Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Zweites Kapitel.

Ringe oder Wolken? – Ein »denkender« Landpfleger. – Große Debatte über den unglückseligen Namen »Michel«. – Von einer Mainacht »unter der Linde«. – Wie heillos ein Friedenskuß gestört werden kann.

Mein Vater hatte seine Pfeife wieder gefüllt und die Mutter den brennenden Zunder auf den schwellenden Varinas gedrückt.

Ihr Stuhl stand jetzt wieder dem ihres Eheherrn dicht zur Seite.

Mein Vater fühlte sich bei diesen offenkundigen Vorzeichen friedfertiger Annäherung sehr behaglich. Hierfür lag ein untrüglicher Beweis vor oder schwebte vielmehr in der milden Abendluft in Gestalt einer unendlichen Reihe meisterhaft geblasener Rauchringe von allen Größen, die unablässig aus dem Munde des Rauchenden hervorquollen.

Wenn die Bauern, Pächter, Förster und Pastoren in Geschäften zu uns aufs Rentamt kamen, machten sie immer zuerst meiner Mutter die Aufwartung, um sich, wie sie sagten, nach der Witterung zu erkundigen.

»Frau Kons'lentin,« fragten sie dann, »hat der Herr Kons'lent beim Morgenkaffee Ringe geblasen oder aber Wolken?«

Gab die Mutter mit einem verhaltenen Seufzer zur Antwort: »Wolken, schwere Wolken!« so gab's ein bedenkliches Kratzen hinter den Ohren, und die Leute schlichen sehr behutsam nach der Amtsstube. Antwortete hingegen meine Mutter mit ihrem herzgewinnenden Lächeln: »Ringe, Prächtige Ringe!« so schritten die Leute laut und lachend den Gang nach den Geschäftszimmern hinab, als hätten sie den günstigen Bescheid auf ihre verschiedenen Anliegen schon schriftlich in der Tasche. Manchmal freilich erwies sich nach Art anderer Orakel auch das Ringe- und Wolkenorakel trügerisch, sehr trügerisch.

Meine Mutter konnte das wissen, allein sie wollte sich heute an solche unliebsame Erfahrungen wahrscheinlich nicht erinnern.

Ihre kleine, weiße, weiche Hand auf die große, knochige, gebräunte meines Vaters legend, fragte sie recht herzlich: »Willst du mir einen Gefallen tun, lieber Fritz?«

»Zwei für einen, Trudchen.«

»Danke, danke! Ich verlange nur einen, aber du mußt mir versprechen, mich nicht auszulachen um deswillen, was du meinen Aberglauben nennen wirst.«

»Dich auslachen, Trudchen? Wegen des Aberglaubens? Fällt mir nicht ein! Ein bißchen Aberglaube steht euch Frauen ganz vortrefflich, weißt du? Und was ist eigentlich Aberglaube? Es möchte sehr schwierig sein, diese Frage bestimmt zu beantworten. Wollte den sehen, der mir ganz genau, auf den Punkt hin sagen könnte: Da hört der Glaube auf und da fängt der Aberglaube an. Müßte ein siebenfach destilliert gescheiter Kerl sein, der das könnte. Denn siehst du, liebe Alte, die Frage: Was ist Wahrheit? ist bis heute von allen unsern Philosophen gerade noch so wenig befriedigend beantwortet, als sie es zur Zeit des Landpflegers Pilatus war. Besagter Pilatus ...«

Meine Mutter verzog ein wenig, nur ein klein wenig, aber doch wahrnehmbar den Mund, und ihr Arm zuckte leise, als wollte sie ihre Hand von der ihres Eheherrn zurückziehen. Und diese Regung der Ungeduld war sehr verzeihlich. Wenn mein Vater mal ins Dozieren hineinkam, so war ihm sehr schwer beizukommen.

»Besagter Pilatus,« fuhr mein Vater fort, »war ohne Zweifel ein denkender Landpfleger ...«

»Bitte, lieber Schatz,« fiel meine Mutter ein, »laß doch den denkenden Landpfleger, der schon so lange ausgedacht hat, in Ruhe und höre lieber, was ich wünsche.«

»Was wünschest du, Trudchen? Du weißt, alle deine Wünsche sind mir Befehle ...«

»Die aber selten vollzogen werden,« wollte offenbar meine Mutter mittels des bittersüßen Lächelns sagen, welches ihre Mundwinkel kräuselte. Indessen begnügte sie sich zu äußern:

»Das wollen wir gleich sehen, lieber Fritz. Du weißt, es hat mich stets geärgert und gekränkt, daß unser Bub den unglückseligen Namen Michel führt ...«

»Warum nicht gar!«

»O, du weißt es wohl. Du solltest auch noch nicht vergessen haben, wie tödlich ich erschrak, da ich, als ihr den Täufling aus der Kirche zurückbrachtet, erfahren mußte, daß du ihm als ersten Namen Michel gegeben habest und erst als zweiten den Namen Siegfried, wie sein Pate, mein Bruder selig, hieß.«

»Alte Geschichten, Trudchen, alte Geschichten. Im übrigen hab' ich nie begreifen können und begreife auch jetzt noch nicht, wie du gegen den ehrlichen Namen Michel eingenommen sein konntest und kannst.«

Die Hand meiner Mutter lag nicht mehr auf der meines Vaters, als sie erwiderte:

»Gegen den ehrlichen? Gegen den garstigen, gemeinen, pöbelhaften, willst du sagen. Nur Fuhrleute und Holzhacker heißen Michel.«

Der Stuhl meiner Mutter, als wäre er ein fühlendes Wesen und gehorche den Stimmungen der auf ihm Sitzenden, rückte wie von selbst eine Spanne weit von dem meines Vaters weg.

»Daß ihr Frauen doch alle eingefleischte Aristokratinnen seid!« sagte mein Vater gleichmütig und setzte an, um einen recht großen Ring zu blasen. Aber er brachte es nicht zustande, wahrscheinlich aus Schrecken über die zwischen den Brauen meiner Mutter abermals sich entwickelnde Falte. Der Rauch kam ganz wolkig und anarchisch aus seinem Munde.

»Ich bin keine Aristokratin, ich!« versetzte meine Mutter gereizt. »Ich weiß, daß Fuhrleute und Holzhacker ganz gute und achtbare Menschen sein können und oft auch wirklich sind. Aber wer wird es einer armen Mutter verübeln, wenn sie nicht will, daß ihr einziger Sohn so fuhrmännisch oder holzhackerisch heiße? Bitte, lieber Fritz, wir wollen den Knaben künftig nur mit dem Namen Siegfried rufen.«

»Liebes Kind, ich habe ganz und gar nichts dagegen, wenn du den Jungen lieber mit dem Namen Siegfried rufst.«

»Nicht so, Alterle, nicht ich allein. Du und alle, alle sollen ihn künftig so rufen. Er soll sich auch künftig nur noch Siegfried Helmut schreiben, nicht mehr – doch ich will den garstigen Namen gar nicht mehr auf die Zunge nehmen. Er klingt so roh, so flegelhaft ...«

»Aber, Schatz, der Junge ist ja gerade auch in den Flegeljahren.«

Ohne diesen Einwurf zu beachten, fuhr meine Mutter eifrig fort:

»Siegfried dagegen, wie klingt das vornehm, stolz, heldisch! Hast du mir, als du mich im letzten Winter beredetest, das lange, lange Nibelungenlied zu lesen, nicht zu wiederholten Malen gesagt, der Siegfried sei der herrlichste aller Helden unserer alten Sagenwelt gewesen?«

Das hieß meinen Vater an einer seiner schwächsten Seiten anfassen, an der Begeisterung, welche er den Erinnerungen vaterländischer Heldensage weihte.

»Diplomatin du!« gab er lachend zur Antwort.

»Ach nein,« versetzte meine Mutter abwehrend. »Ich weiß und will nichts von der Diplomatie. Ich verlasse mich lediglich auf mein Muttergefühl. Das sagt mir, daß der Name Michel ein Unglück für den Knaben sei, weil voll der übelsten Vorbedeutung. Was kann aus einem Michel werden?«

»Etwas Rechtes, liebes Kind, etwas Rechtes!« erwiderte mein Vater eifrig.

Und indem er die Pfeife fest mit den Zähnen packte und mit dem Zeigefinger der rechten Hand demonstrierend auf die innere Fläche der ausgestreckten tippte, fuhr er fort:

»Ich muß dir sagen, Gertrud, du hegst da in der Tat einen wunderlichen Aberglauben. Der Name Michel sei von übler Vorbedeutung, meinst du? Welcher krasse Irrtum! Als ob ich dem Jungen den Namen nicht mit rechtem und reiflichem Vorbedacht gegeben hätte!«

»Ja, mir zum Ärger.«

»Trudchen, Trudchen, jetzt sieh, das glaubst du selber nicht.«

»Hm,« murmelte meine Mutter, und ihr Stuhl entfernte sich immer weiter von dem ihres Eheherrn.

»Nicht dir zum Ärger, Gertrud, sondern weil ich der Hoffnung lebte, daß zwar nicht ich selber, wohl aber unser Junge eine Zeit erleben werde, wo jeder Deutsche stolz sein würde, ein deutscher Michel zu heißen.«

»Warum nicht gar!«

»Alles Ernstes! Das in unserer Zeit bei der Namengebung ohne allen Sinn und Verstand, ohne alles vaterländische Gefühl verfahren werde, haben verständige und patriotische Männer längst gerügt. Es ist ganz und gar nicht unwichtig, was für einen Namen der Mensch trage.«

»Da hast du leider nur zu recht!«

»Als mir daher meine selige Mutter den großen, kräftigen Jungen, den du mir Glücklichem gegeben, zuerst in die Arme legte und du von deinem Bette her voll Freude flüstertest: ›'s ist ein starker Bub', liebster Fritz!‹ und der Bursch gar nicht weinerlich tat, sondern mich mit seinen dunklen Augen frisch und keck anguckte, und mit seinen Händchen nach meinem Backenbart zu langen versuchte, da beschloß ich bei mir: Der soll Michel heißen!«

»Eine höchst vortreffliche und glückliche Namenwahl... in der Tat!«

Meine Mutter bemühte sich offenbar nach Kräften, diese Einschaltung spöttisch zu betonen, aber es ging nicht recht; die in den letzten Worten meines Vaters liegende Erinnerung an eine Stunde voll Mutterseligkeit ließ es nicht zu.

»Eine vortreffliche und glückliche Namenwahl allerdings!« bestätigte mein Vater mit Nachdruck.

»Ei ja doch!«

»Freilich, freilich. Sträube dich immerhin, Trudchen; aber sieh, du bist zuletzt doch viel zu verständig, um einer augenscheinlichen Tatsache widersprechen zu wollen.«

»Geh doch!«

»Im Gegenteil, ich komme erst angerückt, liebes Kind, und zwar an der Spitze einer ganzen Armee schwerbewaffneter Gründe.«

»Verschone mich! Ich bin wahrhaftig nicht zum Scherzen aufgelegt.«

»Ich ebensowenig. Zwar hat, wie du weißt, eine gütige Fee... nein, zum Henker mit den Feen! 's ist keltisch-französisches Lumpenzeug ... also eine Elfin hat mir, wofür den Göttern Lob und Preis sei, den Humor als unzerstörbares Angebinde in die Wiege gelegt, allein dessenungeachtet werde ich wissenschaftliche Gegenstände stets mit dem gebührenden Ernste behandeln.«

»Du lieber Gott, als ob der Name Michel etwas mit der Wissenschaft zu tun hätte.«

»Siehst du, jetzt paßt mal wieder Schillers Satz: Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort – wie angemessen auf dich, liebe Alte ...«

Der Widerspruch in dieser Äußerung wirkte so komisch, daß ich ums Haar in ein lautes Lachen ausgeplatzt wäre. Meine Mutter empfand den prickelnden Reiz ebenfalls und vermochte ihm nicht ganz zu widerstehen.

Ihr Lachen hatte etwas Anmutiges, Ach, alles an ihr war anmutig – sogar ihr Schmollen.

Mein Vater in seiner demonstrativen Laune fuhr dozierend fort:

»Es ist festgestellt und meines Wissens auch gar nirgends bestritten, daß das altdeutsche Wort michel durchaus identisch ist, nämlich dem Sinne nach, mit unserm norddeutschen Wort stark, gewaltig, mächtig, riesenhaft. Bei unseren mittelhochdeutschen Dichtern finden sich die Belegstellen genug dafür. So z. B. sagt Hartmann von der Aue, der Wieland des Mittelalters, in seinem Iwein ›der michel Knabe‹ und in seinem Crek ›der michel Mann‹, wo er nach unserm heutigen Sprachgebrauch in jenem Falle gesagt hätte ›der Riesenknabe‹, in diesem der ›Riese‹. Ausdrücke, wie ›es nimmt mich michel wunder‹ für ›es nimmt mich gewaltig wunder‹ und andere dergleichen, wo sich mit dem Wort michel immer der Begriff des Bedeutenden, Starken, Gewaltigen, Ungewöhnlichen verbindet, sind in unserer mittelhochdeutschen Literatur gang und gäbe. Ich werde dir das bei nächster Gelegenheit an Dutzenden von Beispielen schwarz auf weiß beweisen. Und so wäre denn dargetan, wie ganz irrtümlich deine Meinung war, der Name unseres Jungen sei von mißlicher Bedeutung und übler Vorbedeutung. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil, der Name Michel ist von sinniger Bedeutung, voll glücklicher Vorbedeutung, ist ein rechter Kern- und Ehrenname. Die Sache ist dir jetzt klar, völlig klar, nicht wahr?«

»O ja, sie ist mir klar, völlig klar, das heißt, ich weiß jetzt, daß mein armer Junge den abscheulichen Namen nicht loswerden soll.«

Mein Vater zuckte die Achseln, und meine Mutter versank in eine schwermütige Träumerei. Was mich angeht, so wurde es mir in meinem Laubversteck allmählich bedenklich ungemütlich und langweilig zumute. Ich durfte es aber doch nicht wagen, dasselbe zu verlassen, da mein Rückzug kaum unbemerkt bewerkstelligt werden konnte. An einem und demselben Tage als weggejagter Lyzeist und als Horcher zu erscheinen, mochte ich nicht auf mich nehmen. Die Unbehaglichkeit meiner Lage zu erhöhen, hing auf ein paar Armlängen weit ein prachtvoller Apfel lockend vor mir. Einladender konnte der weltberühmte Apfel, womit Frau Eva ihren Gemahl weiland im Paradiese betörte, unmöglich ausgesehen haben. Die Beute zu ergattern, reckte und dehnte ich meine Gelenke, als wären es die einer Katze; aber umsonst, denn zu weit über den Ast hinaus durfte ich mich nicht wagen, weil derselbe gerade über dem Gartentische stand und demnach die Entdeckung des »enfant terrible« durch eines der elterlichen Augen fast unausbleiblich gewesen wäre.

Während ich so die Qualen des armen Tantalus, welche mich in der Objektivität, womit der alte Rektor bei Gelegenheit davon gesprochen, ziemlich ungerührt gelassen hatten, zu meinem großen Mißvergnügen subjektiv durchkostete, hob drunten das Gespräch wieder an.

Mein Vater blätterte in seinen Akten, meine Mutter saß mit gesenktem Haupte und über den Knien gefalteten Händen. Sie mußte sich tief in ihre Gedanken und Erinnerungen versenkt haben, denn sonst hätte sie nicht so lange müßig sitzen können. Mit einem schweren Seufzer sagte sie jetzt: »Ich bleibe dabei, lieber Fritz; der Knab' war von Anfang an zum Unglück bestimmt, von der Taufe, von der Geburt an, ja schon ...,«

Sie stockte errötend und brach ab.

»Erinnerst du dich noch jener Mainacht,« fuhr meine Mutter zögernd und leise fort – »wo uns das furchtbare Gewitter im Park überraschte? Ich war dir entgegengegangen, du kamst spät. ...«

Ein heller Schimmer ging über die Stirne meines Vaters. Er blickte mit zärtlichem Lächeln zu der Mutter hinüber, schob den Aktenfaszikel zurück und begann nach einer alten Melodie, die er häufig pfiff und summte, mit seiner sonoren Stimme halblaut zu singen:

»Unter der Linden
An der Heide
Die Blumen auf dem grünen Grund
Sie mögen es künden,
Wo wir beide
Gefeiert unsrer Liebe Bund.
Vor dem Wald im stillen Tal
– Tandaradei –
Sang dazu die Nachtigall.«

»Pst, Pst!« machte meine Mutter, ganz Purpur im Gesicht und die Hände abwehrend gegen den Vater ausstreckend. Dann setzte sie, wie um ihre Verlegenheit zu bemeistern, rasch hinzu:

»Es war auch gar keine Linde.«

»Keine Linde, Trudchen? Was denn?«

»Ein Traubenkirschbaum.«

»Welche Idee!«

»Ja, dir und deinem Walter von der Vogelweide zum Trotz, es war ein Traubenkirschbaum.«

»Opposition muß sein! Aber du machst mir nichts weis, liebes Kind. Ich weiß noch alles, als wär's gestern abend gewesen.«

»Still! ich bitte dich.«

»Warum denn? Ich hatte noch spät am Abend nach dem Girlitzer Pachthof hinüber gemußt. Du hattest mir versprochen, mir bis zur kleinen Hinterpforte des Parkes entgegenzukommen, und du hieltest Wort. Du warst damals erst seit acht Tagen, was du noch heute bist, mein Goldtrudchen, mein Herzensweib. Als ich das Pförtchen hinter mir hatte, sah ich dein weißes Kleid unter den tiefgesenkten Ästen der Linde hervorschimmern ...«

»Des Traubenkirschbaums, willst du sagen, lieber Fritz.«

»Es war eine wundervolle Nacht, lau, lind, voll rauschender Düfte. Im Waldgrund drunten schlugen zärtlich die Nachtigallen, silbern lugte dann und wann der Mond durch tauschweres Gewölke; es war, als hörte man die große Lebensmutter Natur wie in glücklichen Träumen leise aufatmen; fernab ein Wetterleuchten, sonst aber alles heilige Ruhe.«

»Aber das schreckliche Gewitter, welches so rasch heranzog ...«

»Was tat es? Mir war es, wie vormals den frommen Griechen, nur ein günstiges Omen mehr, daß Zeus donnerte. Du warst so schön und hold und gut. Duftstreuend rauschte uns zu Häupten die blühende Linde ...«

»Der Traubenkirschbaum! Soll ich denn immer unrecht haben?«

»O, es war eine Linde, ganz gewiß, Kind. Mir fielen ja dabei alle die herzigen Worte ein, welche unsere Minnesänger und unsere alten Volkslieder zum Lob und Preis des deutschen Lieblingsbaumes gesungen und gesagt haben. Denn sieh, Schatz, es ist eine ganz dumme Meinung, wenn man glaubt, die Eiche sei der alte Lieblingsbaum unseres Volkes gewesen. Dieses Vorurteil wurde erst durch die Klopstocksche Bardenschule aufgebracht. Unsere echte alte Dichtung dagegen feiert immer und überall die Linde. Eine Linde beschattete die Burghöfe, unter einer Linde tanzte die Dorfjugend. Die herzförmige Form der Blätter dieses Baumes, seine bergende Schattenfülle, sein süßer Duft machte ihn recht eigentlich zum Baum der Liebenden ...«

»Das ist alles recht gut und schon, lieber Fritz, aber es war doch keine Linde – die Linden blühen gar nicht so frühzeitig – sondern, wie gesagt, ein Traubenkirschbaum.«

»Nun denn, in's Drei ...« wollte mein Vater auffahren. Aber er besann sich, lachte laut und sagte: »Wahrlich, Schatz, von dir gilt der lateinische Spruch: »varium et mutabile semper feminarum genus« keineswegs; du bleibst beharrlich und charakterfest.«

Und nach einer Weile fügte er mit jenem weichen und zärtlichen Ton, wie nur er denselben in der Brust hatte, hinzu:

»Lindenbaum oder Traubenkirschbaum – einerlei. Er beschattete ein glückliches Paar. War es nicht eine selige Stunde, Gertrud?«

Meiner Mutter Stuhl hatte sich im Verlaufe des Gespräches allmählich so weit von dem meines Vaters entfernt, daß sie auf der entgegengesetzten Seite des Gartentisches saß. Als aber jetzt der Varer ihr über den Tisch hinüber die Hand hinbot, lag in dieser Gebärde doch so viel Magnetismus, daß die Gute nicht umhin konnte, ihre Linke in die dargebotene Rechte des Gatten zu legen, wenn auch mit etwelchem Zögern.

»Denkst du noch der Stunde, Trudchen?« fragte mein Vater. »War sie nicht schön?«

Meiner Mutter Stuhl folgte dem sanften Zwange, welchen die Hand meines Vaters ausübte, und näherte sich diesem. Aber nur noch einen Schritt von demselben entfernt, stand er wieder still.

»Ist es nicht eine schönste Stunde einer schönen Zeit gewesen, Trudchen?« wiederholte mein Vater.

»Doch, doch, Alterle,« gab meine Mutter zur Antwort. »Aber Recht muß trotzdem Recht bleiben: es war ein Traubenkirschbaum, verlaß dich drauf. Ich habe noch lange Zeit nachher seines eigentümlichen Duftes nicht vergessen können.«

»Ja, liebes Kind, Lindenblütenduft ist ebenso süß als stark.«

»Lindenblütenduft? Geh doch mit deiner ewigen Linde!«

»Na, sei es, dir zu Gefallen, Trudchen. Also es war ein Traubenkirschbaum ...«

»Traubenkirschbaum oder Lindenbaum, meinetwegen was du willst. Aber eins weiß ich.«

»Was?«

»Daß es ein Unglücksbaum war.«

»Ein Unglücksbaum? Nun lieber gar!«

»Ja, ein Unglücksbaum.«

»Aber wie kannst du die Erinnerung an jene Stunde des Glückes mit einer solchen Vorstellung verknüpfen?«

»Es war auch eine unglückliche Stunde.«

»Me miserum! Vor einem Augenblick sagtest du ja das bare Gegenteil.«

»Was tut man nicht alles einem lieben Manne zu Gefallen, um ihm jeden Schatten von Grund zu entziehen, zu glauben oder gar zu sagen, man sei eine Widerbellerin.«

»O! O!«

Nach einer Pause sagte meine Mutter flüsternd:

»Jener schreckliche Donnerschlag, weißt du noch?»«

»Freilich, freilich, und ich wiederhole: Zeus donnerte, es war ein glückliches Omen.«

»Ach nein, lieber Fritz.«

»Warum denn nicht, Trudchen? Wie kann man so unklassisch denken?«

»Siehst du, lieber Mann, ich wurde damals sogleich von trüben Ahnungen erfüllt ... Es hätte auch nicht sein sollen, denn ... nun, ich weiß, was ich weiß, und ... kurzum, es schickte sich nicht.«

»Im Gegenteil, Trudchen,« versetzte mein Vater lachend, »es schickte sich ganz gut, weißt du?«

»Böser Mann,« sagte meine Mutter, ihr glühendes Gesicht an der Schulter meines Vaters verbergend ... »Siehst du, seit unser Knabe zur Welt kam, haben sich alle meine unglücklichen Ahnungen bestätigt. Jene unglückselige Gewitternacht ...«

»Versündige dich nicht, Gertrud. Dein Liebling Jean Paul würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, wie gewaltsam du dich anstrengst, dir eine schöne Erinnerung zu vergällen. Sieh, Kind, das nenne ich eine Sünde. Aber ich weiß, es ist dir damit gar nicht Ernst. Du stellst dich nur so an, weil du heute etwas übriges tun zu müssen glaubtest, um meiner Disputierlust gerecht zu werden. Ich kenne das. Aber komm, es ist Zeit, daß unser trojanischer Krieg für heute ein Ende nehme. Komm, Trudchen, und küsse mich zum Friedensschluß; küsse mich so, wie damals unter der Linde ... nein, unter dem Traubenkirschbaum ... in jener gesegneten Mainacht.«

Meine Mutter wollte abwehrend den Kopf schütteln, aber es ging nicht recht und, wenn auch zögernd, neigte sie ihr schönes Antlitz doch allmählich gewährend dem des Gatten zu.

»Jetzt oder nie!« dachte ich. »Wart', du verdammter Apfel, ich krieg' dich!«

Und mit einer verzweifelten Anstrengung schnellte ich meinen Oberkörper hinter dem Stamm hervor, weit auf den Ast hinaus. Aber meine Hast verdarb alles, mir den Apfelraub und denen drunten noch etwas Besseres.

Der unvorsichtige Stoß meines Armes machte zwar den Apfel fallen, aber leider nicht mir in die Hand, sondern abwärts. Erschrocken hinter den Baumstamm zurückfahrend hörte ich von drunten einen Plumps. Die elterliche Gruppe stob so heftig auseinander, daß die Stühle umgeworfen wurden. Vater und Mutter schrien laut auf, und in diesen Aufschrei mischte sich ein helles Kinderlachen.

Der höllische Apfel war klatschend in das große Tintenfaß auf dem Tisch gefallen und hatte die Gesichter und Kleider meiner Eltern mit schwarzem Naß reichlichst überspritzt.

Ein allerliebstes Mädchen, meine zwölfjährige Schwester Hildegard, kam, den runden Strohhut im Nacken, die dunkeln Locken verworren um die Schultern fliegend, über den Rasenplatz gesprungen, schlug die kleinen Hände zusammen und rief lachend:

»Herr Jesus, Mama, Papa, wie seht ihr aus!«

»Garstig genug, ohne Zweifel,« sagte mein Vater, sich eifrig Stirne und Wangen abwischend und dadurch den Schatten nur noch größer machend. »Wer hätte geglaubt, daß die Reinetten schon so reif wären?«

Dann setzte er hell auflachend hinzu:

»Bei Wodan und Frouwa, Trudchen, du siehst auf und eben einer Schwarzelfin gleich.«

»Aber wenn du erst dich sähest, lieber Alter,« versetzte die Mutter, und beide stimmten sie in das schmetternde Lachen ihres Töchterchens ein.

Unter dem Lärm dieser allgemeinen Fröhlichkeit bewerkstelligte ich unbemerkt meinen Rückzug. Nachdem ich mich an der Hinterseite des Apfelbaumes hatte niedergleiten lassen, machte ich es ohne Umstände wie Seumes Kanadier, der »Europens übertünchte Höflichkeit« nicht kannte und sich »seitwärts in die Büsche« schlug.


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