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Licht

Ein Märchengedicht.
(1893.)

Verloren stand vor langen, langen Zeiten
In dunkeltiefen Hochwaldeinsamkeiten
Ein armes Haus – verlassen wie ein Sarg,
Drin ein Verfemter seinen Jammer barg.

Zu heiß war ihm das junge Herz entbrannt.
In zorn'gem Feuer hatt' er wildvermessen,
Als hab' der Herr des Richteramts vergessen,
Der Liebsten Buhlen in den Tod gesandt.
In langen, jammerschweren Kerkerwochen
Ward ihm der stolze Flammensinn gebrochen.
Die Lieb' gebrochen und der Hoffnung Glut
Und seiner Jugend frühlingsfrischer Mut.

Ein düstrer Mann, den Stab in hagrer Hand
Ließ er das Tal, wo seine Wiege stand,
Wo zwischen goldner Fluren reichem Segen
Sein Gut, sein liebes Heimatgut, gelegen,
Wo er als Kind mit halbverstandnem Lied,
Das ihm die Mutter ernsthaft vorgesungen,
Im engen Kirchlein himmelsfroh gekniet;
Wo er der Schwestern, der geliebten, jungen,
Der holden Mädchen Liebestraum geschaut
Und heiter mit an ihrem Glück gebaut,
Wo sein Lieb ihm des Himmels Lust versprochen,
Sein schönes Lieb, das ihm die Treu gebrochen.

Aufstöhnend ging der wilde Jammer mit,
Als er der Heimat Grenzen überschritt.
Auf seiner Seele lag die schwere Last
Der Sünde und der langen Kerkerschauer;
So ging er hin, bis ihn ein Forst, ein rauher,
Ein düstrer Forst voll weltenferner Trauer,
Barmherzig lud zu schwermutvoller Rast.

Da krönte wilder Berge rauhe Kämme
Ein dunkles Meer verworrner Tannenstämme,
Verworrner Schatten lag auf Moosgebreiten,
Kein Blumenauge sprach von Seligkeiten,
Nicht Beere nickte und nicht Blütenstern; –
Kein Vogel schien im Zweiggerank zu wohnen,
Der Gießbach sank sein wildes Lied von fern,
hoch schloffen sich der Stämme Säulenkronen,
Und durch das Netzgeflecht, gedrängt und dicht,
Glomm bleich und traumhaft nur des Tages Licht.

In dieser Wildnis fiel zum erstenmal
Ein Hauch von Balsam auf des Sünders Qual.
Es war, als rief im Wind der Wald ihm zu:
»Bleib da! Ich bin so freudelos wie du!
Ich spreche nie mit einem frischen Lied
Von einem Glück, davon die Welt dich schied;
Ich werde nie mit weißen Blütenhecken
Dir deines Heimattals Erinnrung wecken,
Dir nie im Lenz mit grünen Blätterfahnen,
Mit Duft und Licht an deine Jugend mahnen.« –

Zum Trost des Sünders ward des Waldes Wort.
Ausrastend lag er in der Dämmerhelle,
Und pflanzte seinen Stab dann an die Stelle,
Und noch für eine Weile zog er fort,
Um, wo des Waldes Zaubernacht entschwand,
Wo fremde Ströme ihre Pfade wandeln,
Des armen Lebens Recht sich zu erhandeln.

»Mein,« sprach der Graf, der Herr der Talesgüter,
Vor den den fremden Frager man gebracht,
»Mein ist der Wald samt seiner Dämmernacht,
Doch wenn du willst, wohlan, sei du sein Hüter!
Zuweilen spannt, trotz Gnomenvolk und Fee,
Ein Dieb verschmitzt auf Keiler mir und Reh; –
Spiel' du den Geist! Verleid' dem Volk das Jagen!
Scheinst wahrlich wüst und wild genug, mein Sohn!
Nebst Korn und Met gewähr' ich dir als Lohn,
Zu einer Hütte Tannenholz zu schlagen!

Und dankbar schied der fremde Mann und fand
Die Stelle wieder, wo sein Stecken stand. –
Bald tönte seiner Holzaxt erster Schlag,
Gewaltig, wie nach langem, trotz'gem Schweigen
Ein wilder Aufschrei schrill erzittern mag, –
Und Schlag auf Schlag verhallte, fremd und eigen
Hinstöhnend durch den totenstillen Hag.

Dann kam ein Tag, wo unterm Zweiggeflechte
Die Hütte fertig aufgerichtet war,
Des Armen Zuflucht nun für wilde Nächte,
Sein Heim, sein Hort, sein Grab für immerdar!
Begraben hier! Das war's – das sollt' es sein!
Begraben hier mit aller Schmach und Pein,
So tief, daß den lebend'gen Todesschlaf
Kein Glockenton, kein Kinderlachen traf,
Daß nie ein Blick, erstaunt und vorwurfsbang,
Was schlummern sollte, heim ins Leben zwang,
Daß nie von seiner Lieben Groll und Gram
Dem Abgeschiednen klagend Runde kam,
Und keine Träne, die die Reue sandte,
Verzehrend ihm bis in die Seele brannte.

Nie scholl ein Wort hier, nie ein Menschenschreiten.
Mit finstrer Lust, mit trotz'gem Glück genoß
Er jenen Schatten tiefer Einsamkeiten,
Das bahrtuchgleich sein Leben nun umfloß.
Weit, tageweit um sein verlaßnes Haus
Goß sein Gewog der wilde Wald hinaus.
Der rauhen Bergwelt ernste Seele hing
An seinem Blick, wohin er wandernd ging.
Und wie ein Abgeschloßner wohl beglückt
In seiner Zelle trübem Dämmerschein
Ans kranke Herz ein krankes Vöglein drückt,
Liebkost er trotzigwild, tagaus, tagein,
Den rauhen Trost: »Ich bin allein! allein!«

Noch fester zog er diesen Trost heran,
Als leis des Sommers milder Hauch verrann.

Da war's, an eines blauen Abends Grenze,
Als sich in Nacht die Ferne schon verlor,
Als töne, wie in seiner Kindheit Lenze,
Sein Name weich verhallend an sein Ohr.
Erbleichend schrak er auf. – »Bist du gestorben, –
Gibst du ein Zeichen, Mutter, daß du's seist?
Rufst du von oben, lieber, lieber Geist?
O Mutter, neigst du dich, obgleich du's weißt,
Daß ich verfemt, verloren und verdorben?
Du bist's! Du rufst! Du Heilige, habe Dank!« –

Da glomm der Mondstrahl durch das Zweiggefieder.
Und sieh, ein bleiches, müdes Weiblein sank
Mit leisem Aufschrei ihm zu Füßen nieder.
Mit heißem Jubel klang's durch heißes Weh:
»Nun fand ich dich, von dem ich nimmer geh!
Weit weit du drangst in deiner Sünde Schmach,
Die Mutterliebe zog dir suchend nach.
Was du getan, kann meine Macht nicht heilen,
Doch meine Liebe will es mit dir teilen.
Ich habe dich gesucht im weiten Land; –
Mag's Gottes Wille sein, dich zu verderben –
Sein heil'ger Wille war's, daß ich dich fand. –
Ich bleibe bei dir! – Ich will mit dir sterben!« –

Sie blieb. – Wie oft er düster sie verwies.
Wie wild er sprach, wie rauh sein ganzes Wesen,
Das einst so gut, so frisch, so weich gewesen,
Sie und ihr Mitleid nun willkommen hieß.
Sie blieb, so still, so demutvoll, als bliebe
Sie hier aus Not, die nur das Nest erblickt,
Als habe Kinderglück und Enkelliebe
Im fernen Tal sie traulich nicht umstrickt.
Den kleinen Sparschatz, den im morschen Tuch
Sie hergebracht samt ihrem Bibelbuch,
Gab sie dahin mit sorglos leichtem Sinnen,
Trug Hausgerät und Vorrat mancherlei
Mühsam, gebückt, aus fernem Tal herbei,
Um hier für immer fest sich einzuspinnen,
Und brachte so des Lebens Wirklichkeit
Geschäftig in die Weltverlassenheit.
Sie zog sich still den kleinen Pflichtenkreis,
Sie rang und schaffte unvermerkt und leis
Und trug's versteckt und klagte nicht und grollte
Nicht einmal, ob ihr's auch das Herz durchdrang.
Daß sie den Trotz des, den sie retten wollte,
Mit aller ihrer Liebe nicht bezwang.
Es war, als flieh' er ihre sanfte Treu,
Es war, als ob geheime, tiefe Scheu,
Die dunkle Macht verborgner Elemente,
Den armen Sünder von der Reinen trennte.

In später Nacht, nach trüber Tage Lauf,
Todmüd sucht' er die kleine Hütte auf,
Und schweigend saß er dann, mit stummer Qual,
Ihr gegenüber beim bescheidnen Mahl.

Bedacht' er's, wie sie so verlassen blieb,
Ging's ihm wohl tief. Doch heimlich war's ihm lieb.
»Sie kann's nicht tragen,« dacht er, »und sie kehrt
Zurück, Gott lob! und läßt mich meiner Pein.
Ich kann, ich kann nicht mehr um Menschen sein!
Gott weiß, wie mich die tiefe Scham verzehrt,
Vor ihr, der Darbenden, der Reinen, Guten,
Tagtäglich meine Schande auszubluten!« –

Ihr aber ward die Stille rings umher
Und auch ihr Schmerz zu tragen nicht zu schwer.
Sie war geschirmt, geborgen und gefeit
Im Schleier einer tiefen Frömmigkeit;
Sie hatte Trost, sie hatte ihren Hort:
Im heil'gen Buch das heil'ge Gotteswort.
Es floß wie eine reiche, weiche Quelle,
Wie eine Welt voll Hoffnung und voll Ruh,
Wie eine frische frohe Lebenswelle
Ihr aus der Schrift geliebten Worten zu.

Noch warf der Frühherbst seinen warmen Schein
Gedämpft und doch verklärt zum Wald herein –
Da ließ sich's gut im tiefen grünen Schweigen
Das Spinnrad drehn und doch dabei geschickt
Die Augen auf die trauten Sprüche neigen,
Wie über einen Strom, der tief erquickt.
Durch immer neues Lesen sich zu stärken
Galt ihr's, – denn um das Wort wie sonst zu merken,
War sie zu schwach, und ihre Sinne waren
Gealtert – mehr durch Kummer, als an Jahren.

Doch schnell verrannen, – ach zu schnell für sie! –
Die goldnen Tage, die der Herbst verlieh.
Bleichgrauer Regenwochen trüber Schein
Wob sie in schwere dunkle Nebel ein.
Es war, als schreite drohend auch am Tag
Der Geist der Nächte durch den wilden Hag.
Die Wipfel rauschten wie des Meeres Wogen;
In dunkeln Liedern sang der Wald sein Weh;
Wie scheue Wandervögel überflogen
Die Wolken die bewegte grüne See
Und sandten ihre Schatten im Enteilen
Verdunkelnd auf der Bibel heil'ge Zeilen.
Wie flehte da eindringlich, heiß und schlicht
Das Weib zum Himmel auf, – um Licht, – um Licht!

Doch immer flücht'ger, immer bleicher lag
Im Arm der Erde nun der müde Tag.
Sein zitterndes, verwehendes Geleucht
Glomm seltener, wie windverwehte Wellen,
Durch Nebelwehn und trübes Schneegefeucht,
Der Bibel gelbe Seiten zu erhellen.

Da war's, als ob die Dämmrung, schwer und bang,
Auch um ihr Herz die dunklen Falten schlang.
Verwischt aus den Gedanken, weit verstreut,
Wie frommer Glocken liebliches Geläut,
War ihr der Trost, den sie zu hören bangte,
Der Trost der Schrift, nach dem ihr Herz verlangte.

Wie um ihr Heil, mit glühendem Gesicht
Bat sie und flehte sie, – um Licht, – um Licht!

Sie suchte bei des Herdes trüben Flammen
Und bei des Kienspans ruß'gem, rotem Brand
Die heil'gen Worte weinend sich zusammen, –
Der krause Druck jedoch verschwamm, verschwand,
Eh ihn ihr armer, matter Blick gebannt.

Sie suchte zwischen Schnee und Wetterwinden
Den Weg, den weiten Weg ins Tal zu finden,
Und für ein Lämpchen, jetzt für sie ein Leben,
Die letzte Barschaft freudig hinzugeben.
Doch in dem Dickicht, wo die Sonne nur
Die Richtung zeigte und der Pfade Spur,
War jetzt im Schnee und bei des Nebelns Wehn
Kein Ausweg mehr, – kein Weg zum Licht zu sehn!
Den Sohn, den düstern, selbst um Licht zu flehn,
Ihn heiß zu bitten, in den trüben Tagen
Ihr, ihr zulieb den Weg zum Licht zu wagen,
Vermocht' sie nicht. – Vor seiner trotz'gen Pein
Schien ihr der eigne, große Kummer klein.

Dann, in der Tage langer Nacht, durchdrang
Der Schmerz sie wieder und der Sehnsucht Qual.
Sie betete, – sie zitterte, – sie rang
Mit Gott um einen einz'gen hellen Strahl.
»Bin ich verloren? – Ist das dein Gericht?
O führe mich und ihn, – zum Licht, zum Licht!«

So ging in Schmerz und Sehnen immerdar
Zu Ende fast das trübe, dunkle Jahr.
Kaum schlug der Tag in seinem kurzen Lauf
In seinem Wehen über Wald und Trift,
Die schweren Lider flüchtig lächelnd auf,
Da saß mit der geliebten heil'gen Schrift,
Dem Born, der in der Dunkelheit versiegt,
Der ihr, so heiß, so flehend sie gerungen,
Seit Tagen zu erschließen nicht gelungen,
Das Weib einst abends an den Herd geschmiegt.
Es rief ihr Herz in seiner tiefen Not
Nach Licht, wie ein Verhungernder nach Brot,
Wie man nach Rast in Todesmütigkeit
Und im Verschmachten nach Erquickung schreit.

Da, wie ihr Blick nach unbewußtem Ziel
Durchs kleine Fenster in die Weite fiel,
Erschien's, als wandle durch den dunklen Tann
Von weitem ein verschwomm'ner Schein heran.
Aufdämmernd kam's, wie ein entzücktes Ahnen,
Und schwand und blitzte wieder auf von fern
Und zog wie ein verirrter Wandelstern
Durchs tiefe Dunkel wunderbare Bahnen.

In nassen Blicken neuer Hoffnung Glanz,
Sah die Verzagte nach dem Strahlentanz.
Sie sann, sie frug nicht, ob Gefahr ihr drohte.
Sie hing gebannt nur an dem holden Schein.
Sie jubelte: »Es muß ein Retter sein!
Ein Jäger, – ein verirrter Wanderbote,
Ein müder Gast, der seine Leuchte gern
Mir eine Stunde läßt zum Dienst des Herrn!«

Ums lichte Greisenhaar das lose Tuch,
Die Wangen heiß von hoffendem Verlangen,
An's Herz gedrückt das teure Bibelbuch,
Ist sie getrost durchs Schattenmeer gegangen,
hinaus auf dunkelüberdachten Wegen,
Durch Kälte, Nacht und Not, – dem Licht entgegen.

Und näher kam, holdselig, mild und weiß,
Der wunderbare, fremde Strahlenkreis,
Der Schatten rings schien flatternd zu entschweben,
Das Walddach leuchtend sich emporzuheben,
Und eine Halle, wundersam erhellt,
Von Reifduft blauend wie von Weihrauchwallen,
Durchsät von tausend zitternden Kristallen,
Schien die geheimnisvolle Waldeswelt.

Demütig-fromm und glaubensstark wie nie
Sank das verhärmte, müde Weib aufs Knie,
Still sprach sie ihr Gebet, wie einst im Dom,
Und blätterte der Bibel heil'ge Seiten
Und ließ voll Andacht den geweihten Strom
Des hohen Trosts in ihre Seele gleiten.

Und wie sie weinte, lächelte und las
Und ihre Seele frühlingsgleich genas,
Schwoll das Gewog der Wellen um sie her,
Der weißen Wellen, immer mehr und mehr.
Es scholl wie Engelgehn, wie leichtes, leises.
Und wie der Mond des Meeres Spiegel trifft,
Fiel jäh der Kern des weißen Strahlenkreises
Verklärend auf die alte braune Schrift.

Entzückt sah sie empor und tief erschrocken,
Geblendet wie von weißer Flammen Wehn, –
Und sah, umschleiert von beeisten Locken,
Ein schlankes Kind im Silberlichte stehn.
Schneelichten Linnens duftiges Gefalt
Umwogte die holdselige Gestalt.
Nachtblaue Augen blickten klug und rein
Und selig, einem andern Glück zu spenden.
Sie selbst verströmte den verklärten Schein,
Denn leuchtend hielt sie einen weißen Stein
Gleich einem Stern in weißen Kinderhänden.

Das war der Kern der wundersamen Helle:
Ein Stein, von weitem, weißem Glanz umhaucht,
So mild, als sei in ewig klare Welle
lebend'ges, ewig klares Licht getaucht.

Verstummt und wie in überird'schem Bann
Sah das erschrockne Weib das Mägdlein an.
Sie aber neigte lächelnd sich zu ihr.
»Lies weiter, Mütterlein! Ich leuchte dir!
Lang hab' ich Zeit noch, bis um Mitternacht,
Und meinen Weg werd' ich auch später finden.
Lies, Mütterlein, eh wir im dunklen Schacht,
Ich und mein Licht, für immer dir entschwinden!« –

»Für immer!« sprach die Alte zitternd nach,
Und ihre Seele, ihre lichtverklärte,
Verstummte, eisig schauernd, als sie's sprach.
Sie sah auf ihr geliebtes Buch und kehrte
Den Blick empor und schaute wie gebannt
Das Kind an und den Stein in seiner Hand.

Da war's, als ob der Schmerz sie übermannte.
»Für immer!« sprach sie laut zum andernmal,
» Nein! Nicht für immer diese dunkle Qual!
Es kann nicht sein! Der Gott, der dich mir sandte,
Verhöhnt den Hunger meiner Seele nicht!
Er weiß, welch Sehnen mir das Herz verbrannte,
Und schickt mir nun dies wunderbare Licht.
Zu himmlisch fiel's in meine Nacht hinein,
Versuch' mich nicht – und lasse mir den Stein!« –

Und wie sie's sprach in atemloser Hast,
Hielt glühend sie die kleine Hand umfaßt.
Ihr war's, als sei jetzt zwischen Tod und Leben
Die ew'ge Wahl ihr in die Hand gegeben.
In Flammen war ihr tiefstes Herz entfacht.
Ihr war's, als müsse sie mit heißem Ringen
Das Licht der Seele sich von Gott erzwingen,
Entfliehn der langen, fürchterlichen Nacht.

So kam's. – So ließ der Sehnsucht Überschwall
Die Hand erstarken, der das Mägdlein wehrte,
So hielt sie, fiebernd, wie sie ihn begehrte,
In ihrer Hand den flammenden Kristall,
Barg ihn im Tuch und hielt entzückt und fest
Das Licht, das holde Licht, ans Herz gepreßt.

Und matt nun vom verhaltnen Glanz erhellt,
Entzaubert, fahl und kahl lag rings die Welt.
Bleich, ohne das Geleucht des Himmelslichtes,
Stand zitternd im erwachten Winterwind
Das Mägdlein da, ein armes, süßes, schlichtes,
Verzweifeltes, erschrocknes Menschenkind.
»Weh! Wehe!« rief sie, jammervoll und bang,
Wie nie zuvor ein Kindeswort erklang.
»Weh! Weh! Wir sind in ew'ge Nacht entrückt!
Dein ist das Licht! Dein, dein für alle Zeit,
Seitdem du's an dein heißes Herz gedrückt!« –
Da nahm das Weib voll irrer Seligkeit,
Voll Staunen und voll himmlischem Erbarmen
Das blasse Mädchen auf in ihren Armen.

»Wer bist du, liebe Blume, zarte, reine,
Die du wie Gottes Engel mir erscheinst?
Des Himmels Glück mir bringst – und dabei weinst?« –

»Gott schickt mich nicht!« sprach tränenvoll die Kleine.
»Aus dunklem Land, wo nie ein Stern erglommen,
Vom Land der Zwerge, bin ich hergekommen.
Wir wohnen unter dieser Erde Hülle,
In Not und Nacht, von allem Leben fern.
Nur dieser Stein mit seiner Strahlenfülle
War unsre Sonne, unser Mond und Stern.«

»So sagst du,« rief das Weib entsetzt, »du seist
Ein Zwergenkind, – ein Elf, – ein nächt'ger Geist?« –

»Nein,« wehrte sie mit leisen Tränenklagen,
»Ich bin ein Mensch, treulos und unbedacht
Nach Menschenart, wie mir die Geister sagen.
Mich hat, zwölf Jahr sind's her, in wilder Nacht,
In schlechtes Linnen ärmlich eingebunden,
Ein Zwerg am dunklen Felsentor gefunden.
Nun bin und lebt' ich fröhlich immerdar
Im Erdenschoß bei der getreuen Schar.
Sie gaben mir von ihrem Brot und Trank
Und regten doppelt ihre armen Hände.
Und eins nur baten sie von mir zum Dank:
Daß ich zur Sommer- und zur Winterwende,
Am längsten und am kürzesten der Tage,
Den Stein, der unsre tiefe Nacht erhellt,
Das Kleinod und die leuchte unsrer Welt,
Auf des Gebirges höchste Spitze trage,
Damit er sich am goldnen Himmelsauge,
Am Sonnenquell voll Strahlenfeuer sauge.
Wie haben sie mich treu zu sein gebeten!
Ich aber – weh! – gerührt von deiner Pein
Hab' ich ihr Bitten treulos übertreten!
Und nun ist unser Licht, ist unser Stein,
Nach alter, heil'ger Satzung ewig dein!«

Verwundert sah die Alte drein. – Voll Leid
Und lieblich-klug gab ihr das Kind Bescheid,
Wie sie in stiller Zeit ihn oft erfahren.
»Aus Glut und Eis vor Tausenden von Jahren
Schuf für die Zwerge, für die weltverbannten,
Der Geist der Erde diesen Lichtdemanten. –
Da warf sich in der Berge dunkle Kluft
Mit wildem Streit der trotz'ge Geist der Luft. –
Für seine Kinder, für der Menschen Scharen,
Erstritt er sich den Stein, den wunderbaren,
Und kämpfte für sein Recht mit Sturm und Blitz,
Denn Eis und Feuer waren sein Besitz.
Nach langem, wildem Streit ward dann in Frieden
Der Zauberstein dem Zwergenvolk beschieden.
Er sollte in der Bergnacht grausen Weiten
Solange seinen Himmelsglanz verbreiten,
Bis Zufall und Geschick es einmal führe,
Daß eines Menschen Herzschlag ihn berühre.
Dann trät' der Menschen sterbliches Geschlecht
Mit aller Kraft in des Besitzes Recht. –
Wem das Geschick den Flammenstein bescheide,
Der wisse nichts von Kummer mehr und Leide,
Dem werde Glück und reicher Liebe Heil
Und aller Wonnen Übermaß zuteil,
Wenn er nicht selber frei und ohne Klage
In heil'ger Güte dem Besitz entsage.«

»Verzichten?« rief das Weib. – »O frage, frage
Nicht, was es hieße, – jetzt noch ein Verzicht!
So wahr ich nicht der Seligkeit entsage,
Entsag' ich dieser Himmelsgabe nicht.
Nach Gottes Rat sollt' sie mein Herz berühren,
Und sie ist mein! Und mein der Trost der Schrift!
Doch weine nicht! Ich will dich heimwärts führen,
Daß dich kein Groll, du bleicher Engel, trifft!
Die armen, treuen Geister mögen's wissen
Wie ich dir selbst den Zauberstein entrissen!«

So gingen sie, aus mattbestrahlten Wegen,
Eng angeschmiegt, weit, weithin durch die Nacht.
Still schritt das Kind, als ging's dem Tod entgegen,
Das Weib beglückt, als sei auf Pfad und Stegen
Ein sonnengoldner Frühlingstag erwacht,
Lenzfroh erhob die Hoffnung ihre Schwingen,
Es mußte ja bei dieses Lichtes Pracht
von trotz'gem Mund, aus schweren Herzens Nacht,
Erlösend wie ein erstes Drosselsingen,
Das erste helle Freudenwort erklingen!

So ging sie durch die Nacht – und doch im Licht.
Und in des Herzens Taumel sah sie nicht, Wie sie das Kind aus dunklen Waldeshängen
Einführte in verschwiegnen Felsengängen.
Wie sich der Pfad, verworr'ner als zuvor,
In dunkler Tiefe allgemach verlor,
Wie statt der Tannen wechselnd wirren Schatten
Und statt des Daches, das die Waldnacht wob,
Nachtfeuchte Wände sie umschlossen hatten,
Und graues Erz sich kuppelgleich erhob.

Als das Gewirr dann des verzweigten Bau's
Zu düstrer Halle auseinander trat,
Erschauerte das Mägdlein tief, und bat:
»Nimm nun den Stein aus deinem Tuch heraus
Und laß im Erdenschoß, im dunkelfeuchten,
Zum letztenmal sein Strahlenwunder leuchten!«

Da sah das Weib, erwacht aus lichtem Traum,
Angstvoll umher, – und sah die tiefen Spalten
Des Steingeklüfts gleich schweren Riesenfalten
hinfluten um den grabesdunklen Raum.
Die Ahnung grenzenlosen Jammers fiel
Auf sie, – und, schauernd in den düstern Weiten,
Ließ sie des Steins weißgoldnes Flammenspiel
Befreiend durch die nächt'gen Schrecken gleiten.

Da floß und flutete es hin und schwoll
Empor in tausend breiten Strahlenbächen.
Die Pfeiler wuchsen hoch und wundervoll; –
Ein Funkenrieseln stäubte von den Flächen
Und in kristallnen Himmelsduft zerstob
Der Moderhauch, den Nacht und Tiefe wob.
Weit, ewig weit vor dieser Lichtgewalt
Müßt' unsrer Tage milde Helle reichen! –

Nun scholl auch froher Lärm. – Dem Flammenzeichen
Ward Antwort aus zerrissenem Gespalt.
Ein Jauchzen klang, ein weitverhallend Grüßen, –
Die Zwerge nahten, häßlich, arm und schlicht,
Doch sie auch überflutet von dem süßen,
Dem heißgeliebten, dem lebend'gen Licht.

Sie nahten wie mit lenzverklärten Sinnen
Dem holden Stern – und standen wie gebannt,
Und sahn entsetzt aus einer fremden Hand
Die morgenhellen Lebensströme rinnen.
Sie sahn das Mägdlein bleich, wie im Vergehn,
Und hörten, wie sein »Wehe, Wehe!« klang,
Und ahnten ihres Glückes Untergang,
Schnell, wie die Ärmsten nur den Schmerz verstehn.

Da wandelte in tausendstimm'ges Klagen
Der Jubel sich, der noch so hell geloht.
Auf tausend Herzen lag ein dunkler Tod,
Ein tausend-tausendfältiges Verzagen.
Zurückgeprallt, verstärkt vom Steingeklüfte,
Wie sich am Fels die volle Welle bricht,
Klang wild-erschütternd durch die dunklen Grüfte
Der rauhe Schrei um das geliebte Licht.

»Laß uns den Stein, beglücktes Menschenkind!
Du siehst den Tag, und wir sind ewig blind!
Du siehst den Aar im Äther, Wald und Au'n,
Und wir nur schwarze Nacht und Tod und Grau'n!«
Und immer, immer, wandellos und fest,
Wie um ihn gegen eine Welt zu wahren,
Hielt noch das Weib den Stein, den wunderbaren,
– Ihr und des Sünders Heil – ans Herz gepreßt.
Sie sah die Zukunft vor sich, Licht und weit,
Ihr kam's, wie Lenzduft einer neuen Zeit,
Ihr war's, als ob sie goldne Flügel trugen,
Als ob die Hoffnung stärker sie gefeit,
Je höher jenes Jammers Wellen schlugen,
Und in der Kleinen Schmerzensruf hinein
Sprach sie bewegt, doch fest und fromm ihr: »Nein!«
Da war's, als ob die Leidenschaft ermatte,
Als ob die Welle, die der Sturm zerbricht,
Mit ihrer Hoffnung still sich selbst bestatte.
»So ist's geschehn! verloren ist das Licht!
Und nun noch leben, leben immerdar!«
Klang's stöhnend nun, ersterbend aus der Schar.

Stumm stand das Weib, gefaßt, zum Gehn gewandt.
Da faßte einer nochmals ihre Hand.
»Das Licht ist dein! Doch daß dir unsre Klage
Nicht endlos folge wie ein Nachtgespenst,
Sei mitleidvoll! Laß uns für wenig Tage
Den Stein, von dem du uns für ewig trennst,
Damit wir uns, wie längst von allem Schönen,
Nun auch von seinem lieben Glanz entwöhnen.«

Viel rührender, als das bewegte Leiden,
Sprach dieses traurigstille Sichbescheiden.
»Wohl,« sprach sie, halb gewonnen und erweicht,
»Ich wollt' euch gern den armen Trost nicht rauben,
Doch seid ihr treu? Und wollt ihr nicht vielleicht
Den Stein behalten? Darf ein Mensch euch glauben?
Und wenn ich's tät, fänd' ich durchs Felsenmeer,
Durch Wald und Nacht die Pfade zu euch her?
Der klugen Zwerge List ist uns bekannt!
Gebt mir, daß ich euch traue, als Gewähr
Das Schönste, Liebste, was euch bleibt, als Pfand!«

»Das Liebste!« flüsternd wie ein Blütenwind
Ging's durch die Reihn. Sie sahn sich lächelnd an.
Und auch das Mägdlein lächelte. Und dann
Brach's rauschend los: » Wohlan, so nimm das Kind! –
»Nimm's als ein Pfand für noch drei Strahlennächte,
Drei lichte Tage,« rief ein Gnomenkreis. –
»Und wahr' es treulich,« sprach ein andrer leis,
»Es weiß den Weg zurück durchs Waldgeflechte,
Es führt dich wieder her in unsre Nacht!«
»Sprich sanft zu ihm und hab' es wohl in acht,«
Bat weichen Klangs ein dritter von den Alten,
»Und willst du's dann noch einen Tag behalten,
Das liebe Ding, so tu's und zaudre nicht!
Und laß uns dann noch einen Tag das Licht
Ein Vierter wagte lächelnd gar zu sagen:
»Du darfst auch, wenn du magst, nach hundert Tagen,
Dein Pfand erst gegen deinen Schatz vertauschen!
Ja, wenn du willst, laß tausend auch verrauschen!«

Ernst sprach ein andrer: »Eins mußt du erfahren,
Ich muß dich warnen, weil ich ehrlich bin:
Nicht später komm, als nach drei Erdenjahren!
Nähmst du nicht eh'r dein Eigentum dahin,
Sagt unsre Satzung, gält es als Verzicht,
Und ewig uns zu eigen wär' das Licht

»Wozu die Warnung!« sprach das Mütterlein.
»Ich komme, eh der dritte Tag versunken,
Gewiß zurück und hole meinen Stein!« –
Dann sah sie zu, bewegt und hoffnungstrunken,
Wie der Verstoßnen arme dunkle Scharen
Geschäftig um die arme Kleine waren,
Wie sie sich mühten, ihrem süßen Leben
Vor diesem schweren Auseinandergehn
Doch noch ein Lächeln auf den Weg zu geben,
Noch ein vertröstendes: »Auf Wiedersehn!«

Bis an des Schachtes dunkles Felsentor
Stieg mit den Zwei'n der Zwerge Zug empor.

Dann standen im erwachten Frühlichtschein
Die Alte und das blasse Kind allein.
Ringsum der Hochwald, bleich und schneebehangen,
Ein fahler Himmel über weißem Land.
So sind sie sinnend, träumend, Hand in Hand,
Der stillen Hütte schweigend zugegangen.

Mit ihnen stieg, in Reif und Nebelflor,
Verhüllt, verträumt, der kurze Tag empor.
Weich, wie ein seiner, goldner Schleier, lag
Ein tiefer Frieden über diesem Tag.
Traut schien das Hüttlein in der Waldesnacht,
Seitdem die Hoffnung mit hereingeschritten, –
Die Alte saß und spann und lauschte sacht,
Dem Wehn und Gehn von leichten Kindertritten,
Dem leisen Rauschen weicher, feiner Falten,
Des Kindes ganzem süßem Tun und Walten.

Es hatte sich geschäftig und geschickt
Im kleinen Raum schon helfend umgeblickt,
Das bißchen Armut, Tisch und Stuhl und Herd,
Erschien ihm seligen Erstaunens wert.
Mit seinem Antlitz, seinem märchenweißen,
Dem holden Blick, dem schleierfeinen Kleid,
Erschien es selbst ein seliges verheißen,
Der nahen, märchenhaften Seligkeit.

O wunderbares, tröstendes Erwarten
Des sichern Glücks nach all dem Leid, dem harten!
Und dann, – wie rückte erst dies Glück heran,
Wie war verweht, verschmerzt, was je gewesen,
Als in der Dämmerzeit das Kind begann
Der Alten aus der Bibel vorzulesen.
Sie las so wundersam bewegt und sann
So glühend nach und frug mit holdem Zagen
So tiefe, fromme, kinderkluge Fragen,
Und deutete das Wort so rein und schlicht,
Wie's einst wohl von des Heilands Mund geflossen; –
Es war, als sei ein neues, helles Licht
Auf die vergilbte Bibel ausgegossen,
Ein Trost, ein Duft, ein milder goldner Schein,
Erhaben über alles Menschensein!

Den Weg zum Hüttlein suchte heute schon
Im Dämmerlicht des Weibes sünd'ger Sohn.
Das waren gestern bitterschwere Stunden,
Als er die Alte nicht daheim gefunden!
Sein Sinn war wirr, und seine Seele glühte
In Angst und Weh, da sie nun dennoch wich,
Verstohlen wich, von deren treuer Güte
Ihm doch, so trotzig er's zu leugnen mühte,
Wie oft! ein holder Hauch das Herz beschlich!

Und nun, da er verwildert und verwirrt
In dunkler Qual den Wald nach ihr durchirrt,
Fand er sie hier im roten Herdbrandscheine,
Sie und das Kind in lieblichem Vereine!

Da schmolz der Trotz des hagern Angesichtes. –
Als es ihm feucht die Wange überrann,
Vergaß das Weib den tiefen schweren Bann
Und goß die Kunde des geliebten Lichtes
Voll, leuchtend aus auf den verlornen Mann.

Licht! Licht! Es traf ein zages Lenzeshoffen
Sein Herz, wie's nie ein Menschenherz getroffen.
Aufatmend zwang er die Bewegung nieder.
Und wie in alten Tagen saß er wieder
Still lauschend auf der Alten Plauderei'n,
Mit ihr am Herd im lieben Flammenschein.
Und zwischen ihnen, wundersam durchhellt,
Verklärt vom Hauche fremder Märchenwelt,
Nicht sonnenschön, doch zart wie Mondenlicht,
Des Kindes liebes, lächelndes Gesicht! –
O Schmerzvergessen! Seliges Entrinnen!
Zu schnell doch bei des Kindes reinem Blick
Fiel der Verdammnis lastendes Geschick,
Ein grelles, schweres, schauderndes Besinnen,
Des Gottgetrenntseins ganzer tiefer Schmerz,
Erdrückend auf des Mannes dunkles Herz. –
Da hafteten in ungestümen Fragen
Die heißen Blicke lodernd auf dem Kind,
Doch ruhig hielt's die Augen aufgeschlagen,
Ein Kinderlächeln traf ihn, lieb und lind,
Aus frommem Antlitz strich's die weichen Locken
Und sah ihn an vertrauend, unerschrocken.

Und leichter schien ihm in den nächsten Tagen
Des Lebens schwere, rauhe Last zu tragen.
Er dachte, der sonst nur an Tod gedacht,
Gern an den Stein und seine Wunderpracht.
Er hatte sich der Hoffnung auf Verzeihn
Entrungen in verzweifeltem Entsagen.

Da brach die lange, dunkle Nacht herein.
Nun aber kam es, wie ein neues Tagen,
Aus fremder Welt begann ein fremder Schein
Sich wundervoll verstohlen zu verbreiten. –
In seiner Seele längst verstummte Saiten,
Griff nun das Wunder wunderselig ein!

So sah er mit unendlichem Bewegen
Dem dritten Tag, dem Tag des Lichts, entgegen.
Er suchte nicht mehr halbe Nächte lang
Des Hochwalds Rauschen und des Gießbachs Sang,
Des Wetters Drohn und wilder Stürme Stöhnen,
Um seiner Seele Sturm zu übertönen.
Aufatmend, wie in himmlisch-holder Hut,
Entronnen der Gedanken grimmer Meute,
Saß er im Stübchen, das des Herdes Glut
Mit frischen Rosen flackernd überstreute.
Weil ihm das Kind des Glücks Gewißheit bot,
Schien ihm das Kind vom trauten Heut das Beste. –
So schwand die Zeit, schön wie ein Abendrot,
Wie Spätgeläut vor einem hohen Feste.

Dies sabbatfeierliche Träumespinnen,
Es war so schön, daß man der Zeit Entrinnen,
Die wie ein müder Falter zögernd blieb,
Durch ruhelose Ungeduld nicht trieb.
Tief wunderbar tat, bis in Herz und Blut,
Vor allem einem dieses Harren gut!
Ja, als der dritte Tag die Augen schloß,
Als man, erzitternd, mit entzücktem Beben,
Sich's eingestand, daß nun die Zeit verfloß,
Als Mütterlein und Kind zum Gang sich eben
Stumm schickten, kam's ihm selbst von ungefähr
Zu Sinn, dem wenig frohes Sinnen glückte,
Daß morgen, wahrlich morgen, Weihnacht wär'!
Wenn man dem Kind ein Tannenbäumlein schmückte?
Heutabend?! – Oder? – – – Nein, – das kann nicht sein!
Und doch, dies Harren so im Dämmerschein
Im Vorgeleucht von frohen Zukunftstagen,
Man könnt' es schon bis morgen noch ertragen!

Zum erstenmal war's, daß er lächelnd sprach,
Und freudig lächelnd gab die Alte nach.
Ein Bäumlein, wenn auch ohne Glanz und Kerzen
Wob seinen Duft, als noch ein Tag verging,
Holdselig in die Hoffnung dreier Herzen.
Die Engelbotschaft las das Kind und hing
Mit frommen Blicken, schwärmend, traumhaft eigen,
Erschauernd an des Tännleins duft'gen Zweigen.
Da sanken zitternd ihr die feuchten Lider,
Sie träumte. – Und im Traum, für sie, für sie
Erscholl der Engel Freudenbotschaft wieder,
Und auf das Kindlein neigte sich Marie.
Traumrosen blühten auf des Mägdleins Wangen,
Ergreifend war ihr Angesicht durchsonnt. –
Sie wecken nun zum Gang, zum eis'gen, langen, –
Wer könnt' es? – Beide haben's nicht gekonnt!

Es tut so gut, Barmherzigkeit zu geben
Für den, der selbst Barmherzigkeit erfuhr!
»Noch einen Tag!« – »Und nun noch einen nur!« –
»Was fehlt uns denn?« »Wir werden's doch erleben!«
»Jetzt schneit und klirrt es, und der Nordwind weht,
Wir wollen warten, bis der Schnee zergeht!« –
So schob das Weib erbarmend bald das Scheiden,
So schob es lächelnd bald der Sohn hinaus,
Und bleich und dankbar blühte zwischen beiden
Das Mägdlein auf im eisumstarrten Haus.
Sie gab, so oft's die Alte nur begehrte,
Ihr aus der Schrift den heil'gen Trost und Trank,
Daß sie das Licht so sehnend nicht entbehrte,
Und glühend wußte sie dem Manne Dank,
Daß er sie zürnend nicht zu scheiden hieß
Und noch den Zwergen ihre Leuchte ließ.
Gott weiß, wie tief's dem armen Sünder ging,
Wie sie so voller Demut an ihm hing.
Wie sie ergeben, andachtvoll beinah,
Auf ihn und auf sein düstres Wesen sah,
Und jedes Lächeln, das er gab im Flug,
Taglang auf frommem, stillem Antlitz trug!

Der Nordwind schwieg. – Und Eis und Schnee zerrannen.
Feuchtwarm kam's aus dem Süd. – Jetzt, jetzt ist's Zeit!
Gut wandert sich 's im Märzenwind von dannen!
Doch nein, zu stürmisch gab der sein Geleit! –
Mit breiten Flügeln, zornig ausgespannten,
Ein wilder Jäger, schmetternd in sein Horn,
Ein König, zitternd in unbänd'gem Zorn,
Im Kampfe mit rebellischen Trabanten,
Die Rache tragend über Land und Meer,
Furchtbar und prächtig kam der Sturm daher.
Aufrauschend schwoll der Wald, wie voller Hoffen,
Und senkte dann, von wildem Schlag getroffen,
Hinsterbend, atmend, flehend, ihn zu schonen,
Mit schrillem Schmerzschrei die betauten Kronen.

Erblassend rief das Kind im engen Haus:
»Mir bangt! Mir bangt! O Gott, was wird daraus?«
Da neigte sich ein dunkles Angesicht,
In das der Nachtsturm auch sein Wort geschrieben,
Zu ihr. – »Wie gut, daß du bei uns geblieben!
Wie tief es nachtet, wir, wir haben Licht!
Erschrick nicht! Mägdlein! Aus der Erde Schoß
Ringt sich verklärt der junge Frühling los!«

War es ein Wunder, daß nach diesem Wehn,
Nach diesem Schmerz, mit dem sie um ihn bangte.
Das arme Kind aus tiefster Brust verlangte,
Den Lenz, den auferstandenen, zu sehn?
Und war's ein Wunder, daß man ihr gewährte,
Was sie so fromm, so sehnsuchtsvoll begehrte? –
Sie trank der Sonne leise, bleiche Strahlen,
Den feuchten Hauch, der aus dem Moose schwoll.
Den Harzduft, der dem Tannengrün entquoll.
Das leise Wehn aus fernen Veilchentalen
Entzückt, begeistert, sel'gen Dankes voll.

Sie lohnte tausendmal mit frohen Zähren
Der beiden stilles Harren und Gewähren.
Es schien die auferwachte Lebensflut,
Der Seele Rausch, des heil'gen Dankes Glut
Die bleiche Hülle flammend zu verzehren.
Da sprach das Weib ihr tröstend selber Mut.
»Genieße nur! Genieße nur das Blühn!
Des Sommers Fackel leuchtet ja durchs Grün!
Wir holen uns den Stern der Zauberwelt
Erst, wenn des Herbstes Schatten niederfällt!
Bring nur dein Herz zur Ruh! Wir harren gern!
Uns leuchtet sicher ja das Licht von fern!« –

Und stiller ward des jungen Herzens Schlag,
Und holder ward der Schimmer ihrer Wangen,
Und froher ward ihr Dank von Tag zu Tag.
O reiches Geben! Himmlisches Empfangen!
Um ihr des Sommers vollen Glanz zu zeigen,
Trat aus des Hochwalds grabesdunklen Bann
Nach langem Wandern einst im Abendschweigen
Der weltentwöhnte, weltverbannte Mann
Mit ihr an seiner Heimat Flur heran.
Des Abends Sonne flammte über beiden. –
Heiß schlug sein Herz. – Wer mochte da entscheiden,
Wieviel er gab? Wieviel er selbst gewann?

Sie sah die Fluren, sah die bunten Weiden,
Des Dorfes Frieden, traut und dichtgedrängt,
Mit einem Jauchzen, einem tränennassen,
Als habe jetzt ein himmlisches Erfassen
vom Glück des Lebens ihr die Brust gesprengt.

Und oft noch aus des Waldes Nacht hinaus
Dem Lauf der Bäche ist sie nachgegangen.
Sie gab dem Winde ihre heißen Wangen,
Sie wand sich Korn und roten Mohn zum Strauß
Und träumte unter goldnen Blütenglocken.
Sie wand sich Rosen in die langen Locken
Und pflanzte Rosen um das arme Haus.

So ist, von Lieb und Rosenduft umsponnen,
Gemach der Sommer in den Herbst verronnen.
Und auch des Herbstes goldne Tage rannen
Wie von verhaltnem Duft umhaucht, von dannen.
Verstohlen, schemengleich, im Eisgeschmeide,
Schlich zwischen oft erneutem Abschiedsleide
Und immer neuem harren, Hand in Hand,
Ein neuer Winter unvermerkt durchs Land.
Neu kam der Lenz. – Und neuer Blütenwind
Strich um das Haus und scherzte mit dem Kind.
Ein neuer Sommer kam voll stolzer Ruh
Und warf mit Klettenrosen, wilden, süßen,
Beinah dem Hüttchen Tür und Fenster zu
Und rief das Kind mit tausend frohen Grüßen
Weit, weit hinaus, bis unter ihren Füßen
Der dunkle Pfad in königlichem Flor
In Halmgewog und Blüten sich verlor.
Lag sie dann strahlend in den wilden Ranken,
Hob er ihr die erwachenden Gedanken
Den Lerchen gleich ins tiefe Blau empor.
Traumhaft, verstohlen und doch vollgenossen
Ist stillen Fluges Jahr um Jahr verflossen.

Ein dritter Winter kam. Und endlich lag
Ein Schleier nur, durch den ein keuchten fiel,
Nur noch ein einz'ger, kurzer, letzter Tag
Vor der Erfüllung letztem sichrem Ziel.

Kein Zagen mehr! Kein Tag mehr zu vergeben!
Und vor der Schwelle harrend Licht und Leben!

Still betend lag, erschauernd für und für,
Das arme Weib vor ihres Glückes Tür.
Schwer auf der müden Brust, beklemmend fast,
Lag dieses Harrens übersel'ge Last.
Vor Jahren hatte sie's noch leicht genommen; –
Nun war das Alter über Nacht gekommen,
Das vor dem Wunder scheu und zitternd stand
Und still sich sehnte, eine kleine Hand,
Die weich und lieblich war in ihrem Walten,
Im Glück wie eine Stütze fest zu halten.

Nach heißer, bis ins tiefste, tiefste Sein,
Ergriff den Mann des nahen Lichtes Schein.
Wie Glockendröhnen schlug sein Herz und frug:
»Was ist das Licht, dem wir entgegenstreben?
Ist es auch stark und himmelshell genug,
Um Mut und Jugend mir zurückzugeben?
Ist's Pracht? Ist's Nacht? Ist's rauschender Genuß? –
O wär's vergessen! Wär's ein Atemholen!
Ein Auferstehn! Ein heil'ger Friedensschluß!
Wär's ein Genesen, wie es oft verstohlen,
Seitdem die Hoffnung mit uns wohnt und webt,
Mich dämmernd, überwältigend umschwebt!« –

Ein stummer, ungestümer Beter, lag
Er auf den Knien, indes die Stunden rannen. –
Bleich, ahnungsvoll erglomm der junge Tag.

»Hol' uns den Stein! Führ' du das Kind von dannen,«
Bat leis das Weib. – »Ach, ich ertrag' es nicht,
Zugleich dies Scheiden und dies sel'ge Licht!«

Zum Gehn bereit, in Abschiedstränen stand
Das Kind. – Von Rührung wunderbar bezwungen
Nahm er das Wanderbündel still zur Hand,
Das arme Bündel voll Erinnerungen,
Das ihr die Alte gestern weinend band.

Aufschluchzend lag sie an des Weibes Brust,
Wie lang, – sie haben's beide nicht gewußt,
Sie spürten nur im heißen Schmerzergießen,
Was sie verloren, da sie sich verließen,
Wie süß das Mitleid war, wie gut und lind
Es sich gelebt im milden Dämmerstrahle. –
Trüb wie vorm Tod erklang's zum letzten Male:
»Leb'wohl!« – »leb'wohl!« – »Mein Mütterchen!« –
»Mein Kind!«

Dann war das Weib allein. – Ihr Antlitz lag
Still auf des Mädchens Bett, dem leeren, harten.
So säumte, so verträumte sie den Tag
In Tränen, statt in frohem Glückerwarten.

Indes die Stunden quälend ihr verflossen,
Zog durch den Schnee ein frühlingsgleicher Zug,
Ein wunderbarer, namenloser Flug
Von Träumen mit den wandernden Genossen.
Ein fremdes, schmerzlich süßes Glück umfing
Den Mann, als sie ihm nah zur Seite ging,
Die er voll Scheu vor ihres Herzens Frieden
Voll Trotz und Trauer mehr und mehr gemieden.
Nun, da sie übertaut von ihrem Weh,
Bleich, liliengleich dahinschritt durch den Schnee,
Zwang ihn die Rührung, – und gewaltsam brach
Der Bann, – und so vergaß er seine Wunden,
Daß er vertrauend, tröstend zu ihr sprach,
Daß er in diesen letzten süßen Stunden
Die Blüten, die er unterm Eise fand,
Des Mitleids Blüten, ihr zum Strauße wand.

O welch ein Wandern, – stunden-, stundenweit,
Durch bleiche, winterstille Einsamkeit!
Umtropft vom Tau, wie ihn der Nebel weint,
Vorm ew'gen Scheiden wundersam vereint.

Zwar ahnt' er nicht, mit welchem heißen Dank,
Das Mädchen seine treuen Worte trank,
Doch als sie, siegend über ihren Gram,
Den milden Trost aus seinen Händen nahm,
Als sie dann lächelnd aus den frommen Blicken
Die Träne strich mit neuem, starkem Mut,
Durchrann es ihn mit wundersamer Glut,
Ein heimliches, ein schmerzliches Entzücken,
Daß er, der Stunde fahles Grau zu schmücken,
Aus seines Herzens Trümmerwelt empor
Vergangener Tage Jugendduft beschwor
Und ihr – wie einen frischen Kranz ins Grab –
Den Rosenzauber der Erinnrung gab.

O welch ein Wandern! – – Doch der Tag verstrich,
Und zitternd überm Fichtenwald verblich
Als letztes Grüßen, das die Erde bot,
Mit goldnem Hauch das Winterabendrot.
Dann gähnte unter dunkler Tannen Wacht
Das Tor, – für sie zu lebenslanger Nacht,
Für ihn zum Glück, – – und mächtig übermannt,
Betroffen, bebend hielt er ihre Hand.
Durchleuchtet schien ihr schneeiges Gesicht
Von himmlischer Entsagung reinem Licht.
Schneesterns flimmerten wie Totenkerzen
Um ihre bleiche Märchenschönheit her, –
Es war das Kind, das arme Kind nicht mehr!
Das war erblüht, in Wonne und in Schmerzen,
Ein holdes Weib mit auferwachtem Herzen!

Da war's, als trüg' der Augenblick ihn weit,
Hell, offenbarend über Raum und Zeit.
Aufschluchzend sank er auf den moos'gen Grund
Und heiß und flehend kam's von blassem Mund:
»Du Heilige, die nie von Schuld gewußt, –
Die Schmach der Sünde kniet auf meiner Brust!
Ich kann nicht atmen, kann nicht fröhlich sein!
Gott ist zu fern! – Zu eng ist unser Leben!
Nun schickt er dich! – Du sollst mir Antwort geben!
O segne, segne mich! Sprich du mich rein!
Erzittre nicht vor mir! Sei mein und bleib!
Mein Kind, mein Lieb, holdsel'ges, süßes Weib!
Geh nicht von uns, du himmlisches Gesicht,
Mein Traum, mein Erdenglück, mein Heil, – mein Licht
Dann nur ein Jauchzen, nur ein Jubelschrei!
In seinem Arm, an seiner Brust geborgen,
Sprach ihn die Liebe aller Sünde frei!
Hell glomm es auf, ein neuer Lebensmorgen,
Ein Friedenslicht, ein seliges Genesen,
Ein Strom von Glück, ein überird'scher Schein,
Gewaltiger, als es im Traum gewesen!

Und so behielt die Zwergwelt ihren Stein. –

Wie war das arme Weib den Tausch zufrieden!
So muß nun auch die Welt zufrieden sein!
Kein volles, reines Glück ist ihr beschieden. –
Doch für das volle Licht, das wir entbehren,
Will uns die Liebe heil'gen Trost gewähren.

*


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