Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Viertes Kapitel.

Von Frauenhänden und von Gelehrten. – Schulmeisters Fabian. – Der Herr Benefiziat Zipfel. – »Wie alt ist man?« – Das Examen. – Der Freiherr Bodo von Rothenfluh. – Isolde. – Ein Geschäftsgespräch und ein archäologischer Fund.

Wir standen vor einem kleinen Hause, das am Fuße des Hügels in einem Garten lag, welcher früher bessere Tage gesehen hatte. Da war alles verwildert und verwahrlost, von dem Buchs an, welcher vormals die Wege eingefaßt hatte, bis hinauf zu den Bäumen, welche sich längst ihren Feinden, Efeu, Mistel und Moos auf Gnade und Ungnade ergeben hatten. Auf den Beeten wuchs und welkte alles durcheinander wie – im wörtlichen Sinne – Kraut und Rüben. Diese Vernachlässigung schien aber einem Heer von Spatzen, welches sich da tummelte, höchlich zu gefallen. Die frechen, schreienden Diebe gebärdeten sich, als wäre die Gartenwildnis ihre unbestrittene Domäne.

Mein Vater, zwar ein Humorist, aber auch ein Mann der Ordnung, warf einen ziemlich mißfälligen Blick auf Garten und Haus und brummte:

»Da sieht es verteufelt gelehrt aus, bei Wodan und Frouwa! Dem alten Herrn da drinnen täte es gut, wenn er so 'ne Haushälterin hätte, wie die Jungfer Base droben im Pfarrhofe eine ist. Die weiß den Dekan und sein Haus in Ordnung zu halten. Michel, ich rat' dir, wenn du einmal Pfarrer bist, so mach' es nicht dem Herrn Benefiziaten, sondern dem Herrn Dekan nach, hörst du?«

»Jawohl, Vater.«

»Ein Haus, worin keine Frauenhände walten,« fuhr mein Vater belehrend fort, »wird mit der Zeit notwendig zu einem Stall. Die Frauen haben so ziemlich alle den edlen Ordnungssinn, unter den Männern nur sehr wenige. Ja, weibliche Hände im Hause, die schaffen Ordnung, Zierlichkeit, Anmut. Das süße Gefühl der Heimeligkeit ist unter einem Dache, wo es keine Frau gibt, gar nicht denkbar. Deshalb kam es mir auch jederzeit in Klöstern so unheimlich vor, geradezu unausstehlich, schon der ganz eigenen, fatalen Atmosphäre wegen, und ich habe daher nie begriffen, wie Shakespeare seinen Hamlet zur Ophelia sagen lassen konnte: ›Geh in ein Kloster!‹ Das war doch eine starke Zumutung, nicht wahr? Und Ophelia hatte ganz recht, in ihrem darauf folgenden Monolog zu behaupten, der Geist des Prinzen müßte verwirrt sein.«

Mein Vater war nach seiner Art im Begriffe, vom Hundertsten ins Tausendste zu geraten, und so glaubte ich denn, er sei nur in der Zerstreuung, welche in solchen Fällen ihn anzuwandeln pflegte, durch eine Öffnung in der Gartenhecke geschritten, welche vorzeiten durch eine jetzt halbvermoderte, nur noch in einer Angel hängende Gartentüre verschlossen war.

»Du willst doch nicht zum Magister Zipfel, Vater?« fragte ich.

»Allerdings, Junge,« versetzte er, »und du wirst dich gewöhnen, von jetzt an, wenn du von der genannten Person sprichst, nie anders zu sagen, als der Herr Doktor oder der Herr Benefiziat.«

»Aber er ist doch auch Magister.«

»Wohl, aber er hört jene beiden Titel lieber, und er hat das beste Recht darauf.«

»'s ist ein g'späßiger alter Hairle,Hairle, Herrle, süddeutscher (schwäbischer) Provinzialismus. Der Pfarrer heißt in meiner Heimat und weitum der Herr par excellence, »der Hairle.« Vater.«

»Hab Respekt, sag' ich, hab Respekt! Er ist ein sehr gelehrter und sehr braver Herr. Aber der Ordnungssinn hat ihm gefehlt. Darum hat er es mit all seinem Wissen und seiner Ehrlichkeit nicht weiter gebracht als zu dem armseligen Benefizium da, auf welchem er alt geworden. Freilich, wenn er, wie unsere Bauern sagen, besser zu seiner Sach' gehalten hätte, könnte er so rund und rotbackig sein wie der Herr Dekan, aber er ließ alles gehen, wie es eben gehen mochte, wenn er nur mit den Augen in seinen Büchern wühlen konnte.«

»Ja, des Schulmeisters Fabian sagte mir, der Magister ... will sagen, der Herr Benefiziat vergesse ob dem Studieren oft ganz des Essens und tue sehr verwundert, wenn er, der Fabian, merken lasse, daß sein Magen noch nicht so abgerichtet sei.«

»Siehst du, Michel, so welt- und magenvergeßlich kann ein deutscher Gelehrter werden. Lache nicht, Bursch! Es ist leider in deutschen Landen eine stehende Unsitte, über die Gelehrten sich lustig zu machen. Ich meine nicht die Gelehrten, welche an den Höfen scherwenzeln und für Orden- und Titelkram und Pensionen ihr Wissen und ihre Gesinnung feilbieten, sondern die, welche oft in bescheidenster Stellung, ja häufig sogar unter Hunger und Kummer das heilige Vestafeuer der Wissenschaft unterhalten. Wahrlich, mein Knabe, es wird eine Zeit kommen, wo du begreifst, was es für unser Vaterland zu bedeuten hat, daß dieses Feuer rein und hoch lodere. Es ist unser höchster Stolz und Ruhm ... Doch da sind wir an der Haustüre. Warte hier, bis ich dich hineinrufe.«

»Mich? Was soll ich denn da drinnen?«

»Das wirst du sogleich erfahren,« gab mein Vater zur Antwort und ging hinein.

Ich blieb zurück, nicht sehr angenehmen Mutmaßungen überlassen. Am Ende gibt dir der Vater den Magister zum Lehrmeister, dachte ich, und rekapitulierte in der Geschwindigkeit bei mir alles Bedenkliche, was mein sanfter und stiller Kamerad, des verstorbenen Dorfschulmeisters Fabian, der zum Benefiziaten »aufs Studieren ging«, von den Eigenheiten des alten Hairle zu erzählen wußte.

Die beiden kleinen Fenster der Stube im Erdgeschoß, welche das Studierzimmer des Magisters bildete – diese beiden Fenster, durch deren halberblindete, kleine, runde, in Blei gefaßte Scheiben ich später über Ciceros »De officiis« oder Weckherlins hebräische Chrestomathie hinweg so manchen sehnsüchtigen Blick in den verwilderten Garten hinausschickte – standen offen, und ich hörte von drinnen die knarrende Stimme des Benefiziaten die Begrüßung meines Vaters beantworten. Näher tretend sah ich den alten Hairle in einem sehr defekten Großvaterstuhl an seinem altfränkischen Schreibtische sitzen, der mit einem Chaos von Büchern und Skripturen bedeckt war. Folianten und Quartanten standen in vom Alter gebräunten Gestellen von Tannenholz an allen Wänden bis zur Decke hinauf. Selbst der große Kachelofen war mit solchem gelehrtem Rüstzeug beladen. Außer ein paar Stühlen, deren Beine nach der ländlichen Sitte der Gegend vorzeiten einmal weißgetüncht gewesen, war sonst kein Möbel in der Stube zu erblicken. Doch ja, dort am Fuße eines der Büchergestelle stand noch ein kleiner Tisch, und hinter demselben saß mein Freund Fabian, die Augen auf ein vor ihm liegendes Buch geheftet. Er sah verstohlen auf und grüßte mich mit seinen guten braunen Augen, die sich aber sofort wieder in das Buch senkten. Der arme Bursch kam mir mit seinem bleichen, resignierten Gesicht wie ein in die Höhle eines Zauberers Eingesperrter vor, welcher jede Hoffnung auf Befreiung aufgegeben hat. Und doch war der Fabian eigentlich ein munterer, sogar lustiger Junge, der bei meinen und Bertholds mutwilligen Streichen nicht selten der dritte im Bunde gewesen ist. Aber freilich

Er hatte früh das strenge Wort gelesen,
Dem Leiden war er, war dem Tod vertraut ...

Er hatte seinen Vater sterben sehen und gehörte zu den Kindern, die nie das Haupt erheben können, ohne den Druck der Armut darauf zu fühlen. Seine Mutter lebte kümmerlich von dem Ertrag eines Miniaturgütchens, welches sie einst ihrem seligen Manne zugebracht hatte und das sie jetzt mit eigenen Händen bebaute, wobei ihr Fabian getreulich half. Wenn er abends die Bücher zugemacht hatte, ging er mit der Sichel hinaus, um an den Feldrainen Gras für die beiden Kühlein der Mutter zu holen. Wie oft hab' ich ihm Reisig aus dem Wald oder Heubündel von der Wiese am Mühlbach oder Garben vom Acker auf dem »Bilges« heimtragen helfen, daß er schneller damit fertig würde und noch ein Abendstündchen mit uns spielen könnte! Denn wir alle hatten den Fabian lieb. Er war beim ganzen Dorf in hoher Gunst, und es galt als ausgemacht, daß er 'mal ein Hairle werden würde, der alle anderen ausstechen müßte. Ihren Fabian eines Tages Primiz halten zu sehen, das war nämlich auch das Ideal seiner Mutter, und als der Benefiziat sich erboten hatte, den talentvollen Knaben zu unterrichten, da sah die gute Frau dieses Ideal im Geiste schon verwirklicht. Ihr einziges Kind als Hairle sehen, das hieß doch wohl den Gipfel mütterlicher Wünsche erreichen. In dieser Hoffnung mühte sie sich unverdrossen Tag und Nacht, in dieser Hoffnung war sie heiter und guter Dinge. Ich möchte sagen, die geistliche Zukunft ihres Kindes habe einen alles verklärenden Schein in die oft so trübe Gegenwart dieser trefflichen Frau geworfen. Sie war eine einfache Bäuerin, aber der religiöse Gedanke, welcher sie beseelte, hatte etwas zugleich Kindliches und Erhabenes. Ist ja doch, was unsere Titanen des Materialismus so leichtsinnig übersehen, die Religion überhaupt der Idealismus des Volkes. Ich erinnere mich, daß der Fabian und ich in unseren Kinderjahren in dem niedrigen Stübchen seiner Mutter öfter Pfarrer und Ministrant spielten, wie das in katholischen Gegenden unter den Kindern häufig vorkommt. Fabians frühreifer und überlegener Geist imponierte mir schon damals so sehr, daß ich ihn, seiner Bescheidenheit zum Trotz, stets nötigte, den Priester zu machen, und mich mit der Rolle des Chorknaben begnügte. Bei einer solchen Gelegenheit stimmte mein Spielkamerad das »Gloria in excelsis deo!« so schön, ich möchte sagen so feierlich rührend an, daß seine Mutter ihn unter strömenden Tränen umarmte. Ich habe vielleicht nie wieder einen so reinen Ausdruck verzückter Andacht gesehen, wie damals in dem Gesichte der guten Frau, welche in jenem Augenblicke die Erfüllung ihres Muttertraumes schon vorwegnahm und deshalb glücklicher war als alle Königinnen der Erde. Ist doch mir selbst wohl nie wieder so tiefernst andächtig zumute gewesen wie damals bei jenem Spiele.

Nachdem mein Vater eine Weile mit dem Magister verhandelt hatte, kam er ans Fenster und rief mich hinein. Ich ahnte, daß mein Los entschieden sei und daß ich bald neben dem armen Fabian an dem kleinen Tische sitzen würde. Daher wollt' ich möglichst keck auftreten, aber ich weiß nicht, wie es kam, der Vorsatz der Keckheit verschwand mir, als ich beim Eintreten unter der hohen, tiefgefurchten Stirne des alten Hairle hervor seine klaren blaßblauen Augen über den zwei ungeheuer großen Gläsern seiner in schwarzes Schildpatt gefaßten Brille forschend auf mich gerichtet sah.

Der Herr Benefiziat saß, den Oberkörper in eine sehr fragmentarische Soutane gehüllt, mit gekreuzten Armen in seinem Großvaterstuhl. Sein Untergestell steckte in einem schwarzen, das heißt vorzeiten schwarz gewesenen, jetzt aber mehr ins Rötliche spielenden kurzen Beinkleid, dessen Kniebänder nachlässig offen waren, so daß ihm die groben schwarzen Strümpfe ungeniert auf die niedergetretenen Schuhe herabschlotterten, von denen nur noch der eine etwas, was einer Schnalle gleich sah, aufzuweisen hatte. Seine kleine Gestalt war nicht nur mager, sondern geradezu spindeldürr, und sein Gesicht mit den vergilbten Wangen, dem spitzen Kinn und der dicken Knollennase konnte für ausgesucht häßlich gelten. Dennoch hatte das verschrumpfte Männchen auf seiner Stirn und in den Augen etwas, was nicht nur einem kecken Knaben, sondern auch anderen Leuten Achtung einflößen konnte und wirklich einflößte.

Es ist, denke ich, eine allgemeine Erfahrung, daß das Antlitz solcher, welche sich unausgesetzt mit Dingen des Geistes befassen, einen Gesamtausdruck oder wenigstens einen Zug gewinnt, welcher selbst dem Rohesten einen gewissen Respekt aufzwingt. Man kann sagen, das Ideal lasse auf den Zügen seiner Priester einen Abglanz zurück, welchen die Menschen der gemeinen Wirklichkeit nicht ohne eine Art scheuer Ehrfurcht zu erblicken vermögen. Auch auf der Stirne des Magisters Zipfel lag mitunter etwas von diesem Abglanz. Man konnte den guten Mann aller seiner Pedanterei ungeachtet und trotzdem, daß ihm schon sein Name den Stempel der Skurrilität aufdrückte,»Zipfel« ist in meiner Heimat gleichbedeutend mit »Latsche«, »Lappe«, »Löhle« oder »Tolpatsch«, welcher letztere Ausdruck, als ein bekannter, dem hochdeutschen Leser einigermaßen andeuten kann, was damit gemeint sei. Auch der gleichbedeutende Ausdruck »Heimpel« kommt vor. nicht lächerlich finden, wenigstens nicht immer. »Da ist er, hochwürdiger Herr,« sagte mein Vater bei meinem Eintreten zum Benefiziaten.

Ich begrüßte mit möglichster Höflichkeit den gelehrten Anachoreten, denn für einen solchen konnte der Benefiziat gelten, da er seine Höhle nie, aber auch gar nie verließ, ausgenommen die paarmal in der Woche, wo er in der Kirche seine Frühmesse lesen mußte. Man sah ihn dann in seinem schlotterigen Anzug mit einer Geschwindigkeit, die etwas Komisches hatte, über die Wiese herüber und den Fußweg durch die Weingärten hinauf huschen, – »do witscht onser Fiziätle hi,« charakterisierten unsere Bauern den Gang des alten Hairle – und der Mesner und die Ministranten hatten, wie ich aus eigener Erfahrung wußte, ihre liebe Not, den alten Herrn mit Alba, Cingulum, Stola und Meßgewand einigermaßen anständig auszustaffieren. Alles war ihm zu weit und zu lang, und die grenzenlose Gleichgültigkeit, womit er sein Äußeres behandelte, sowie seine Zerstreutheit führten oft komische Intermezzi herbei, welche schlecht zu dem Orte stimmten, wo sie stattfanden. Ich hatte in der Zeit von meinem achten bis zwölften Jahre, wo ich Ministrantendienste verrichtete, mehrere solcher Vorkommnisse mit angesehen. Der Benefiziat aber hatte wahrscheinlich meine werte Person damals nie sonderlich beachtet und jetzt jedenfalls schon lange vergessen. Seine Messen waren um ihrer Kürze willen berühmt, und böse Zungen wollten sogar wissen, es sei dem guten Hairle einmal begegnet, daß er das Hauptstück dieses Kultaktes, die Konsekration, total vergessen oder, wie besagte böse Dorfzungen sich ausdrückten, überhupft habe. Möglich ist das immerhin, denn der Mann war ein Sonderling jeder Zoll. Er lebte ganz einsiedlerisch. Nur die Armen kannten den Weg zu dem verwahrlosten Benefiziathaus. Er gab ihnen, solange irgend etwas Gebbares da war; einmal im Winter einem fechtenden Handwerksburschen sein einziges Paar Schuhe von den Füßen weg, was aber der Bursch nicht annahm, weil er, wie er nachher im Dorfe erzählte, es doch nicht habe übers Herz bringen können, den alten g'späßigen Hairle barfüßig zurückzulassen. Die Grundstücke, deren Ertrag das Benefizium des Magisters ausmachten, hatte er an den Müller verpachtet. Von der Mühle herüber brachte ihm ein alter Knecht das Essen, und die Müllerin schickte ihm auch von Zeit zu Zeit einen neuen Anzug und die nötige Wäsche. Sie durfte aber das Benefiziathaus so wenig betreten als irgend eine andere dem weiblichen Geschlecht angehörende Person. Der Magister hegte eine wahre Idiosynkrasie gegen die schönere und bessere Hälfte der Menschheit. Er gebrauchte, wenn er von den Frauen sprechen mußte, statt des in unserer Gegend heimischen ländlichen Ausdrucks »Weibesbilder«, den Ausdruck »Weibesstücker«, und er sprach das Wort nur mit unsäglicher Verachtung aus.

Nachdem mich der Herr Benefiziat, ohne weiter von meiner Begrüßung Notiz zu nehmen, eine gute Weile über seine Brillengläser hinweg fixiert hatte, schob er mit seinen knöchernen Fingern die Brille weiter die Nase hinauf und fragte mich mit seiner Raspelstimme:

»Wie alt ist man?«

»Man ist fünfzehn Jahre alt, Herr Benefiziat,« gab ich zur Antwort.

Mein Vater warf mir einen strengen Blick zu. Die mir unwillkürlich entwischte Parodie der magisterlichen Anredeform »man« gefiel ihm nicht.

Der Magister griff mit Daumen und Zeigefinger seiner Rechten in die kolossale Dose von Birkenrinde, welche geöffnet neben ihm auf dem Tische stand, und beförderte die Prise sehr umständlich in seine geräumige Nase. Dann sagte er:

»Man ist ja recht groß und stark für sein Alter. Aber da man volle fünfzehn Jahre alt ist, dürfte, könnte, sollte man in disciplinis grammaticis recht ordentlich beschlagen sein, und dieweilen man gerade bei der Partikula ›man‹ ist, so kann man mir wohl sagen, welcher Redeformen der Lateiner und welcher der Grieche sich bedient, um besagte particulam teutonicam auszudrücken?«

Diese grammatische Aufgabe zu lösen, war nun eben keine Hexerei, und deshalb war ich so übermütig, meine Antwort möglichst genau in die pedantische Redeweise des Magisters einzukleiden. Allein der übermütige Kitzel ließ bedeutend nach und verschwand zuletzt völlig, als der alte Herr in dem Examen, welchem er mich unterwarf, Schritt für Schritt in immer schwierigere Materien eintrat. Er wußte die examinatorischen Daumschrauben zu handhaben, daß er mir bald das letzte Tröpflein meines philologischen Wissens auspreßte. Solange das Examen auf lateinischem und griechischem Gebiete sich bewegte, ging es noch so ziemlich leidlich; als aber das Hebräische an die Reihe kam, da lief, wenn ich mich eines heimatlichen Ausdrucks bedienen darf, das Fäßlein meines Wissens »kuonig«, das heißt spärlich und trübe, sehr spärlich und sehr trübe.

Ohne eine Miene zu verziehen, überschüttete mich der alte Hairle mit einem langsam, aber stetig fallenden Wolkenbruch von Fragen über Kamez, Pathach und Saegol, über Kamez chatuph, Cholem und Kübbuz. Diese parierte ich noch so so, la la, aber mit der mysteriösen Lehre vom Scheva haperte es schon bedeutend, und was Dagesch forte und Dagesch lene betraf, so stellte es sich heraus, daß meine Vorstellungen von diesen Dingen nur aus einem grauenhaften Wirrwarr bestanden. In den schauerlichen Regionen der Praefixa und Suffixa fuhr ich mit meinen Antworten sozusagen nur noch wie mit der Stange im Nebel herum, und als der erbarmungslose Inquisitor mich vollends in die Polargegenden der Kal, Niphal, Pihhel, Pühhal, Hiphil und Hithpahhel führte, da ergab ich mich auf Gnade und Ungnade; denn es flimmerte mir grün und gelb vor den Augen, und kalter Schweiß stand mir auf der Stirne.

Wenn ich eine verkehrte oder gar keine Antwort gab, und beides war häufig der Fall, so stieß der Magister ein schnarrendes »Proh dolor« oder »Me hercule!« aus und sah mit einem wunderlichen Kopfruck nach dem Fabian hinüber. Der mußte dann statt meiner die Frage beantworten, und er konnte es jedesmal ganz prächtig. Dabei baten mich die Augen des guten Jungen um Verzeihung, daß er in der unangenehmen Lage sei, mehr zu wissen als ich. Aber offen gestanden, ich hätte ihn zu jener Stunde gern erwürgt und den höllischen Magister dazu. Es zuckte mir ordentlich in den Fäusten. Aber dabei blieb es auch, denn der alte Hairle hatte mir gehörig imponiert.

Als er endlich für gut befunden, mich von der Folterbank loszubinden, legte er das eine Bein über das andere und blickte tiefsinnig auf das Bruchstück nieder, welches eine Schuhschnalle vorstellte. Meiner Verwirrung ungeachtet las ich auf der Stirne des Mannes den (übrigens in Fraktur geschriebenen) Gedanken:

»Was für ein fünfzehnjähriges Ungeheuer von Ignoranz ist das?«

Mein Vater, der sich bislang in Geduld gefaßt, machte jetzt eine Bewegung, welche andeutete, daß er mit der Sache zu Ende zu kommen wünschte. Wahrscheinlich war es dem Guten in der gelehrten Höhle nicht minder unheimlich als mir.

»Hm, Herr Konsulent,« sagte Dominus Zipfelius.

»Sie meinen, Herr Benefiziat, der Bursch da, der Michel, wisse recht vieles, nämlich – nicht?« fragte mein Vater.

»Multa – permulta – plurima!« schnarrte der Benefiziat, jede Pause dieses Klimax mit einer gewaltigen Prise ausfüllend.

»Sie haben recht, hochwürdiger Herr; der Schulsack des Burschen zählt eine Menge von Rissen und Löchern.«

»Recte, rectissime, domine reverendissime. Man könnte sogar behaupten, der fragliche Schulsack sei nur ein Loch.«

»Um so mehr ist es an der Zeit, denselben tüchtig zu flicken, Herr Benefiziat, und Sie sind der rechte Mann dazu.«

»Hm,« machte der Alte, und zu mir gewendet, fragte er:

»Will man mir dabei helfen? Will man sich entschließen, fürohin eine vitam probam ac diligentem zu führen, he?«

»Ich will's versuchen, Herr.«

»Bene optime! Nicht zu viel versprechen, aber desto mehr halten. So ist's recht, so gefällst du mir.«

»O weh,« dachte ich, »die Sache ist richtig! Er spricht nicht mehr per ›man‹ mit mir, sondern duzt mich; er betrachtet mich also schon als seinen Schüler.«

In der Tat, die Sache wurde durch eine kurze Verhandlung zwischen meinem Vater und dem Benefiziaten vollends in Richtigkeit gebracht. Schon am Nachmittag sollte ich meinen Lernkurs im Benefiziathause antreten.

Als wir uns endlich verabschiedet hatten und durch den Garten heimwärts gingen, atmete ich ordentlich neu auf.

»Das ist ein fürchterlicher Mensch, der Benefiziat,« sagte ich.

»Ah, gelt, der hat dich tüchtig in die Klemme gebracht, Michel?« antwortete mein Vater lachend.

»Was der für Augen machen kann!«

»Er kann noch mehr als Augen machen, lieber Junge. Hast du bemerkt, wie gründlich der Fabian überall Bescheid wußte, wo du als Pfuscher und Stümper dastandest? Der Fabian ist ein trefflicher Bursch. An dem kann man sehen, welcher Sporn die Armut bei edlen Naturen ist. Befreunde dich recht innig mit dem Fabian, bring ihn recht oft zu uns ins Haus und, hörst du, Michel? zeig im Wetteifer mit ihm, daß du auch nicht auf den Kopf gefallen seiest. Per aspera ad astra, lautet der alte gute Spruch.«

Da der Vater im Dorf ein Geschäft hatte, gingen wir an der Südseite des Kirchenhügels hin und hatten bald die erste Häusergruppe vor uns. Pferdegetrappel machte uns umschauen, und wir sahen die vielfach gewundene schmale Straße, welche nach der Stadt hinabführt, ein Gefährt heraufkommen, in welchem zwei Personen saßen. Beim Näherkommen desselben erkannten wir den offenen Jagdwagen des Freiherrn, welcher die zwei stolzen Rappen eigenhändig lenkte. Er zog die Zügel an und begrüßte meinen Vater, aber nicht in der gewohnten jovialen und kordialen Manier, sondern trocken und mit einer gewissen mürrischen Betonung, welche dem mißmutigen Ausdruck seines Gesichtes entsprach.

In seiner gewöhnlichen Verfassung war dieses Gesicht nichts weniger als mißmutig. Zwar verlieh ihm ein gewaltiger Schnurrbart, dessen stark ergraute Enden bis auf die Brust seines Eigentümers herabfielen, etwas Martialisches, und es stimmte damit die ganze Haltung des Mannes überein, welche deutlich bekundete, daß derselbe »Dienst gesehen«, ja sogar getan habe und nicht nur auf dem Paradeplatz; allein daneben trugen die Züge des Freiherrn das Gepräge einer gutmütigen Offenheit und einer gewissen, ich möchte sagen jägermäßig »biderben« Lebenslust, die nicht nur sich selbst, sondern auch anderen das Dasein möglichst leicht und gemütlich zu machen liebte. Seltsamerweise waren aber in diesem wettergebräunten Jägergesicht auch wieder einige Linien, die auf andere Stimmungen und Neigungen hinwiesen. Zwischen den früher rötlichblond gewesenen Brauen seiner dunkeln Augen lag eine Falte, die auf Jähzorn und jache Entschlüsse deuten mochte, und so weit der Mund unter dem überhängenden Schnurrbart sichtbar war, verriet die Schwingung der Lippen etwas wie gelehrten Eigensinn. In der Tat war der Freiherr Bodo von Rothenfluh nicht nur ausgedienter Offizier, großer Jäger und vortrefflicher Landwirt, sondern auch ein heftiger Altertümler. Wenigstens bildete er sich ein, das letztere zu sein, und zwar gebärdete er sich bei jeder Gelegenheit als erklärter Keltomane. In dieser Eigenschaft lebte er in ewiger Fehde mit meinem Vater, zu welchem er sonst nicht als Herr zum Diener, sondern vielmehr als Freund zum Freunde stand, der aber der freiherrlichen Keltomanie eine ebenso hartnäckige Teutomanie entgegenstellte.

Der Freiherr hatte die schöne Herrschaft Rothenfluh von einem kinderlosen Oheim väterlicher Seite geerbt, noch bei dessen Lebzeiten. Dieser Oheim, von welchem später die Rede sein wird, lebte einsam auf einem alten Felsenschloß in den Schweizeralpen, wo die Familie ebenfalls ein Gut besaß. Von dorther stammten eigentlich die Herren von Rothenfluh, welche, zur Reformationszeit dem alten Glauben streng anhänglich geblieben, damals vor dem neuen aus ihrer ursprünglichen Heimat entwichen waren und sich im südwestlichen Deutschland angesiedelt hatten. Von dem alten Freiherrn erzählte man sich wunderliche Dinge und jedenfalls war er ein Sonderling. Vor siebzehn oder achtzehn Jahren hatte er sich plötzlich in die Schweiz zurückgezogen und jeden Verkehr mit seiner Familie abgebrochen. Bevor er ging, trat er die deutsche Herrschaft seinem Neffen Bodo förmlich ab.

Dieser hatte bis dahin bei einem reitenden Jägerregimente gestanden, in welchem er unter den Rheinbundstruppen mehrere der napoleonischen Feldzüge und dann auch die Befreiungskriege gegen Napoleon mitgemacht; letztere wohl nicht sehr begeistert, denn er war ein standhafter Verehrer des Schlachtenmeisters, der ihn zum Ritter der Ehrenlegion ernannt hatte. Neben diesem Orden hatten sich noch andere auf seiner Brust angesammelt, denn seine persönliche Tapferkeit wie seine militärischen Talente waren anerkannt. Er war noch nicht lange zum Oberstwachtmeister vorgerückt, als ihm das noch nicht so bald erwartete Glück zufiel, daß ihn der wunderliche Oheim zum Besitzer des weitaus größeren und einträglicheren Teils der Familiengüter einsetzte. Er quittierte den Dienst. Auf seinem neuen, ihm bis dahin so ziemlich fremd gewesenen Besitztum angelangt, traf er meinen Vater unter dem Titel eines Konsulenten als obersten Verwalter der Herrschaft. Beide Männer waren offene, ehrliche, liberale Naturen, beide hatten sich, jeder in seiner Weise, tüchtig in der Welt getummelt, und da überdies der blühende Zustand der Herrschaft die administrativen Gaben und juristischen Kenntnisse meines Vaters augenscheinlich bezeugte, so entspann sich zwischen dem neuen Besitzer und seinem ersten Beamten bald eine aufrichtige Freundschaft.

Dieses gute Verhältnis wurde noch traulicher und dauernder durch den Umstand, daß die beiden nicht mehr eben jungen Junggesellen zu gleicher Zeit mit zwei jungen Mädchen sich verbanden, welche Herzensfreundinnen waren und blieben.

In einem romantischen Tal unserer Berge lag und liegt noch jetzt das Nonnenkloster Gnadenbrunn. In den Kriegstrubeln hatte das Kloster, wie die ganze Gegend, viel gelitten, und hatten daher die guten Schwestern, ihre Existenzmittel zu vermehren, sich genötigt gesehen, ein Pensionat zu errichten. Dutzende von Töchtern vermöglicherer Familien von nah und fern erhielten in diesem Pensionat ihre Erziehung. Bei Gelegenheit eines großen Kirchenfestes hatten der Freiherr und mein Vater im Sprechzimmer des Klosters die beiden Freundinnen kennen gelernt, die sie bald nachher als ihre Frauen heimführten. Am nämlichen Tage feierten sie ihre Hochzeit. Wie um die zwischen den beiden Familien waltende Harmonie zu bekräftigen, gab dann in einer und derselben Woche die Freifrau ihrem Gatten seinen Sohn Berthold und die Frau Konsulentin dem ihrigen seinen Sohn Michel. Ja, drei Jahre später war der freundliche Zufall noch pünktlicher, denn in einer und derselben gesegneten Mittagsstunde brachte mir der Storch mein Schwesterlein Hildegard und dem Berthold sein Schwesterlein Isolde. Diesen sagenberühmten keltischen Namen hatte nämlich der Freiherr seinem Töchterchen gegeben, im ausdrücklichen Gegensatz zu dem echtgermanischen, welchen mein Vater dem seinigen beilegte.

Aber es muß damals eine recht traurige Zeit auf dem Schlosse gewesen sein, denn die Freifrau starb in ihrem zweiten Wochenbette. Der Freiherr brauchte nicht erst den Wunsch auszusprechen, meine Mutter möchte sich seiner mutterlosen Kinder annehmen; sie hatte das schon von selber getan. Berthold und sein Schwesterlein lebten in unserem Hause, bis jener elf und diese acht Jahre alt war. Dann erhielt Isolde eine Gouvernante, und ihr Bruder kam mit mir aufs Lyzeum, da der Freiherr, welcher sich nicht wieder verheiratet hatte, von einer hofmeisterlichen Erziehung seines Sohnes nichts wissen wollte. Meine Schwester Hildegard nahm an dem Unterrichte teil, welchen Isoldes treffliche Erzieherin dieser erteilte. Die Freundschaft der Eltern pflanzte sich in ihren Kindern fort, und wie Berthold und ich, so waren Isolde und Hildegard ein Herz und eine Seele. Isolde insbesondere hatte sich gewöhnt, meine Mutter auch für die ihrige anzusehen. Sie nannte sie auch so, und ihr Vater pflegte, wenn das Kind etwas von ihm verlangte, zu sagen: »Geh erst deine Mutter, die Frau Konsulentin, fragen.«

Isolde war in ihrer körperlichen Entwickelung weiter vorgeschritten als meine Schwester. Das Kindliche an ihrer Gestalt und in ihrem Wesen begann schon in jene Vorstufe zur Jungfräulichkeit überzugehen, welche man wohl oder übel die Backfischperiode zu nennen pflegt. Aber Isolde war immer lieb und anmutig, auch als Backfischchen. Wie sie an jenem Morgen so neben dem griesgrämelnden Vater im offenen Wagen saß, mußte jeder, welcher etwa das wundersame Gedicht des alten Gottfried von Straßburg kannte – ich selber gehörte freilich damals noch nicht zu den Wissenden von dieser mittelalterlichen Prachtrose unserer Dichtung – jeder, sag' ich, mußte zugeben, daß sie alle Aussicht hatte, so schön und hold zu werden wie Tristans berühmte Geliebte. Ihre Haare waren in Fülle und Farbe schon jetzt ganz isoldisch. Diese dreifach um Scheitel und Stirne des guten Kindes gewundenen Flechten mußten, aufgelöst, fast den Boden berühren. Die Farbe war nicht genau zu bestimmen: sie schimmerte, je nach dem Wechsel des Lichtes, ins Rötliche, Aschblonde oder Bräunliche. Zuweilen lag ein reizender Goldglanz darauf, welcher, verbunden mit dem seelenvollen Blicke ungewöhnlich großer Veilchenaugen und dem zarten Inkarnat des feingeschnittenen Gesichtchens, eine ganz eigentümliche poetische Wirkung tat. So war die Schönheit Isoldes im Keime, und dieser Keim entwickelte sich so herrlich, daß ich zur Stunde noch überzeugt bin, nie, weder in der Kunst noch im Leben, Schöneres gesehen zu haben als Isolde von Rothenfluh.

Natürlich betete ich sie an – wer tat es auch nicht? – soweit nämlich ein wilder Junge in den Flegeljahren überhaupt etwas anzubeten vermag. Gewiß ist, daß Isolde meine Wildheit merkwürdig zu zähmen verstand, durch ein Wort, durch eine Handbewegung, durch einen Blick. Mit ihrer engelhaften Güte und Milde verband sie schon als Kind eine überraschende Klarheit im Beobachten und Denken und eine bedeutende Festigkeit des Charakters. Daher der große Einfluß, den sie auf alle übte, welche ihr nahe traten. Ach, dieser Einfluß sollte sich nur an einem nicht bewähren, den innigste Bande des Blutes mit ihr verbanden.

Wie der Freiherr heute eine ungewöhnliche Miene zeigte, so ließ auch das Gesicht seiner Tochter den gewohnten Ausdruck ruhiger Heiterkeit vermissen. Isolde hielt ihren großen runden Strohhut vor sich auf den Knien und so konnte ich deutlich wahrnehmen, daß sie nachdenklich und traurig aussah. Als sie mich erblickte, war ein leiser Vorwurf in ihren Augen zu lesen, und diese schönen, guten Augen waren trübe vom Weinen.

»Das ist heute ein Tag, welchen die Römer schwarz im Kalender anstreichen würden,« dachte ich.

»Sie kommen schon von der Stadt herauf, gnädiger Herr?« fragte mein Vater, an den Wagen tretend.

Der Freiherr ließ nach seiner Gewohnheit beim Sprechen die Zipfel seines Schnurrbartes durch die Höhlung seiner linken Hand gleiten und warf mir unter dem Schilde seiner Jagdmütze aus grauem Filz hervor einen nicht sehr freundlichen Blick zu, obwohl er mich sonst so gern hatte, daß er mir nicht selten einen höchsten Beweis seiner Gunst gab, den, mich für eine Stunde oder zwei sein Lieblingspferd reiten zu lassen, was er nicht einmal dem eigenen Sohn gestattete.

»Ja, komme aus der Stadt,« gab der Freiherr zur Antwort, meinem Vater die Hand bietend. »Habe dort einen auf die Post geliefert«.

»Einen?« fragte mein Vater.

»Einen, sag' ich, Konsulent. Können's den roten Augen des Mädle da ansehen, was für einen ... Hör 'mal auf, Söldchen, hör auf zu flennen, 's ist nicht der Mühe wert. Himmelkreuzsternmillionen –«

Und der edle Freiherr machte seinem Unmut in einer jener populären Redensarten Luft, die man im gewöhnlichen Leben Flüche nennt und die ihm von seiner Soldatenzeit her anhafteten. Er besaß eine große Virtuosität in der Komposition solcher Formeln und brachte es mitunter bis zu achtzehn- und zwanzigsilbigen. Gewöhnlich hielt er auf halbem Wege inne mit Beifügung eines »und so weiter«.

»Sie werden doch nicht Ihren Sohn, den Berthold ...«

»Ja,« fiel der Freiherr meinem Vater ins Wort – »eben den Tunichtgut, den Berthold, hab' ich auf die Post spediert. Ist jetzt allbereits auf dem Wege nach der Residenz. Ist Zeit, hohe Zeit, daß der Junge 'mal tüchtig geschnitzelt werde.«

(In Parenthese sei bemerkt, daß der Freiherr statt »erziehen« zu sagen pflegte »schnitzeln«, provinzielle Form für »schnitzen«.)

»Soll als Regimentszögling in das Ulanenregiment treten, welches früher mein leichtes Jägerregiment zu Pferde war, wissen Sie! Hab's meinem alten Kameraden, dem Oberst, will sagen General, geschrieben. Schrieb ihm, der Bursch müsse reglementarisch zusammengenommen werden. Soll erfahren, was militärische Dressur und Disziplin ist. Werden ihm auf dem Drillplatz und in der Manege die Mucken schon vergehen – Bombensplitterdonnerwetter und so weiter. War schnell resolviert, als ich gestern die saubere Depesche vom alten Rektor kriegte. Mantelsack gepackt, aufgesessen, marsch!«

»Jetzt wollt' ich aber halt gleich, daß der Teufel alle Rektoren holte!« dachte ich, als mir diese Auslassung des Freiherrn die Erklärung gab, warum mich die verweinten Augen Isoldes so vorwurfsvoll angeblickt hatten. Sie sah in mir den Mitverursacher der plötzlichen Trennung von dem geliebten Bruder.

Während ich den erwähnten frommen Wunsch im Gemüte wälzte, sagte mein Vater:

»Das war ein schneller Entschluß, gnädiger Herr.«

»'s mußte so sein, Konsulent. Hab' das Plänkeln nie leiden können. Immer drauf und dran! Das bricht ein Loch ins Karree. Wollte mir zwar auch was übers Herz kriechen, als der Junge und das Mädle da mitsammen flennten, aber – dummes Zeug! Der Bursch mußte fort. Sollte ja doch Dienst sehen; also je früher, desto besser. Werden ihn beim Regiment schon gehörig schnitzeln.«

Sprach's, wies mit dem Ende des Peitschenstiels auf mich und fügte hinzu:

»Und was fangen Sie mit Ihrem Schlingel da an, lieber Freund?«

Das Blut schoß mir vor Zorn ins Gesicht, mich so kavalierement als Schlingel behandelt zu sehen, und noch dazu im Angesicht Isoldes.

»Ich habe den Burschen soeben dem Herrn Benefiziaten übergeben,« entgegnete mein Vater.

»Dem Benefiziaten, was? Glauben Sie denn, der alte Taps habe das Zeug, so 'nen hagebuchenen Kerl zu schnitzeln?«

»Allerdings. Fragen Sie nur den Michel selbst.«

Der Freiherr drehte seinen Schnurrbart und warf mir die Frage zu:

»Hat er das Zeug, Junge?«

»Es wird wohl so sein,« brummte ich.

»So, es wird wohl so sein, meinst du? Was der arme Sünder verstockt dreinsieht – Milliardenfixstern und so weiter. Und Sie bleiben also dabei, Konsulent, aus dem da einen Pf... will sagen einen Hairle zu machen? Hat sich sehr geistlich aufgeführt auf dem Lyzeum, das muß ich sagen ... Doch von was anderem zu reden, Konsulent, war das Dingsda, der Spekulant oder Fabrikant, was er ist, wieder bei Ihnen?«

»Ja, gnädiger Herr.«

»Und Sie meinen noch immer, daß wir auf seinen Vorschlag eingehen sollten?«

»Gewiß. Das Kapital liegt einmal da und ist dermalen keine günstige Zeit, es in Grundbesitz anzulegen. Das vorgeschlagene Unternehmen muß gewinnbringend ausfallen, es kann gar nicht fehlen. Der Mann bietet meines Erachtens ausreichende Garantien. Er ist ein geriebener Geschäftsmann.«

»Hm, Konsulent, mir will scheinen, er sei nicht nur gerieben, sondern durchtrieben. Sein Gesicht gefällt mir nicht.«

»Die Physiognomik ist eine trügerische Wissenschaft, gnädiger Herr. Das hat, wie Sie wissen, schon ihr Gründer Lavater zu seinem Schaden und Spott erfahren müssen.«

»Sie sind doch sonst so vorsichtig, lieber Freund; wie kommt es, daß Sie in diesem Falle so schnell Vertrauen faßten?«

»Das kommt daher, daß unser Mann offenbar ein industrielles und kommerzielles Genie ist. Als ich ihn letzten Sommer auf meinem Ausflug in die Schweiz kennen lernte, eröffnete er mir ganz neue Einblicke in die industrielle Bewegung, welche in jenem Lande viel weiter vorgeschritten ist als bei uns und in einem großen Teile von Deutschland überhaupt. Man wird sich, glaube ich, darein finden müssen, auch diesseits des Rheins an diesem Aufschwung der Industrie teilzunehmen, obgleich ich zugebe, daß es noch fraglich, sehr fraglich sein mag, ob eine rein bäuerliche Bevölkerung nicht glücklicher sei als eine industrielle.«

»Darauf will ich alle Eide schwören, Konsulent. Ich hab' voriges Jahr in Belgien mit eigenen Augen das industrielle Heil gesehen, Fabrikpack – puh! Nein, bewahr' uns Gott in Gnaden, daß solcher Greuel jemals über unsere schönen Täler komme.«

»Das ist vorderhand auch gar nicht zu befürchten, gnädiger Herr, und überhaupt handelt es sich im vorliegenden Falle keineswegs darum, hier bei uns industrielle Etablissements einzuführen, sondern nur darum, drüben in der Schweiz ein gerade müßiges Kapital in einem derartigen Unternehmen nutzbringend anzulegen.«

»Sie trauen also diesem Menschen?«

»Ja. Ich hatte Gelegenheit, an Ort und Stelle Erkundigungen über ihn einzuziehen. Man rühmte mir ihn allgemein als einen spekulativen Kopf, als einen in vielen Geschäftszweigen außerordentlich gewandten und dabei rastlos tätigen Mann.«

»Aber auch als einen ehrlichen, was?«

»Auch als einen ehrlichen. Würde ich mich sonst irgendwie mit ihm eingelassen haben? Wie Sie wissen, habe ich ihm aus eigenen Mitteln ein Kapital ins Geschäft gegeben. Die Interessen, welche dasselbe abwirft, sind ungewöhnlich bedeutend.«

»Konsulent, Konsulent, ich glaubte bislang, Sie wären der letzte Mensch, welcher sich vom Geldteufel blenden lassen würde.«

»Das tu' ich auch nicht! Aber wo ist denn der Mann, der einem völlig gerechtfertigten Gewinn aus dem Wege gehen möchte? Überdies wissen Sie, ich bin bedeutend älter als meine Frau und ... kurz, ich wünsche, daß Gertrud auch als Witwe 'mal zu leben imstande sei, wie sie es gewohnt ist.«

»Hm, Konsulent, ich denke, die Frau Konsulentin wird auch als Witwe unter allen Umständen leben können, wie sie es gewohnt ist, solange ein gewisser Bodo von Rothenfluh oder irgend eine Person dieses Namens da ist.«

»Dank, Dank, mein gnädiger Herr und Freund! Ich weiß, jede Silbe der guten Worte, welche Sie da sprachen, kam aus dem Herzen. Um aber auf das Geschäft zurückzukommen ...«

»Hole der Henker das Geschäft! Ich verstehe keinen Pfifferling davon und, wie gesagt, das Gesicht des Mannes gefällt mir nicht.«

»Das beklage ich und möchte wünschen, er hätte, um diesen Stein des Anstoßes zu beseitigen, seinen Schwager hergeschickt, welcher eines der redlichsten Gesichter besitzt, die man sehen kann«.

»Ist dieser Schwager auch mit im Geschäft?«

»Freilich. Er ist der eigentliche Techniker, wie seiner Frau Bruder der eigentliche Spekulant in dem gemeinschaftlichen Geschäft ist. Dasselbe hat sich seit Jahresfrist wieder bedeutend erweitert, wozu die herrliche Wasserkraft, in deren Besitz die beiden Schwäger sind, sozusagen dringend aufforderte. Neben der Spinnerei ist jetzt auch eine mechanische Weberei in Betrieb gesetzt, und eine Maschinengießerei ist im Bau begriffen. Auch für ein Laboratorium zur Verfertigung chemischer Produkte sind bereits die Pläne entworfen.«

»Das alles muß ja ein Heidengeld kosten.«

»Trägt aber auch ein Heidengeld ein, wenn 'mal alles in Tätigkeit ist.«

»Das glaub' ich, aber ich will's doch noch 'mal beschlafen, bevor ich ein so großes Kapital, wie das geforderte, einem Menschen mit einem Gesicht anvertraue, welches mir, zum drittenmal gesagt, nicht gefällt. Sie sind also dafür, wie?«

»Allerdings, und mit welchem Vertrauen, mag Ihnen der Umstand bezeugen, daß ich so ziemlich entschlossen bin, all mein Erspartes bei den unternehmenden Schwägern anzulegen.«

»Das könnte freilich auf meinen Entschluß bedeutend einwirken. Nun, wir wollen morgen die Sache mitsammen überlegen. Heute bin ich zu solchem nicht aufgelegt. Will in den Wald, will jagen, bin – im Vertrauen gesagt – nach etwas Besserem auf der Spur als einem Fuchs oder Bock.«

Der Freiherr zwinkerte, indem er dieses sagte, listig mit den Augen und machte ein sehr geheimnisvolles Gesicht. »Ach, gnädiger Herr, Sie meinen doch nicht etwa die problematische Mithrashöhle?«

»Die problematische? Nein. Aber die wirkliche, ja, siebenundsiebzig Schock blitzblaue und so weiter. Ich habe die Höhle entdeckt, ich! Ja, Konsulent, Sie ungläubiger Thomas, der Sie wissen wollten, daß nie eine römische Legion hierherum gestanden, ich sage Ihnen, die Höhle ist da, oder besser die Grotte, denn 's ist 'ne Art Grotte, 'ne richtige Mithrasgrotte, so wahr ich Bodo heiße.«

Ich spitzte die Ohren bei dieser Wendung des Gespräches. Der Freiherr tummelte sein Steckenpferd der Altertümelei und ich wußte gar wohl, auf welchem Terrain das gegenwärtige mit Vorliebe geschah. Es war damals eine gelehrte Mode, den Spuren der durch die Römer vermittelten Verzweigungen altorientalischer Kulte im westlichen Europa eifrig nachzugehen, und der edle Freiherr machte diese Mode redlich mit.

»Sie haben eine Mithrasgrotte entdeckt, gnädiger Herr?« fragte mein Vater. »Wirklich? Hier bei uns?«

»Ja, wirklich hier bei uns.«

»Wo denn?«

»Eigentlich sollt' ich Ihnen das noch nicht sagen, aber Sie mögen's immerhin wissen. Die Grotte befindet sich im Weißachforst.«

»Im Weißachforst? Alle Welt! Wer hätte das gedacht! Und Sie haben auch den Mithrasstein gefunden?«

»Noch nicht. Aber daß einer in der Höhle sein muß, kann gar keinem Zweifel unterliegen. Werde dieser Tage scharf nachgraben lassen. Aber was lacht denn der Junge?«

Ich lachte wirklich, denn als ich sah, wie die beiden Altertümler über die fragliche Mithrasgrotte in Feuer gerieten, kitzelte mich der Einfall, dem Freiherrn einen Possen zu spielen. Ich war nämlich damals noch ein so schlechter Christ, daß ich es entschieden mehr mit der alttestamentlichen Rachepraxis als mit der neutestamentlichen Vergebungstheorie hielt. Der Freiherr hatte mich angesichts seines Töchterleins, welches heute ohnehin gar nichts von mir wissen zu wollen schien, einen Schlingel und armen Sünder genannt – das sollte ihm nicht so hingehen, dem Gott Mithras sei Dank!

Der Freiherr sagte endlich dem Vater Adieu und trieb sein Gespann an. Im Fortrollen desselben konnte sich Isolde in ihrer Herzensgüte doch nicht enthalten, halb zurückgewendeten Kopfes mir einen recht guten und tröstlichen Blick zuzuwerfen. Aber ich war nun auch stolz und tat, als ob ich von dieser Freundlichkeit keine Notiz nähme.

Daheim traf ich ebenfalls rotgeweinte Augen und zwar in dem allerliebsten Gesichtchen meines Schwesterleins. »Denke dir,« sagte das kleine Ding mit gepreßter Brust, »denke dir, der Berthold ist fort und hat nicht einmal Abschied von uns genommen. Ist das nicht traurig?« – »Na,« versetzte ich großartig, »es hat schon mancher dumme Junge fortgemußt, und dumme Mädchen haben hinter ihm drein geflennt, und der Himmel ist deshalb noch nicht eingefallen.«

»Wie du nur heute wieder bist!« sagte die Kleine, mich mit ihren verweinten Augen groß ansehend.


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