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Ich habe das Fernweh. Das ist ebenso schlimm, als wenn man Heimweh hat, und vielleicht ist es noch schlimmer. Es ist ein Sehnen in die Weite, welches das ganze Herz ausfüllt, die Gedanken schwer macht und das Blut unruhiger pulsen läßt. Man kann es nicht beschreiben. Es ist wie einer dieser müden, matten Sommerabende, die jetzt über das stille Land gehen, voll lauer Milde, an denen die Luft voll ist von Feuchtigkeit und Blumendüften, und die Häuser und Gärten in den verhaltenen Farben der Dämmerung daliegen, die Blätter regungslos an den Zweigen hängen und ganz von fern ein Kinderlied über den Zaun zu uns herüberdringt, bis sich die Schwere der Luft in einen feinen, wehmütigen Regen aufzulösen beginnt, lautlos und still, und der Abend in einer melancholischen Nacht versinkt, in der nur das stärker werdende Rauschen des Regens in den Kronen der Bäume an unser Ohr dringt. Und wir sitzen und lauschen hinaus in das sanfte Dunkel, das uns einhüllt, und seufzen.
Oder es ist wie das leise Zwitschern eines gefangenen Vogels, der das unruhige Umherhüpfen hinter den Stäben seines Käfigs aufgegeben hat und nun still dasitzt und nur zuweilen die Flügel in leisem Schauern erzittern läßt. Das kleine Köpfchen mit den klugen, schwarzen Augen hat er zum Himmel hinaufgewandt, wo das Abendrot glüht, und dann dringt aus seiner Brust ein leises, sehnsüchtiges Gezwitscher hervor, das keine Ähnlichkeit mit den lauten, schmetternden Tönen hat, die er am Morgen gesungen. Fremde, seltsame Laute sind es, weich und leise, voll einer sanften Innigkeit, als hielte der Vogel Zwiesprache mit den kleinen Wolken, die oben am Himmel unter dem Schein der Abendsonne erglühen, bis er die Flügel zusammenlegt und das Köpfchen darunter versteckt und nur noch einigemal leise aufzwitschert, als könne das sehnsüchtige kleine Herz in ihm noch immer nicht zur Ruhe kommen.
Es ist nicht zum erstenmal, daß ich das Fernweh habe. Ich kenne es längst. Es hat mich schon überfallen, wenn die Schneeflocken vor den Fenstern tanzten und der eisige Wind an die Scheiben meines Zimmers stieß. Am machtvollsten aber kommt es immer, wenn die hellen Nächte beginnen, diese Nächte, die uns nicht schlafen lassen, in denen nur eine Dämmerung herrscht, die den Tag nicht vergessen läßt, und in denen die Düfte der Blumen stärker und berauschender aus dem Garten durch das offene Fenster dringen und die Träume der Morgenfrühe mit betäubendem Druck erfüllen.
Aber diesmal ist es stärker als sonst je.
Es hat mich mit solcher Gewalt ergriffen, daß ich am liebsten alles stehen und liegen ließe, um mit dem nächsten Zuge hinauszufahren in die Weite. –
Aber ich kann nicht. Es ist unmöglich, ich weiß es.
Vielleicht war es verkehrt, diese Wohnung zu beziehen, die in der Nähe des Bahnhofs liegt, wo ich jeden Tag, wenn ich am Fenster sitze, die Züge in die Weiten rollen sehe. Selbst in den langen schlaflosen Nächten höre ich den hellen Pfiff der Lokomotiven, die vor Ungeduld brennen, hinausstürmen zu können. Dann steigt es mir brennend heiß im Herzen auf und macht mich unglücklich und melancholisch.
Hinaus! Fort in die Weite!
Es würde mir einerlei sein, wohin es ginge, ins Gebirge, an die See, in die Heide – es käme nicht darauf an! Nur fort! Hinaus!
Sonnenbeschienene Wege tauchen dann vor meinem Auge auf, Wege, die durch goldgrüne Tannenwälder führen, Sonnenbildchen auf moosgrünem Waldboden, blaue Berge und schimmernde Meeresweiten, Sommersonnentage voll einsamer Schönheit und Freude am Wandern, heuduftende Waldwiesen und stille Bergabhänge.
Aber das ist es doch nicht allein.
Darüber wäre Hinwegzukommen. Ich habe schon mehr Entbehrungen ertragen und ohne Willen einige Übung darin erlangt, mit einem Lächeln und einigen komisch verzweifelten Trostgründen darüber hinwegzukommen, wenn mir das Leben einmal wieder die Erfüllung eines sehnlichen Wunsches versagt. Mit einiger Einsicht und Ruhe kommt man über solche Dinge nicht allzu schwer hinweg.
Ich reise einfach in diesem Jahre ebensowenig wie in den voraufgegangenen beiden. Es geht nicht. Basta. Was ist groß dabei?
Aber so kommt man dem Fernweh nicht bei. Das sitzt doch tiefer.
Es ist ein Flügelrecken der Seele, ein Hinausbegehren in unbekannte Weiten, ein Lebensdrang und eine Sehnsucht, Brust und Herz zu weiten, neues Leben einzusaugen, Tage der Einkehr auf stillen Wanderungen zu halten, wo einen nur der eigne Schatten begleitet.
Nein, das ist es auch nicht. Oder nicht allein. Ich kann es eben nicht beschreiben. Es läßt sich auch nicht sagen. Man müßte ein Dichter sein, um es sagen zu können. Es ist zu tief und rätselhaft, als daß man es jemand sagen könnte. Ich habe es versucht. Aber zuletzt will es doch nur still ertragen sein.
Das schlimmste aber ist, daß es mich gerade jetzt wieder mit aller Macht ergriffen hat.
Es ist ja lächerlich zu sagen, aber mir ist, als brenne mir der Boden unter den Füßen, als zöge, treibe, schiebe, stoße, dränge mich eine unbekannte, geheimnisvolle Macht hinaus aus den Mauern der Stadt. Wohin? – Fort! Alles andre ist gleichgültig.
Aber es geht nicht.
Jedesmal, wenn mir das Herz vor Sehnsucht schwillt, daß es ordentlich fühlbar wird da drinnen in der Brust und auch anfängt zu drängen und zu stoßen, daß mir zuweilen ganz schwindlig wird davon, hole ich schleunigst diesen einen Gedanken herbei und gieße ihn wie einen Kübel kalten Wassers über meine Wünsche: Es geht nicht! Es ist unmöglich! Hörst du? Unmöglich!
Wenn es Geldmangel wäre – er würde mich nicht abhalten. Wenn ich auch ein Mädchen bin – wie ein Handwerksbursche würde ich zu Fuß reisen, den Rucksack auf dem Rücken, den Stab in der Hand, glücklicher als der Vogel in der Luft! Aber seitdem mir vor nun zwei Jahren der Arzt jede Hoffnung nahm (nehmen mußte!), jemals wieder ohne fremde Hilfe mich bewegen zu können, quält mich dieses unbestimmbare Etwas, diese rätselhafte Sehnsucht mit unsäglichem Schmerz.
Ich tröste mich ja, so gut ich kann. Du mußt lernen, dich in das Unabänderliche zu finden. Es gibt Tausende, die unter andern Qualen heftiger leiden als du! versuchte ich mir einzureden. Mitunter scheint es mir zu gelingen. Aber wenn ich eben glaube, gesiegt und das dumpfe Weh überwunden zu haben und lächelnd und mit heiterer Ergebenheit zum Fenster hinausblicke, brechen mir Schmerz und Sehnsucht doch plötzlich wieder wie eine versiegte und nun wieder lebendig gewordene Quelle aus Herz und Augen.
Was will dieses unerklärliche Fernweh von mir? Ich fühle wohl, wenn ich auch fortkönnte von hier, Ruhe würde ich nirgend finden. Es wäre mit einer Flucht ins Gebirge oder an die See nicht zu stillen. Ist es der Tod, der mich mit Sehnsucht locken will? So wäre mein Fernweh doch ein – Heimweh?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es mich quält und daß ich es nicht länger mehr ertragen kann. Ich werde darum diese Wohnung so bald als möglich wieder verlassen, wo man die Pfiffe der Lokomotiven und das stoßende Rollen der Räder auf den Schienen selbst in der Stille der Nacht noch hört ...