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Die Nachtigall

In einer der dunkelsten Gassen der Stadt, wo alte, spitzgiebelige Häuser schiefwinkelig und eng aneinandergedrängt standen, hing im hinteren Winkel eines alten Trödlerladens, über allerhand Gerümpel, alten Möbeln und schadhaften, fleckig gewordenen Bildern in abgestoßenen, altmodischen Bilderrahmen, über alten Vasen und Zinnkrügen, getragenen Kleidungsstücken und Schuhen, in einem rostigen Drahtbauer eine Nachtigall. Der Alte, der in dem winkeligen, alten Hause einsam und verlassen hauste, hatte sie einmal auf einer Versteigerung erstanden und wartete nun auf einen Kunden, der ihm einen guten Preis für den Vogel zu zahlen bereit war.

Es war ein Wunder, daß die Nachtigall in der Dunkelheit des alten Hauses nicht längst schweigsam und still geworden war. Aber je dunkler und regendüsterer die Tage waren, um so lauter sang sie, von Sehnsucht gequält. Leise und verhalten, wie im Traume, begann sie, als stiege vor ihrem Auge der Wald ihrer Kindheit wieder auf, wo die Sonnenstrahlen so leuchtend gewesen waren wie flüssiges Gold, und der weiche Frühlingswind liebkosend über ihre jungen Federn gegangen war. Von der Freiheit sang sie, die sie seit Jahren entbehren mußte, von dem kühlen, klaren Quell im Walde, aus dem sie getrunken und in den sie an jedem Morgen die Spitzen ihrer Flügel getaucht hatte, von dem blauen Himmel und den weißen segelnden Wolken, die so feierlich über den rauschenden Bäumen hingezogen waren. Und wenn sie sang, konnte sie kein Ende finden. Zuweilen aber, wenn sie vor Sehnsucht sterben zu müssen glaubte, sang sie das Lied, das sie im abenddunklen Wald einst gesungen hatte, der Geliebten zum Preise, und das Lied von der Liebe war ihr schönstes Lied. Es begann weich und tief, voll Schönheit und zurückgehaltener Leidenschaft, es klang traurig und unglücklich zugleich, bis es in so stürmische, jubelnde Triller überging, daß man meinte, die Kehle müsse ihr springen oder das kleine Herz, das unter den grauen, unscheinbaren Federn in ihrer Brust schlug.

Der alte Trödler hatte in seinem Leben in der dunklen Gasse, in der er hauste, keine Nachtigall singen hören, und darum stand er wohl zuweilen verwundert still und horchte auf den Gesang des kleinen Vogels. Er hielt dann im Ausbürsten der alten Kleider inne, sah zu der Nachtigall hinaus und sagte halblaut vor sich hin: »Den Deubel auch, man sollte nich glauben, wat dat kleine Ding singen kann!«

An einem kalten, schmutzigen und nassen Vorfrühlingstage, an dem der Schnee grau und schmutzig, naß und klitschig in allen Gassen lag, trat ein junger Mann in den Laden des Trödlers. Er hüstelte beständig, rieb sich die blassen, schrecklich mageren Hände und sah mit fieberischen Augen um sich.

»'n Abend,« erwiderte der Händler, »wat soll's denn sein!«

»'n Paar Stiefel,« sagte der junge Mann. »Bei dem nassen Wetter ist es eine Qual, mit löcherigen Stiefeln zu gehen, und zudem hat es mir der Arzt auch verboten, ja. Aber teuer dürfen sie nicht sein.«

Der Alte legte ihm verschiedene der alten Stiefelpaare vor, die auf einem Regal lagen und paarweise zusammengebunden waren.

Es dauerte eine Weile, bis der junge Mann ein Paar gefunden hatte, das ihm paßte. Er behielt sie der Einfachheit halber gleich an den Füßen. Die alten waren auch das Mitnehmen nicht mehr wert. Dann zog er seine Börse, um den Preis zu bezahlen, den der Händler verlangte.

»Geht es nicht etwas billiger?« fragte er leise und hüstelte wieder.

»Ne,« sagte der Alte, »die schlechten Zeiten, wissen Sie! Und der Verdienst ist so knapp genug.«

Der junge Mann zählte seufzend das Geld auf den Tisch. Ein Markstück klingelte ordentlich, als er es hinlegte.

In diesem Augenblick begann die Nachtigall zu singen. Süß und weich quollen ihr die Töne aus der Brust.

Mit weitgeöffneten Augen starrte der junge Mann zu dem Vogel hinauf.

»Woher haben Sie die Nachtigall?« fragte er atemlos, als der Vogel eine Pause machte.

»Na, gestohlen werd' ick sie schon nich haben,« entgegnete der Alte mit mürrischer Miene.

»Überlassen Sie mir den Vogel!« rief der junge Mann, und in seiner Stimme lag Besorgnis und Angst, daß ihm das Tier verweigert werden könnte.

»Wat woll'n Sie denn geben?« fragte der Händler lauernd.

»Ich will Ihnen alles geben, was ich noch habe!« rief er aus und ließ ein Markstück und ein paar Nickelmünzen auf den Ladentisch fallen.

»Sie sind wohl meschugge!« entgegnete der Alte. »Ne, det gibt et nich.«

»Vielleicht – wenn Sie wollen –«, stotterte der junge Mann, »könnte ich Ihnen ja die Stiefel, die ich eben gekauft habe, dazugeben, wenn Sie dann damit einverstanden sind?«

Der Alte ließ sich herbei. »Eigentlich wollt' ich den Vogel selbst behalten. Er singt zu nüdlich und bringt doch etwat Leben in die Bude,« sagte er, als er den Käfig vom Nagel nahm und der junge Mann die gekauften Stiefel wieder auszog und in die alten, nassen, löcherigen zurückschlüpfte, die er vorhin ausgezogen hatte.

Herzklopfend vor Freude trug er dann die Nachtigall nach Hause. Er wohnte in einer der großen Mietskasernen im nördlichen Viertel der Stadt. Dort war er in Logis bei einer Schneiderfamilie, die in ein paar Kellerzimmern hauste. Er hatte eins der Zimmer für sich, das nach hinten hinaus ging und düster und unfreundlich war wie die ganze Wohnung.

»Na, Sie hätten sich ooch lieber 'n Paar Stiefel kaufen sollen,« sagte die Schneidersfrau, als sie von dem Handel hörte. »Wat denn? Der Gesang? Aber davon kriegen Sie doch keine warmen Füße, und die sind für Sie doch det Notwendigste, det wissen Sie doch!«

Der junge Mann lächelte zu ihren Worten. Er wußte besser, welchen Schatz er sich nach Hause getragen hatte.

Erschöpft von dem Wege, zähneklappernd und fröstelnd von dem durchnäßten Fußzeug, streckte er sich auf seinem Bett aus und wartete auf den Gesang der Nachtigall.

Herzklopfend lauschte er, als sie begann. Er trank die Töne in sich hinein, die so weich aus der Brust der Sängerin kamen, so lockend und süß.

Er schloß die Augen und lag mit fieberheißen Wangen da. Es war ihm wie im Traum. Blumige Talgründe schlossen sich vor seinen Augen auf, geheimnisvolle Wälder rauschten um ihn im Winde, und sonnenbeschienene Pfade führten ihn über frühlingswarme Wiesen an blinkenden Quellen und leise plätschernden Bächen vorüber ...

Es war, als wenn die Nachtigall wisse, wie sie den Kranken labe, der da vor ihr auf den Kissen lag, und der Kranke konnte sich nicht satthören an ihrem Gesang.

Er lag da mit einem wehen Lächeln um den blassen Mund und horchte. Feine, lilienweiße Frauenhände streckten sich ihm entgegen, singende Mädchen zogen durch den blütenjungen Wald, schwenkten zarte grüne Reiser, an denen das erste Laub in leuchtendem Glanze hing, und ihr Gesang scholl hell und klar, weithin hallend durch den märchenstillen Wald.

Immer leichter wurde es dem Kranken ums Herz. Ihm war, als schwebe er durch die Luft, von unsichtbaren Händen getragen, von sanften Wellen des Windes umspült, und das Glück, das er in diesem Augenblick empfand, war größer als alles andre, was ihm sein ganzes armes Leben bisher an Glück und Freude beschert hatte.

Ein paar Tage später kam der Gerichtsvollzieher. Er sah sich aufmerksam im Zimmer um und fand doch nichts, das er pfänden konnte, bis sein Auge auf die Nachtigall fiel.

»Nein,« sagte der junge Mann, »die Nachtigall darf nicht gepfändet werden! Das geht nicht, geht wirklich nicht, nein!«

»Warum denn nicht?« fragte der Gerichtsvollzieher.

»Wenn Sie mir die Nachtigall nehmen, werde ich sterben,« sagte der junge Mann wieder.

»Unsinn!« rief der Gerichtsvollzieher. »Wissen Sie auch, daß Sie die Nachtigall zu versteuern haben? Wie lange besitzen Sie den Vogel schon?«

»Seit einigen Wochen,« stammelte der junge Mann. »Aber Sie dürfen mir die Nachtigall nicht nehmen, sie ist meine einzige Freude. Ebensogut könnten Sie mir meine Seele abpfänden!«

»Nun fangen Sie bloß nicht an zu quasseln,« entgegnete der Gerichtsvollzieher ärgerlich, denn er war ein Mensch, der sich nicht gern mit unnützen Reden aufhielt.

»Lassen Sie sie mir, ich bitte Sie!«

»Ist 'n Luxusgegenstand!« entschied der Gerichtsvollzieher und schob den jungen Mann zurück. Umständlich klebte er die Steuermarke an den Käfig. Wild flatterte darin die Nachtigall an den Stäben ihres Käfigs empor, als die fremde Hand zu ihr hinauflangte.

»Det haben Sie nun davon,« sagte die mitleidige Schneidersfrau, als der Gerichtsvollzieher gegangen war. »Sie hätten damals nur die Stiefel behalten sollen, die hätte er nicht pfänden dürfen. Aber sei'n Se man nich so verstört! Wenn Se erst wieder gesund sind und der Husten vorbei is, so können Se auch wieder arbeiten, und dann wird all's anders. Und bis der Vogel abgeholt wird, hat's auch noch Weile. So schnell geht die Kiste nich!«

Aber sie bekam keine Antwort auf ihren gutgemeinten Trost. Der junge Mann saß mit zitternden Knien auf dem Rande seines Bettes, hatte den Kopf in beide Hände gestützt und sagte nicht ein Wort. –

Eines Tags klopfte der Gerichtsvollzieher von neuem an die Tür des jungen Mannes.

Diesmal öffnete ihm die Schneidersfrau.

»'n Tag. Ick komm man bloß wegen der Nachtigall, versteh'n Se?«

»Die is ausgeflogen,« sagte die Schneidersfrau. »Wenn Se vielleicht dat Bauerken mitnehmen wollen?« Schadenfroh hielt sie ihm das leere Bauer entgegen.

»Ausgeflogen? Wat heißt denn det? Sie war doch beschlagnahmt?« rief der Gerichtsvollzieher wütend.

»Un sei'n Se 'n biscken stille, ja?« fuhr die Schneidersfrau entrüstet fort. »Sehn Se denn nischt? Sind Se denn rein blind un vernagelt?«

»Ach – so!« sagte der Gerichtsvollzieher gedehnt, als er den Toten erblickte, der steif auf dem Bette lag, das wachsbleiche, abgezehrte Gesicht dem Fenster zugewandt, im Tode noch leise lächelnd, als höre er der Nachtigall zu.

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