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Tini

Ich weiß nicht, wer ihn einmal gepflanzt hat, und habe mir auch nie Gedanken darüber gemacht – ein Apfelbaum war es aber genau so gut, und mitten im Garten stand er auch, geradeso wie der, von dem Adam und Eva einst naschten, und der Befehl »Ihr sollt nicht essen!« galt ebenfalls für uns. Ja, wir waren eigentlich noch schlimmer daran, denn außer dem einen Baum gab es überhaupt keine andern im Garten, an denen man sich hätte schadlos halten können, wie es doch Adam und Eva leicht hätten tun können, wenn sie nur gewollt hätten! Der Versuchung zu widerstehen war also für uns viel schwieriger! Eine Schlange, die uns mit glatten Worten verführt hätte, war allerdings nicht da, man hätte denn die Harke dafür halten müssen, die am Stamme des alten Baumes herunterhing. Wenn ihr auch die Geschmeidigkeit einer Schlange abging, so wirkte sie eigentlich noch verführerischer als jene – verlockte sie uns doch sogar ohne Worte dazu, mit ihrer Hilfe ein paar Äpfel von den Zweigen zu rupfen. Ja, ich behaupte, wenn die Harke nicht gewesen wäre, hätten wir auch nicht gesündigt, Tini und ich. Wir hätten ja die Äpfel niemals kriegen können, unsre Arme allein wären viel zu kurz gewesen, hinaufzulangen! Und etwa in den Baum zu klettern? Offen gesagt, dazu war eigentlich der Stamm zu grün! Die Spuren an meiner Hose, die nicht so leicht zu entfernen waren, wie ich durch Erfahrung wußte, hätten sicher den Verräter gemacht! Da war die Harke ein viel verlockenderes Mittel – und also hatte die Harke schuld!

Aber die Äpfel schmeckten –! Ich aß gleich auch den zweiten, weil der erste so trefflich gewesen war, und Tini aß sogar drei. Aber dann mochten wir plötzlich beide nicht mehr. Vielleicht waren wir wirklich satt, und außerdem fing das Gewissen an, uns zu plagen.

Merkwürdig, daß das immer der Fall ist, wenn man satt ist, niemals vorher.

Wir waren doch etwas bedrückt, als wir unsre Missetat begangen hatten und uns nun fragten, ob es die Mutter wohl sehen würde, wenn sie heimkam? Sie hatte mir ja freilich, ehe sie fortgegangen war, gesagt, daß sie die Äpfel gezählt habe. Aber war wirklich anzunehmen, daß sie gleich nachzählen würde?

Wir hängten die Harke wieder an ihren alten Platz, und sie ließ ihren Stiel wieder so unschuldig an dem Stamme des alten Baumes herunterhängen, als wäre sie niemals mit ihren Zinken in die Krone des Baumes geschlüpft, um fünf Äpfel, schöne, runde Äpfel, von dort für uns herabzuwerfen.

Aber trotz meinen Trostgründen: unsre Stimmung war und blieb gedrückt. Wir hatten vorhin Seefahrer gespielt, und unser Schiff, das eigentlich nur aus einer Kajüte bestand, die wir aus zwei hintereinander aufgestellten Stühlen und einer darübergebreiteten Decke hergestellt hatten, hatte uns völlig in Anspruch genommen. Durch Sturm und Wogendrang hatte ich das Schiff glücklich hindurchbugsiert, hatte Segel gerefft und aufgezogen, das Steuer umgelegt, Kommandorufe an unsichtbare Matrosen erteilt, war Steuermann, Kapitän und Eigentümer in einer Gestalt gewesen, während Tini unter der Decke in der Kajüte gehockt und Kartoffeln gekocht hatte – dann waren wir trotz aller meiner Mühe gescheitert, hatten ein Robinsonleben geführt und schließlich nichts mehr zu essen gehabt! Da war Tini auf den Gedanken gekommen, der uns vorhin schon wiederholt beschäftigt hatte, daß wir ja ein paar Äpfel von den Bäumen schütteln könnten, was mich zuerst zum Widerspruch gereizt hatte, da es in der Gegend, in der wir gescheitert waren, nur Kokospalmen gab. Und dazu kam, daß die Mutter die Äpfel sorgsam gezählt hatte! Aber schließlich hatte Tini mich überredet, daß wir ja die Äpfel für Apfelsinen essen könnten. Wo es Kokospalmen gab, konnten doch auch Apfelsinen wachsen, und die Mutter würde es schon nicht merken. Wir konnten doch nicht Hunger leiden!

Gegen den letzten Einwand war wirklich nichts zu erwidern.

Ich nahm also den Harkenstiel, der verführerisch aus dem Grün des Baumes niederhing, und – die Untat war geschehen.

Als wir unsre Äpfel verzehrt hatten, wobei Tini einen gesegneteren Appetit entwickelte als ich – mir waren schon während des zweiten allerhand trübe Gedanken aufgestiegen –, wurde das böse Gewissen in uns lebendig.

Zu spielen hatten wir plötzlich keine Lust mehr. Am liebsten wären wir auf die Straße gelaufen, um aus dem Hofe hinauszukommen, wo uns alles an unsre Missetat erinnerte. Aber unsre Mutter hatte vorhin die Hoftür abgeschlossen, als sie fortgegangen war, und es hieß also dableiben. Tini machte ein langes Gesicht, als sie vergeblich die Tür aufzuklinken versucht hatte, setzte sich auf die Treppe, die in den Hof führte, und begann zu heulen.

Ich versuchte sie zu trösten, aber da kam ich schön an. Sie wolle jetzt nach Hause, beharrte sie.

»Hörst du? Jetzt!« weinte sie und stampfte mit dem Fuße auf.

»Es geht doch nicht!« sagte ich. »Weine doch nicht. Mutter muß ja gleich wiederkommen!«

»Und dann?« fragte Tini. »Wenn sie dann merkt, daß wir bei den Äpfeln gewesen sind!« –

Merkwürdig! Vorher hatte Tini gemeint, daß die Mutter es schon nicht merken würde.

» Du bist ja gar nicht dabeigewesen!« erwiderte ich bedrückt.

Das wirkte wie Öl auf die Wogen des Ozeans. Tini sah mich eine Weile mißtrauisch an, trocknete dann ihre Tränen und sagte schließlich: »Das ist ja auch wahr, du hast sie ja runtergeholt.«

Von da ab schien sie wieder ganz vergnügt. Sie nahm ihre Puppe wieder her, die sie in ihrem Eigensinn vorhin wie eine Verbrecherin von sich geschleudert hatte, und war überhaupt von einer so unschuldigen reinen Freude beseelt, wie sie nur das gute Gewissen verleihen kann.

Plötzlich wurde in dem Hinterhause, das auf der einen Seite unsern Hofplatz begrenzte, ein Fenster geöffnet, und Mine Rietmöller steckte ihren Kopf heraus. »Na,« sagte sie, »was spielt Ihr da?«

Mine war die Tochter des Althändlers, der unser Nachbar war und das Hinterhaus mit unzähligem altem Hausgerät so vollgestopft hatte, daß er gewiß selbst nicht recht wußte, was alles darin steckte. Da wir erst einige Monate in unserm Hause wohnten, hatte ich mit Mine noch keine nähere Bekanntschaft gemacht, und ihr Haus, oder gar das geheimnisvolle Hinterhaus, in das man durch die spinnenwebverhangenen Fenster von unserm Hofe aus hineinblicken konnte, nie betreten. Ich war darum nicht wenig verwundert, Mine Rietmöller mit einemmale so vertraulich aus dem geöffneten Fenster reden zu hören.

»Wir spielen eigentlich gar nichts Rechtes! Kann man da drin bei euch schön spielen?« fragte Tini und versuchte, neugierig durch das geöffnete Fenster in das alte Hinterhaus zu blicken.

»Fein!« sagte Mine, die um ein oder zwei Jahre älter war als wir. »Wenn ihr Lust habt, kommt mal 'rein!«

Das brauchte Mine uns nicht zweimal zu sagen. Wir ließen also unser Schiff, die Goldküste, Dattel- und Kokospalmen, den Apfelbaum und die Erinnerung an unsre Sünde hinter uns und kletterten durch das offne Fenster in das alte Hinterhaus. Mine machte das Fenster hinter uns zu, und nun saßen wir in einem geheimnisvollen Halbdunkel. Verstaubte alte Möbel standen in dem Zimmer, eins über das andre getürmt, alte Polstermöbel, aus denen der Staub drang, wenn man sie berührte, alte Kommoden und Schränke, schadhafte Stühle und Kisten und Kasten waren bis unter die Decke hinauf übereinandergestellt.

Mit großen, verwunderten Augen gingen wir durch die Zimmer des alten Hauses, betrachteten die Bilder, die in schadhaften Rahmen, verstaubt und mit zerbrochenen Scheiben an den Wänden lehnten, und hatten über all dem Neuen, das es zu sehen gab, unsern Apfeldiebstahl bald völlig vergessen.

Mine war ein fuchshaariges Mädchen, mit einem breiten, sommersprossigen Gesicht. Ich hatte sie bis heute nicht recht leiden mögen, aber als die unumschränkte Gebieterin des Zauberreichs, in das sie uns eingeführt hatte, erschien sie mir jetzt weit weniger abstoßend als sonst, wenn Tini auch hübscher war.

Bei unserm Herumstöbern gerieten wir plötzlich über ein paar alte gebundene Bände illustrierter Zeitschriften. Das Papier war längst vergilbt, und die Blätter waren feucht und moderig, aber das machte uns nichts. Zwischen altem Hausrat vergraben, saßen wir über die Bücher gebeugt und wendeten ein Blatt nach dem andern um.

Um uns war es muckstill. Man hörte nicht einen Laut, nur die Mäuse nagten unter den Fußbodendielen.

Wir schlugen die Bücher erst zu, als die Dämmerung so tief gesunken war, daß die Gegenstände um uns nicht deutlich mehr zu erkennen waren. Da begann sich Tini in der Dunkelheit zu fürchten, und Mine lachte wie ein Kobold, als sie Tinis Angst bemerkte.

»Geh doch nach Hause, wenn du bange bist!« sagte sie und öffnete ihr die Tür, durch die sie durch einen Gang auf die Straße und von dort nach Hause laufen konnte.

»Hast du auch Angst?« fragte Mine mich, als sie zurückkam.

»Nein! Warum?« antwortete ich, trotzdem mir das Herz in der Dunkelheit lauter klopfte, als ich zugegeben hatte.

»Nu, es gibt welche, die bange sind, wenn's dunkel wird.«

»Ich nicht!« sagte ich und sah gefaßt in die Dämmerung hinein, in der die alten Möbel wunderliche Formen annahmen, als stiegen aus allen Ecken und Winkeln merkwürdige Gestalten herauf.

Mine sagte nur: »So, du nicht!« und begann dann leise vor sich hin zu summen und setzte sich in die Ecke eines alten Sofas und baumelte zum Zeitvertreib mit den Beinen.

»Wohnt ihr schon lange hier?« fragte ich.

»Länger als ich denken kann. Und ich bin bald elf.«

Ja, das ist lange.

»Warum habt ihr dies Haus eigentlich und bewahrt soviel darin auf?«

»Vater handelt doch mit den Sachen!«

»Ja, woher kriegt er das alles, die Bilder und die Stühle und Tische und alles?«

»Er kauft es, du Dummkopf, wenn die Leute umziehen und so.«

»Da muß dein Vater viel Geld haben?«

»Hundert Mark und noch mehr!«

»Hundert Mark und noch mehr!« wiederholte ich voll Bewunderung.

»Im Vorderhause haben wir noch mehr Sachen. Wenn Vater mal aus ist, zeige ich sie dir mal!«

»Darf er nicht wissen, wenn ich komme?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, ob er nicht böse wird.«

»Du, eigentlich habe ich 'n bißchen Angst vor ihm.«

»Vor meinem Vater?«

»Ja, und auch wenn ich nach Hause komme.«

»Will deine Mutter nicht haben, daß du hier bist?«

»Darum nicht.«

»Warum denn?«

Nach einigem Zögern erzählte ich ihr die Geschichte mit den Äpfeln von vorhin.

Als ich fertig war, sagte sie: »Ja, das ist schlimm, aber Tini hat schuld!«

»Tini?«

»Gewiß doch, sie hat doch gesagt, daß du sie runterholen sollst?«

Nun schien es mir mit einemmal auch, als wenn Tini mehr schuld hätte als ich. Aber ich ließ es mir nicht merken. »Nein,« sagte ich, »Tini hat keine Schuld! Tini nicht. Ich hätte ja nicht zu tun brauchen, was sie sagte.«

Sie schüttelte den Kopf und schwieg. Dann fragte sie: »Was willst du denn zu Hause sagen?«

»Weiß ich nicht!« antwortete ich ein wenig trotzig und zuckte mit den Schultern.

»Weißt du was? Ich will dir 'n paar Äpfel aus unserm Keller holen. Die kannst du deiner Mutter für die andern wiedergeben, ja?«

Ehe ich antworten konnte, war sie schon davon, und ich saß in der Dunkelheit allein und wünschte nichts sehnlicher, als daß Mine zurückkommen möge ... Aber sie blieb lange aus. Die Angst in mir stieg höher und höher, und mir klopfte das Herz in der Dunkelheit des alten Hauses, in dem die Mäuse über die Dielen huschten und mit leisem Pfeifen hinter den alten Sachen verschwanden, die an den Wänden standen.

Vorsichtig lugte ich durch eins der Fenster in unsern Hof hinab. Meine Mutter mußte lange zurückgekommen sein. Richtig, eben zündete sie in der Stube Licht an. Nun öffnete sie die Tür zum Hof und trat hinaus, sah sich um, schüttelte mit dem Kopf und ging wieder ins Haus, mich auf der Straße zu suchen.

Das Herz brannte mir vor Ungeduld, als Mine endlich zurückkam. Sie hatte fünf schöne große Äpfel in ihrer Schürze, die sie mir zusteckte, und flüsterte: »So, schnell, leg' sie auf den Küchentisch und sag', sie wären vom Baume gefallen! Aber schnell, es ist schon Licht in eurer Stube!«

Sie stieß das Fenster auf, und ich sprang mit meinen Äpfeln leichtfüßig wie ein Eichhorn aus dem niedrigen Fenster in unsern Hofplatz, flüsterte ein »Gute Nacht, Mine!«, klinkte die Tür auf und schlüpfte ins Haus und in die Stube, wo ich die Äpfel auf den Tisch legte. Dann wartete ich mit heimlicher Unruhe auf die Rückkehr meiner Mutter, die mich währenddessen wie eine Stecknadel auf der Straße suchte.

Als sie heimkam, machte sie große Augen, mich bereits zu Hause zu finden. »Na,« sagte sie, »wo steckst du denn? Ich such' dich allenthalben, und da sitzt der Bursche hier in der Stube, als wäre er überhaupt nicht fortgewesen. Ich hatte doch die Hoftür abgeschlossen. Und wo ist Tine geblieben?«

Ich gab auf alles wahrheitsgetreue Antworten, sagte aber dann: »Sieh mal, fünf Äpfel sind vorhin vom Baum gefallen, ich habe sie aufgesucht!«

Verwundert starrte meine Mutter auf die Äpfel. »Aber, Junge,« sagte sie dann – verschluckte etwas, sah mich an, sah dann wieder die Äpfel an und sagte: »Na, nun mal raus mit der Wahrheit! Woher hast du die Äpfel?«

Ich schwieg beschämt, stotterte noch einmal in höchster Verwirrung hervor, daß sie von unserm Baum gefallen seien, legte aber ein offnes Geständnis ab, als meine Mutter mir erklärte, daß solche Äpfel noch niemals auf unserm Baum gewachsen seien und also auch schwerlich in diesem Jahre darauf wüchsen.

Daß Mines Äpfel und die unsern verschiedene Sorten waren, daran hatte ich nicht gedacht. Meine Niedertracht lag so klar vor Augen, wie der lichte Tag. Als meine Mutter aber alles wußte, als ich ihr von der Goldküste erzählt hatte und von der Gefahr des Verhungerns auf dem Robinsoneiland, verzieh sie mir.

Eine Stunde später im Bette überdachte ich noch einmal den Nachmittag und begann, ohne zu wollen, Tini und Mine zu vergleichen.

Tini war ja viel hübscher als Mine, das war ja wahr, aber wenn ich daran dachte, wie vergnügt Tini gewesen war, als ich die ganze Schuld auf mich genommen hatte, und an die fünf großen Äpfel dachte, die Mine mir geschenkt hatte – da neigte sich die Wage doch bedenklich zugunsten der neuen Freundin, wenn sie auch Sommersprossen hatte und häßlicher war als Tini – was lag schließlich daran?

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