war folgende: Als die Gastspielreise beendet war, kehrten wir wieder nach Meiningen zurück, und ich bekam vom Herzog meine erste Rolle, weil ich die Episode in »Julius Cäsar« zu seiner Zufriedenheit bewältigt hatte. Ich sollte die Perdita im »Wintermärchen« spielen, und zwar gleich. Ich setzte mich hin, lernte Tag und Nacht und kam fix und fertig mit meiner Rolle zur Probe. Ich war überglücklich, und als ich nun probieren wollte, sagte Kainz zum Intendanten: »Mit der spiel' ich nicht.«
Es half nichts, kein Zureden, kein Machtwort des Herzogs. Er erklärte kategorisch: »Nein.« Den wahren Grund habe ich nie erfahren können. Jedenfalls war der Schlag für mich geradezu vernichtend. Ich weinte mir Tag und Nacht die Augen aus dem Kopf. Ich schrieb verzweifelte Briefe nach Hause, an meine geliebte Mutter und meine Schwester. Ich war so gekränkt und unglücklich, daß ich zu nichts mehr fähig war. Mein Ehrgeiz war tödlich getroffen. Wie kam Kainz dazu, ohne Grund eine Kollegin abzulehnen und zu sagen: »Mit der spiel' ich nicht.« Ich grämte und härmte mich so ab, daß ich ganz blaß und elend aussah und nur den einen Wunsch hatte: Wie kommst du von hier fort? Endlich faßte ich den Entschluß, zu Freifrau von Heldburg zu gehen, ihr alles zu sagen und um meine Entlassung zu bitten.
Der Zufall kam mir zu Hilfe. Ich wurde krank, und zwar sehr schwer. Ich weinte unaufhörlich, konnte nichts mehr essen und magerte zusehends ab. Der Doktor meinte, ich müsse in eine andere Umgebung, um auf andere Gedanken zu kommen, und befürwortete meine Entlassung. So hatte mein Meininger Aufenthalt also schon nach zwei Jahren sein Ende gefunden. Da mich niemand abholen konnte, mußte ich alles selbst machen: meine Sachen packen, meine Angelegenheiten in Ordnung bringen, Billett lösen und Gepäck aufgeben. Ich war so schwach und fühlte mich so elend, daß ich glücklich war, als endlich die Stunde der Abfahrt schlug. Ich verabschiedete mich vom Herzog und der Freifrau, die mich nur ungern scheiden sahen, aber es mußte sein. Meine Gesundheit stand auf dem Spiele, und die Kränkung war zu groß.
In Berlin erwartete mich mein Bruder Christel auf dem Bahnhof und war bei meinem Anblick im ersten Augenblick so erschrocken, daß er keine Worte fand. Mama hatte mit Wilhelmine inzwischen die Reise nach St. Petersburg angetreten, und da ich nun zu Hause keine Gelegenheit mehr hatte, dauernd an die mir zugefügte Kränkung zu denken, wurde es bald besser. Ich erzählte meinem Vater alles, er war sehr böse, aber ich bat ihn flehentlich, die Sache ruhen zu lassen. Ich würde mich schon wieder erholen und zu Wilhelmine nach Petersburg fahren.
Aber das dauerte noch eine Weile. Vorerst kam einmal Wilhelmine mit Mama im Sommer nach Berlin, und als ich meine geliebte Mutter und meine Schwester wiederhatte, machte die Besserung immer raschere Fortschritte, ich erholte mich zusehends und kam wieder zu Kräften.
Meine Zeit wurde genau eingeteilt. Wenn ich Organ- und Sprachübungen machte, schloß ich mich in meinem Zimmer ein und ließ mich durch nichts stören. Waren meine Studien beendet, ging ich mit Wilhelmine spazieren, und sie erzählte mir von Petersburg, wie schön und herrlich diese Stadt sei, wie großartig das Leben und wie herrlich die Theater wären.
Nach Hause gekommen, fing ich wieder an zu studieren. Ich nahm die Leintücher vom Bett, stellte mich vor den Spiegel und versuchte, mich zu bewegen und zu schreiten, wie ich es in Meiningen gesehen hatte. Auf diese Weise lernte ich, mich im Griechengewand zu bewegen, und zwar so, als ob ich in Griechenland aufgezogen worden wäre. Als ich nun die Sappho einstudiert und mir im Zimmer diese Studien angeeignet hatte, rief ich eines Tages Mama und Wilhelmine herein und spielte ihnen die Rolle vor. Und nicht nur das. Ich hatte mir sogar die Leintücher angesteckt, und eins davon war der griechische Mantel, den ich mit Schwung und Grazie hin und her warf. Auch die Hero aus »Des Meeres und der Liebe Wellen« nahm ich mir vor. Mutti und Wilhelmine waren so beglückt, daß sie mich beide umarmten und küßten und mir sagten: »Du wirst die Nachfolgerin Charlotte Wolters, Adele! Nur so fort, und du brauchst dir um deine Zukunft keine Sorgen zu machen.«
Ich muß es immer und immer wieder sagen, ich hungerte und brachte für meine Kunst die größten Opfer, mußte mich durchringen, fing mit kleiner Gage an – ja, sie reichte manchmal kaum, um die nötigsten Lebensbedürfnisse zu bestreiten. Aber die Liebe zur Kunst, der Wille, mein Ziel zu erreichen, machten mir jedes Opfer leicht. Schon in meiner Jugend lebte ich ja nur für meine Kunst. Und wenn andere sich dem Vergnügen hingaben, lernte und studierte ich oft Nächte hindurch, bis ich eine Rolle erfaßt hatte, und spielte sie dann meiner geliebten Mutter vor.
Wilhelmine erzählte mir, daß es in St. Petersburg außer dem deutschen auch ein französisches und russisches Theater gäbe, die Hauptsache aber sei das russische Ballett. Dafür würden große Summen ausgegeben. »Es ist aber auch wirklich prachtvoll«, sagte sie immer. »Komm nur mit mir nach Petersburg, und du wirst alles aus eigener Erfahrung kennenlernen.«