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Der Zeisig

In jedem Herbst wird in meiner Vaterstadt ein großer Jahrmarkt gehalten. Mitten in der Stadt, auf dem Marktplatze, rund um den Roland und im Angesicht des alten Rathauses ersteht dann in wenigen Tagen eine bunte Welt. Schneller als Pilze aus der Erde schießen, werden Verkaufs- und Schaubuden, Karussells und Schaukeln erbaut, und mit dem ersten Tage des Marktes beginnt ein mörderisches Durcheinander von musikalischen Darbietungen. Drehorgeln und Kindertrompeten, Kinderschnarren und Knallbüchsen sind wie mit einem Zauberschlage lebendig geworden. Die Ausrufer vor den Buden schreien dazu, und die zur Schau gestellten Wilden brüllen und rasseln mit ihren Ketten. Zwischen den Budenreihen drängt sich eine lachende, schreiende Menge an den Sehenswürdigkeiten und Neuheiten des Marktes vorbei, gafft und nascht, und nascht und gafft wieder, daß ihr die Tage des Marktes wie im Fluge vergehen.

Wenigstens uns Kindern bot dieser Markt, der volle zehn Tage, in glücklichen Jahren sogar elf Tage dauerte, wahre Seligkeiten. Die unerhörtesten Dinge konnte man dort kaufen. Von den gängigsten Artikeln abgesehen, die mich nie recht reizen konnten: Zuckerstangen und Honigkuchen, Tischmesser und Glasschneider, Messerschärfer, Knallpistolen mit wirklichen Zündhütchen, die richtiges Pulver enthielten, Karussellfahrten und Schießbudenbesichtigungen, von diesen Dingen abgesehen, gab es doch fast jedesmal einen Gegenstand auf dem Markte, der sofort mein ganzes Interesse erweckte, mich in ein Fieber von Aufregung versetzte und mich für alle übrigen Genüsse gewöhnlich völlig blind und taub machte.

Einmal war es ein kleines Figürchen, nicht größer als mein kleiner Finger, das aus Holz geschnitzt war und ein Paar beweglicher Arme und Beine trug. Soweit wäre an dem Püppchen nichts Besonderes gewesen. Aber das, was mich begeisterte, war, daß es nicht auf seinen Beinen stand, die es wegen ihrer Beweglichkeit überhaupt gar nicht hätten tragen können, sondern auf drei feinen weißen Schweinsborsten, die sich als Stützen am Kleidsaum befanden, so daß die Füße eben über dem Boden schwebten. Stieß oder klopfte man nun auf die Platte, auf die man die Figur gestellt hatte, so bewegte sie sich mit leisen, kaum merklichen Bewegungen, wobei sie die lose aufgehängten Beinchen hin und her schwang, als gehe sie wirklich.

Die Bude, in der diese Sehenswürdigkeit verkauft wurde, war klein und unscheinbar. Es saß ein Mann in Tirolertracht hinter dem Verkaufstische und spielte auf einer Zither, auf deren Platte er seine Figuren aufgestellt hatte, die nun zu seinen lustigen Alpenliedern tanzten, als hätten sie ein heimliches Uhrwerk im Leibe.

Ich war so entzückt von dem Anblick, daß ich alles andre darüber vergaß. Der ganze Markt mit allen seinen Reizen versank vor dieser einen kleinen Bude, und ich hatte nicht eher Ruhe, bis ich für einen Nickel eine der kleinen Tänzerinnen gekauft hatte und heimtragen konnte, vorsichtiger, als wenn ich ein lebendiges Wesen in meiner Hand getragen hätte, ängstlich besorgt, nicht eins der zitternden Beinchen zu zerbrechen oder die Schweinsborsten zu knicken, auf deren Elastizität die Tanzkunst der kleinen Dame beruhte.

Zu Hause stellte ich mein Püppchen auf die Tischplatte, trommelte mit der einen Hand auf den Tisch, blies dazu auf einem Kamm und war selig, die kleine Dame sogleich ihren Tanz wieder beginnen zu sehen.

Ich weiß nicht, welches Schicksal die Tänzerin schließlich gehabt hat. Wahrscheinlich wird sie den Weg gegangen sein, den alle Spielzeuge nehmen und nehmen müssen. Sie wird eine Zeitlang mit eifersüchtiger Sorgfalt bewacht und mit Inbrunst geliebt worden sein, wird allmählich gleichgültiger behandelt und zuletzt vergessen worden sein.

Im nächsten Jahre aber kaufte ich einen Gegenstand, bei dem es keine Gefahr hatte, daß ich ihn vergaß oder daß er mir gleichgültig wurde. Er hat mein Interesse Jahre hindurch festgehalten, und ich erinnere mich noch heute an ihn mit einer Deutlichkeit, als hätte ich soeben eine Photographie von ihm in Händen gehalten.

Der Gegenstand, von dem ich rede, war ein Zeisig.

Ich kaufte ihn eines Abends auf dem Jahrmarkt für eine Reihe sauer ersparter Groschen von einem Händler, der aus kleinen Harzer Bauerchen eine wahre Vogelkaserne an einer Ecke des Rathauses aufgebaut hatte.

Ich stand wie gebannt still und betrachtete voll Staunen und Interesse das unruhige Hin und Her der kleinen Vögel hinter den hölzernen Gitterstäben ihrer engen Käfige. Da waren Stieglitze, Hänflinge, Zeisige, Kreuzschnäbel, Buchfinken und Dompfaffen. Die Dompfaffen waren die schönsten. Mit blutroten Brüsten und schwarzen Kappen auf den Köpfen saßen sie auf den kleinen Sitzstangen ihrer Käfige. Gar zu gern hätte ich einen Dompfaffen besessen! Aber sie waren die teuersten von allen und für die paar Groschen, die ich erspart hatte, nicht zu haben.

Am wohlfeilsten waren die Zeisige. Aber auch ein Zeisig kostete so viel, daß meine sämtliche Barschaft eben genügt hätte, den Preis zu bezahlen. So lange und sorgfältig ich alles überlegte, ich konnte mich nicht entschließen. Jeden Tag, an dem ich zum Markte kam, ging ich zu der Rathausecke, den Stand des Händlers wieder aufzusuchen, und sah mit Schmerz, wie einer der Vögel nach dem andern in fremde Hände überging, während die übrigen einen Tag wie den andern ruhelos von einer Stange auf die andre hüpften, hin und her, her und hin, um ängstlich aufzuflattern, sobald ein Vorübergehender gar zu dicht an die Bauer kam oder eine schnelle Bewegung machte.

Am letzten Abend des Marktes entschloß ich mich endlich und kaufte einen der kleinen Zeisige.

Der Händler versicherte, daß kein Vogel so zahm würde wie die kleinen Zeischen, zog eins der Bauerchen aus der Reihe, schlug ein altes Zeitungsblatt zum Schutze herum, und ich eilte mit meinem Schatz nach Hause.

Als ich dort ankam und den Vogel in Ruhe betrachtete, sah ich zu meinem Ärger, daß der Händler mich betrogen hatte. Er hatte mir einen Vogel gegeben, dessen einer Flügel lahm war. Vielleicht hatte ihn das Netz des Vogelfängers dort seinerzeit mit hartem Schlage getroffen.

Im ersten Augenblick wollte ich den Vogel wieder zurückbringen und gegen einen andern vertauschen, konnte mich aber dann doch nicht dazu entschließen. Mir schien, keiner könne zutraulicher blicken als der meine, und wer wußte denn, wenn ich einen andern bekam, ob nicht gerade der bald an einer Krankheit dahinsiechen würde oder einen Fehler besaß, der nur weniger leicht zu erkennen war?

Das waren recht fadenscheinige Gründe, aber gefreut hat mich's später doch, daß ich den Vogel behalten habe. Gerade dieses Tier, dessen gelähmter Flügel die Schwungfedern so merkwürdig gespreizt trug, daß es aussah, als habe es vergessen, die Federn ordentlich zusammenzulegen, hat mir mehr Freude gemacht als je ein Käfigvogel nachdem. Es dauerte nur ein paar Wochen, bis er wirklich so zahm geworden war, daß er nicht nur frei im Zimmer umherflatterte – zu kurzen Flügen reichte der gelähmte Flügel noch aus –, sondern sich auch von mir aus dem Bauer nehmen ließ, wobei er freiwillig auf den hingehaltenen Finger hüpfte und ein paar Mohnkörnchen von der Fingerspitze nahm. Er lernte von da ab die unglaublichsten Sachen, turnte an einer kleinen Reckstange, die ich ihm gemacht hatte, saß geduldig auf einem kleinen Karussell, hüpfte auf Befehl eine Leiter hinauf und herunter und war bald der Liebling aller.

Eines Tags aber stürzte er von der Leiter, die ich ihm gemacht hatte, und das Unglück wollte, daß die Leiter zur selben Zeit umfiel und ihm, so leicht sie war, ein Bein brach.

Mein Schmerz war unbeschreiblich. Ich schiente dem Kranken das gebrochene Bein mit aller Sorgfalt, bettete ihn in ein Schächtelchen mit Watte und pflegte ihn wie ein krankes Kind. Die Beinschienen, die ich ihm aus ein paar abgebrochenen Streichhölzern zurechtgemacht und fest an dem gebrochenen Lauf befestigt hatte, erfüllten ihre Aufgabe sehr gut, und nach vierzehn Tagen war der Schaden verheilt. Hans konnte sein Bein wieder gebrauchen, und wenn es auch in der ersten Zeit noch steif und ungelenk war, so lernte er doch allmählich wieder, sich darauf zu bewegen, und nach einiger Zeit konnte er seine Hüpfsprünge von einer Stange des Käfigs auf die andre wieder aufnehmen.

Die Leiter habe ich ihn aber nie wieder besteigen lassen.

Mit jedem Tage aber wurde er zahmer, ließ sich, auf einem Finger sitzend, durch das Zimmer tragen, hielt sich aber nirgend so gern auf wie auf den Blumenstöcken vor dem Fenster, wo er gar zu gern herumkletterte, mit klugen Augen den Sperlingen auf der Straße zusah und zuweilen mit seinem Schnabel in die schwarze Blumenerde hackte. Sein fröhliches Gezwitscher, das er dabei hören ließ und jedesmal mit eigentümlichem Krächzen abschloß, war so erheiternd, daß es jeden Zuhörer lächeln ließ.

Der Ruhm seiner Künste verbreitete sich über die ganze Nachbarschaft, und alle Bekannten wollten den Vogel sehen, der so zutraulich war, daß er sich selbst von einem Fremden nicht stören ließ.

Meine sämtlichen Spielkameraden beneideten mich um den Vogel. Dieser und jener versuchte, ihn mir abzukaufen. Aber ich lachte nur über solche Kaufgebote.

Eines Tags kam ich heim und fand unsre Wohnung leer. Meine Mutter mußte ausgegangen sein. Das Vogelbauer stand wie gewöhnlich offen, zugleich waren aber auch beide Fensterflügel weit geöffnet. Ich erschrak, sah nach und fand meine schlimmen Ahnungen bestätigt – der Zeisig war fort.

Ich stand wie entgeistert. Wie konnte nur so etwas möglich sein! Mein Schmerz um den verschwundenen Vogel war so groß, daß ich alles andre darüber vergaß. Aber soviel ich auch pfiff und lockte, kein Zeisig ließ sich wieder sehen, und nach einigen Tagen vergeblichen Hoffens blieb mir nichts andres übrig, als mich in das Unvermeidliche zu fügen.

Es ist niemals aufgeklärt worden, wer das Fenster an dem Tage geöffnet hat. Vielleicht ist es unsicher verschlossen gewesen, und der Wind hat es mit einem Stoß geöffnet.

Wenn Hans nur ordentlich hätte fliegen können, so wäre sein Verlust zu verschmerzen gewesen. Aber ich bin sicher, daß ihn bald nach seiner Flucht eine Katze gefangen und verzehrt hat. Der Arme! Er konnte ja kaum einmal ohne abzusetzen durchs Zimmer fliegen. Wie sollte er da im Freien fertigwerden? Wie sich sein Futter suchen? Ich trauerte um ihn wie um einen lieben Freund.

Freilich, ein Tier ist kein Mensch, aber das Andenken an ein kluges und treues Tier erlischt so wenig wie das an einen guten Menschen, und in meinem Gedächtnis ist der kleine Zeisig mit dem lahmen Flügel und dem steifen Beinchen noch heute lebendig und wird noch lange lebendig bleiben – und diese Geschichte von ihm ist ein Beweis dafür.

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