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Die Weihnachtsgans

Jedesmal, wenn es wieder Weihnachten wird und ich in den Läden der Geflügelhändler die langen Reihen der gerupften Gänse liegen sehe, fällt mir die Gans Mimi aus meiner Kinderzeit wieder ein. Es hat niemals eine wunderbarere Gans gegeben.

An einem dunklen Winterabend zog sie bei uns ein, eingesperrt in eine enge hölzerne Kiste, in die an der Vorderseite ein kreisrundes Loch geschnitten war, damit sie Luft habe und den Kopf zum Fressen hindurchstecken könne.

Auf einer Schubkarre wurde sie angefahren, und man bedeutete mir, daß sie die enge Kiste nicht nur für den Umzug bezogen habe; sie sei vielmehr entschlossen, in ausgesprochener Gutmütigkeit jede unnütze Bewegung zu vermeiden, um ihrem Fettansatz in keiner Weise hinderlich zu sein.

Der Eigentümer der Gans war ein armer Tischlergeselle, der an demselben Tage in unsre Kellerwohnung einzog – eines der denkwürdigsten Ereignisse meiner Kinderzeit.

Es war ein fuchshaariger, schwächlicher, ewig hüstelnder Mensch, dem die roten Flecke der Schwindsucht auf den Backen brannten und dessen fuchsroter Schnauzbart zu beiden Seiten des Mundes melancholisch herabhing. Seine Frau war ihm vor wenigen Wochen gestorben, und seine fünf Kinder, von denen die vier ersten Mädchen waren, mußten sehen, wie sie in Zukunft ohne Mutter fertig wurden. Die beiden ältesten hatten die Sorge für den Haushalt übertragen bekommen, irgend eine Hilfe konnte ihnen der Vater dabei nicht bieten, denn der kärgliche Lohn reichte eben hin, das Allernotwendigste zu beschaffen.

Zu allem Unglück hatte man der Familie auch noch die Wohnung gekündigt, weil der Tischler mit der Miete im Rückstand geblieben war, und eines Tages setzte man ihn kurzerhand mit seinem Hausrat, der zu elend war, als daß der Hauswirt sich daran hätte schadlos halten können, auf die Straße.

Am Nachmittage desselben Tages war er dann zu meinen Eltern gekommen und hatte sie flehentlich gebeten, ihn doch für einige Wochen in unsre Kellerwohnung ziehen zu lassen, er wisse wirklich nicht, wo er unterkommen solle, und wenn er bis zum Abend keine neue Wohnung nachweisen könne, würde man ihn zwangsweise in den städtischen Baracken einquartieren, eine Maßnahme, die den Schrecken jeder obdachlosen Familie bildete.

Meine Eltern bewohnten damals ein kleines Häuschen, das sie mit niemand zu teilen brauchten. Es lag in einer ausgesprochenen »Arme-Leute-Straße«, und die wenigen und engen Räume, die darin waren, mochten nicht gerade dazu herausfordern, eine sechsköpfige Familie mit einziehen zu lassen. Aber auf das Drängen des unglücklichen Tischlergesellen vermieteten meine Eltern ihm doch die beiden im Kellergeschoß belegenen Zimmer unsers Hauses bis zum nächsten Umzugstermin, und noch am selben Abend zog die Familie ein.

Für uns Kinder war das ein Fest ohnegleichen.

Wir bekamen Mitbewohner, das hieß: Spielgefährten im eignen Hause! Der Gipfel der Seligkeit war damit erklommen und alle Langeweile auf Wochen hinaus unmöglich.

Gespannt sahen wir dem Einzuge zu.

Ein paar Betten wurden hereingetragen – ein Fuhrwerk war für den Tischler nicht zu erschwingen –, ein Tisch und ein paar Stühle, ein alter schadhafter Spiegel in einem vergoldeten Rahmen, den man bei irgendeinem Althändler erstanden haben mochte, ein paar Kochtöpfe und einige Kisten voll Kleinigkeiten bildeten das ganze Mobiliar.

Das Wunderbarste aber war die Kiste mit der Gans.

Der Tischler, der vom Lande stammte, hatte sie von seinen Verwandten, die bei der Beerdigung seiner Frau das Elend gesehen haben mochten, in dem er steckte, zugeschickt bekommen und sich entschlossen, das Tier für das nahe Weihnachtsfest zu mästen, eine Absicht, die heldenhaft genannt werden muß, wenn man bedenkt, daß außer der Gans fünf hungrige Kindermäuler zu sättigen waren.

Geheimnisvoll, wie das verschleierte Bild von Saïs, stand die Gans auf dem Hausflur. Ich guckte durch alle Ritzen und Spalten des Holzes, aber ich konnte bei der Dunkelheit nicht eine Feder von ihr entdecken!

»Zeig' sie mir doch mal,« bat ich Fifi, die zweitletzte der Töchter, die eben mit einem Korb alter Kleider durch die Kellertür ins Haus getreten war.

»Was denn?« fragte sie.

»Nu, die Gans!«

»Ach so,« machte sie und stellte den Korb weg.

Dann öffnete sie vorsichtig den Deckel der Kiste, und bei dem trüben Schein der niedrig brennenden Küchenlampe, die auf dem Flur aufgehängt war, schaute ich hinein.

Sie war weiß wie ein Schwan, und nur auf den Flügeln trug sie braune und graue Federn. Als der Deckel der Kiste aufgeklappt war, reckte sie augenblicklich den gelbroten Schnabel hervor und sah uns mit schiefgewendetem Kopfe, einen schrillen, heiseren Schrei ausstoßend, an.

Fifi gab ihr einen Klaps auf den Kopf und schlug den Deckel wieder zu.

Es versteht sich, daß sie einen Namen bekam. Mimi hieß die Gans im Märchen vom Zwerg Nase, und es war von vornherein klar, daß auch die unsre Mimi heißen müsse.

Die Kiste wurde auf den Hofplatz gestellt, und jeden Tag gingen wir hinunter, die Gans zu bewundern, sie zu füttern und ihr den Kopf zu streicheln.

Auch der Tischler, wenn er mittags von der Arbeit kam, versäumte niemals, nach der Gans zu sehen. Er öffnete dann den Deckel, hob die Gans bei den Flügeln heraus, wog sie in den Händen und setzte sie dann vorsichtig wieder in die Kiste.

»Ich glaube, sie ist schon etwas schwerer geworden«, flüsterte er dabei halb für sich, gab frisches Futter in den kleinen hölzernen Trog vor der Öffnung und warf einige Handvoll Hobelspähne in die Kiste, damit die Gans weich und warm sitze.

Für mich stand es seit dem ersten Tage fest, daß Mimi eine verzauberte Prinzessin war. Der kluge Blick ihrer Augen, das schneeige Weiß ihres Gefieders und ihr zahmes Wesen bewiesen es genug.

Geheimnisvoll teilte ich es Fifi am nächsten Tage mit.

»Meinst du?« fragte sie und lachte.

»Sicher!« beharrte ich. »Ganz sicher. Wie sie guckt, wenn sie Futter bekommt. Mir ist immer, als wenn sie sagen wollte: Ich bin gar keine Gans, ich bin eine verzauberte Prinzessin. Wenn doch bald jemand käme und mich erlöste.«

»Na, dann erlöse du sie doch,« sagte Fifi und fuhr fort, ihre Schularbeiten auf ihre Tafel zu kritzeln.

»Das ist nicht so leicht, da muß man das richtige Wort wissen und ...«

Ich wollte Fifi in die Geheimnisse der Entzauberung einweihen, aber ihre Teilnahmlosigkeit und Gleichgültigkeit ließ mich verstummen. Verärgert ging ich hinaus, schlug die Tür hinter mir zu und begab mich zu meiner Freundin Mimi.

Ich teilte die Brotschnitte mit ihr, die ich in der Hand hielt, und Mimi fraß gierig, wobei sie den dicken feuchten Schnabel tief zwischen meinen Fingern vergrub, um das letzte Krümchen zu finden.

»Ja, du arme Gans Mimi,« sagte ich zu ihr, während ich ihr den Kopf streichelte, den sie mit langem Halse aus ihrer dunklen Behausung herausgestreckt hatte, »ich glaube es dir, daß du eine Prinzessin bist. Es ist nicht recht, daß man dich hier eingesperrt hält, und der Tischler ist ein rechter Ruppsack, daß er nicht einsieht, wer du bist, und dich endlich freiläßt.«

Eines Tages bat ich ihn, die Gans doch endlich mal aus der Kiste zu lassen, das Tier sitze sich ja ganz steif in dem engen Dinge.

Da lachte der Tischler, als würde er gekitzelt, rieb sich die mageren Hände und sagte: »Rauslassen? Wo denkst du hin? Dann wird sie doch nicht fett, und sie soll doch zu Weihnachten geschlachtet werden.«

Ich erschrak bis ins tiefste Herz. Mimi unter dem Messer bluten zu sehen, mußte entsetzlich sein.

Betreten schwieg ich still und wußte nicht, was ich antworten sollte. Verstört schlich ich ins Haus.

Tag und Nacht dachte ich darüber nach, wie Mimi zu retten sei. Schließlich verfiel ich auf eine Idee. So schwer es mir wurde, mich von Mimi zu trennen, ich wollte ihr eines Abends heimlich den Stall öffnen, dann mußte sie sehen, daß sie davonkam.

»Flieg fort!« rief ich ihr am nächsten Abend zu, indem ich ihr den Deckel der Kiste aufsperrte, »rette dich, man will dir ans Leben.«

Am andern Morgen stand ich mit dem bösen Gewissen eines Verbrechers auf, und doch empfand ich eine gewisse Befriedigung. Ich hatte Mimi das Leben gerettet.

Als ich aber, den Unbefangenen spielend, hinunterging, um mich zu überzeugen, daß Mimi auf und davon sei, erlebte ich eine grenzenlose Enttäuschung. Mimi war noch da. Sie saß zufrieden in einer Ecke des Hofes und lief mit schrillem Schreien und ausgebreiteten Flügeln auf mich zu ...

Ich war empört über ihre Gleichgültigkeit! »Warum bist du nicht davongeflogen?« rief ich.

Aber sie schmiegte ihren Schnabel, nach Brot suchend, so zärtlich in meine Hände, daß ich ihr nicht lange zürnen konnte.

Vielleicht, wenn wir das Kräutlein Niesmitlust finden, wie Zwerg Nase, würdest du dann entzaubert werden?

Ich begann darüber nachzudenken, wie man das genannte Kräutlein finden könne, mußte aber zugeben, daß jetzt im Winter keine Aussicht sei, es zu finden.

So kam Weihnachten heran, und am Tage vor dem Feste hörte ich des Mittags, daß Mimi noch heute ans Messer solle.

Mir begann das Herz bis zum Halse hinauf zu schlagen. Heimliche Tränen stiegen mir in die Augen, und doch zwang ich mich, in den Hof hinunterzugehen. Vielleicht, daß doch noch ein Wunder geschah und Mimi im letzten Augenblick doch noch erlöst würde! –

Die ganze Tischlerfamilie war schon im Hofe versammelt, und von allen Nachbarhäusern sahen die Leute über die Planken. Ein Schlachtefest war etwas Unerhörtes, Großartiges, das es nicht alle Tage zu sehen gab! Der Flickschuster, der nebenan wohnte, war auf seine Trittleiter gestiegen, um besser sehen zu können, und qualmte aus seiner kurzen Pfeife wie ein Bäckerschornstein.

Die Kinder des Tischlers standen im Kreise herum, hatten sich an den Händen gefaßt und sahen mit großen gierigen Augen zu, wie ihr Vater die Gans vorsichtig, als höbe er einen köstlichen Schatz, aus der Kiste nahm und auf die Regentonne setzte, die nach dem regnerischen Wetter der letzten Tage bis zum Rand mit Wasser gefüllt war.

»Sie reinigt sich selbst am besten,« rief er dem Flickschuster zu, und auch der Althändler, der auf der andern Seite unsers Hauses wohnte, nickte beistimmend und lachend herüber.

Die ahnungslose Mimi begann denn auch sogleich ihr Gefieder zu putzen. Sie tauchte den Hals tief ins Wasser, ließ es sich über Nacken und Rücken laufen und schlug mit den Flügeln, daß das Wasser nach allen Seiten spritzte und die Kinder kreischend auseinanderliefen.

Herrlich wie ein Schwan war sie, wie sie nun, die Federn sträubend, sich wieder zu putzen und zu striegeln begann, jede Feder durch den Schnabel ziehend. Weiß wie Schnee glänzte der lange Hals.

Lächelnd sahen ihr alle zu, der Tischler, der Schuster, der Althändler und die Kinder, die die Zeit nicht abwarten konnten. Nur mir schlug das Herz. Wie ein schwerer Hammer pochte es in der Brust.

Oh, daß sie sich doch jetzt plötzlich erhöbe, die Flügel ausbreitete, sich hoch in die Lüfte schwänge und herabriefe: Habt Dank für eure Pflege! Ich kehre heim in meine Heimat. Der böse Zauberer Krikundu hat mich in diese Gestalt gebracht. Mein Vater wird mich erlösen.

Aber nichts von alledem geschah, und das Entsetzliche rückte näher und näher.

Der Tischler packte sie plötzlich bei den Flügeln, hob die Kreischende vom Wasser, band ihr die Beine zusammen und klemmte sie zwischen die Knie.

Meine Angst stieg auf den höchsten Grad. Jetzt war der letzte Augenblick gekommen! Jetzt mußte es sich entscheiden!

Halt! Tötet sie nicht! Sie ist keine Gans, sondern eine Prinzessin, wollte ich rufen, und merkte doch, wie mir die Stimme versagte und ein eisiger Bann sich auf mich legte.

Da fuhr auch schon das lange, sorgfältig geschliffene Messer des Tischlers mit zwei festen Schnitten durch Mimis Hals, und das rote Blut stürzte wie ein Bächlein auf die feuchte Erde.

Dann ließ der Tischler den Kopf der Gans los und hielt sie an den zusammengeschnürten Beinen hoch, um sie völlig abbluten zu lassen.

Mit wilden Flügelschlägen wehrte sich das Tier noch eine Weile gegen den Tod. Dann hing es still. Gans Mimi war tot.

Grausam und unerbittlich hatte die brutale Welt der Wirklichkeiten meine Märchenträume zerstört.

»Wieviel wiegt sie?« rief der Schuster.

»Probier' mal,« rief der Tischler und hielt sie ihm über die Planke hin.

Der wog sie mit der Hand. »Den Deibel auch! Das muß man sagen, die hat ihr Gewicht,« schrie er dann, während der Tischler mit einer Handvoll Hobelspänen das blutige Messer abwischte. –

Am Nachmittag spielten die Kinder des Tischlers mit den abgeschnittenen Füßen der Gans. Wenn sie an einer der herausstehenden Sehnen zogen, bewegten sich die Zehen, als sei noch Leben drin ...

Am Weihnachtstage schickte mir der Tischler einen der gebratenen Flügel herauf. – Aber ich konnte nichts davon essen.

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