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Als es anfing, besser zu werden, spielte ich an der Volksbühne unter der Direktion von Friedrich Kayßler, der nicht nur ein guter Theaterleiter, sondern auch ein prachtvoller Mensch ist, schöne Rollen. Es war um die Jahre 1919 und 1920, und ich werde den Abend nie vergessen, an dem der Vertrag zustande kam. Es waren damals schlimme Zeiten, Streiks waren an der Tagesordnung, und ich hatte fast keine Beleuchtung in meiner Wohnung. Entweder versagte das Gas oder das elektrische Licht, und man hatte seine liebe Not damit, immer gerade das zu erwischen, was eben funktionierte. Aber das hinderte uns nicht, wir kamen auch im Halbdunkel miteinander ins reine.
Unter anderem spielte ich mit Friedrich Kayßler in Strindbergs »Nach Damaskus«. Eine der Kritiken, die sich mit meiner Leistung beschäftigten, lautete: »Nur Adele Sandrock genügte einer herrlichen Matronennatur, da sie sich der Mutter dieses harten Dramas mit einer Menschensanftheit hingab, die ganz Neues und sehr Großes in dieser Künstlerin ahnen läßt. Adele Sandrock hat das Heroinentum Medeens und die Tragik der schottischen Maria überwunden. Sie stellt sich heute in den Dienst der Schlichtheit, als wäre sie die gezügelte und wundervoll abgeklärte Erfahrung unserer Tage ausschließlich. Ihre Muttersprache hat eine Besonnenheit und Fülle des Wohllautes gewonnen, die tragischer wirkt als die jambische Feuerrede, weil sie aus einem echten, erlösten Herzen strömt. Ja, Adele Sandrock ist legendarisch erneuert. Sie kann neuerdings entdeckt, sie muß gelobt werden als die echteste Darstellerin moderner Leidensmütter, die man heute auf deutschen Bühnen sehen kann.«
»Adele Sandrock vom Geschlecht der Tragödinnen spielte den lustigsten Schwank und überstrahlte alle anderen an Komik und Übermut«, hieß es in einer Besprechung von Frank Wedekinds »Liebestrank«, der ebenfalls an der Volksbühne zur Aufführung kam. »Die heiterste Überraschung des Abends war ihr Spiel am Schluß des zweiten Aktes, wenn in der unnahbaren Majestät der Fürstin die alte Zirkusreiterin erwacht und die Peitsche tanzen läßt. Hoppla, hoppla, hoppla! Die Spielleitung greift hier mit einem eigenen Einfall dem Wedekind am kräftigsten unter die Arme und flößt ihm Schwank und Spaß ein, von dem er selbst nicht allzuviel mitbekommen hat. Adele Sandrock war einfach prachtvoll als Fürstin. Das Wiedersehen mit ihrem Fritz Schwiegerling wurde der Gipfel des Abends, die echte Groteske!«
Ein anderer Kritiker schrieb: »Die eigentliche Sehenswürdigkeit des Abends war Adele Sandrock als Fürstin und ehemalige Zirkusreiterin. Bewundernswert war die Selbstverleugnung, mit der diese letzte Heroine Geste, Ton und Blick ihrer tragischen Kunst travestierte. Hier war jener große Humor, den man so selten auf der Bühne findet. Unvergeßlich, wie sie am Schluß des zweiten Aktes, den einen Fuß auf einen Stuhl gestellt, das verrückte Durcheinanderwirbeln im Grafenschloß mit Peitschenknall und Hopp-hopp begleitete, unnahbare Hoheit in den Mienen.«
Zwischendurch gastierte ich im Januar 1920 am Bielefelder Stadttheater. Über mein Auftreten schrieb man folgendes: »Wie Adele Sandrock die Zeit lebendig werden läßt, die in der darstellenden Kunst in der Wiener Hofburg eine Pflegestätte von unvergänglicher Größe und Vollendung fand, so lenkt auch das Stück, in dem sie gestern bei uns auftrat, die Erinnerung dorthin. Vor hundert Jahren, am 20. Januar, wurde »Medea« als letzter Teil von Grillparzers Trilogie »Das goldene Vlies« vollendet, und zwei Monate später wurde das Drama am Hofburgtheater erstmalig aufgeführt. Damals spielte Sophie Schröder die Titelrolle, die später – eindrucksvoller – von Charlotte Wolter verkörpert wurde und nach ihr in Adele Sandrock eine Vertreterin fand, der es gegeben war und heute noch ist, die gewaltige Figur der Medea in der ganzen Größe, die der Dichter ihr verlieh, zu modellieren, die Unheilsträgerin in ihrer vollen Schaurigkeit vor uns erstehen zu lassen. Wie eindringlich gestaltete Adele Sandrock die Auseinandersetzung mit dem ungetreuen Jason, der in Kreusas stiller Neigung egoistisch ein neues Glück für sich sieht. Wie reckt sie sich in ihrer Verzweiflung zum Kampf für ihre Zukunft, wie lodert in ihr der Zorn, als alles Mühen umsonst ist! Wie Schwertstreich klingt es, als sie den König, den Beschützer Jasons, anherrscht: ›Gebt Raum, ich geh', die Rache nehm' ich mit!‹ Das war am Schluß des zweiten Aktes, der Höhepunkt ihrer grandiosen Leistung, die hier einen brausenden Beifallssturm entfesselte, als Widerhall des erschütternden Eindrucks, den ihr Spiel erweckt. Da sahen wir eine Künstlerin von monumentalen Linien, eine Darstellerin, die wie nur wenige über alle Mittel von Spiel und Sprache verfügt, eine geniale Könnerin. Nicht minder groß war sie in ihrer tiefen Zerknirschung, als sie sieht, daß auch die Kinder ihr verloren sind, nicht minder groß bei dem wilden Toben des martervollen Kampfes in ihrem aufgewühlten Innern, bevor sie es über sich bringt, die Kinder, nach denen sie so großes Verlangen trug, zu morden, nachdem sie zuvor Kreusa in den Tod geschickt, als Ausdruck ihrer Rache. Adele Sandrocks Mienenspiel und Sprache sind einzig wie die wundervolle Plastik ihrer Bewegungen. Man stand im Banne ihrer Kunst, der ein großartiger Festspieltriumph beschieden war.«
Die Medea ist die Rolle, die ich wohl am meisten gespielt habe, und immer freute ich mich, wenn ich solche Kritiken nach Hause bringen konnte. Nicht aus Eitelkeit veröffentliche ich sie, nur um zu beweisen, daß ich in meiner Kunst stets die richtige Linie eingehalten habe und mit ganzem Herzen und ganzer Seele dabei war.
Dann kam ein Engagement am Wallner-Theater, wo ich fünfzigmal hintereinander in »Kolportage« auftrat. Zwischendurch erteilte ich dramatischen Unterricht. Unter meinen Schülerinnen befanden sich Emmy Pregler vom Münchner Hoftheater, Sita Staub, Gertrud Haupt, Traute Lieb und viele andere. Darauf fand mein Debüt an der »Tribüne« statt, wo ich als Lady Brancaster die ersten Triumphe feiern konnte, und danach folgten wieder ein Engagement am Deutschen Theater und ein Gastspiel am Schauspielhaus in München. Mit einem Wort, es regnete wieder, es tröpfelte nicht nur. Ja, der Segen des vierten Gebotes hat sich an mir erfüllt, das kann ich mit ruhigem Gewissen sagen. Von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr steigerten sich meine Erfolge, so daß ich allmählich wieder die Adele von früher wurde. An der Volksbühne hatte ich schon in Wedekinds »Liebestrank« die Fürstin gespielt, nun spielte ich diese Rolle noch einmal an der »Tribüne« mit großem Erfolg und glänzender Presse. So war das Jahr 1926 mir günstig, und ich konnte zufrieden sein, denn ich war wieder an drei Theatern, in »Kolportage«, »Liebestrank« und »Viktoria« aufgetreten.