Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Finale

Erstes Kapitel.

Eine Geläuterte. – Herr Ziegenmilch zum letztenmal. – Cirillo Rompelli. – Die cause célèbre. – Macht des Gewissens, – Gritli. – Ein Passus aus einer Gerichtsrede. – Ein Schuldig und ein Nichtschuldig.

IIsolde war, als sie mit mir, dem Herrn Oberst und Julie von der roten Fluh abreiste, von ihrer Freundin dringend eingeladen worden, einige Zeit bei ihr in der Stadt zu verleben. »Ich würde gern bei dir sein«, hatte meine Verlobte erwidert, »aber es zieht mich heim, alle die gewaltsamen Eindrücke der letzten Zeit mir in der Stille zurecht zu legen. Und dann, liebe Julie, bin ich eigentlich die Lindachbäuerin, weißt du? Und die herankommende Herbstzeit verlangt um so mehr meine Anwesenheit zu Hause, als ich einen so großen Teil des Sommers über abwesend war.«

In Chur trennte sich unsere Gesellschaft. Der Handelsherr, ein halbgebrochener Mann, ging von da über den Splügen nach Italien, von wo aus er mit dem Vorsatz, mehrere Jahre fortzubleiben, nach der Levante reisen wollte. Er übergab mir beim Abschied eine Vollmacht für Herrn Bürger, wonach dieser die Geschäfte mit unbedingter Machtvollkommenheit leiten sollte. Julie und ich begleiteten meine Verlobte das Rheintal hinunter an den Bodensee. Als der Dampfer mir meine Geliebte entführt hatte – zum Glück nur für wenige Wochen – brachte ich Julie in ihre Vaterstadt zurück, wo ich meine Angelegenheiten ordnen wollte und als Zeuge in der Kipplingschen cause célèbre vernommen werden sollte. Denn bei unserer Ankunft in der Stadt fand ich die Zitation vor. Gritli, das arme Kind, hatte angegeben, sie habe mich nach der Katastrophe, bevor sie sich in den See gestürzt, aufgesucht und habe mir alles sagen wollen, »weil der Herr Hellmuth mal so gut gegen sie gewesen sei.«

Julie war gut und gefaßt. Sie wenigstens war aus der schrecklichen Familientragödie geläutert hervorgegangen. Von ihrem Bruder sprach sie nie, mit keiner Silbe. Dagegen hielt sie redlich ihr Versprechen, daß Gritli ihre Schwester sein sollte. Kaum zu Hause angelangt, noch in den Reisekleidern, erwirkte sie sich die Erlaubnis, die arme Gefangene zu besuchen, und tiefbewegt kam sie von dieser Zusammenkunft zurück.

»Ich durfte ihr,« äußerte sie gegen mich, »noch nicht sagen, daß ich ihre Schwester sei. Es hätte die geängstigte Seele des armen, schönen, guten Kindes nur noch mehr verwirrt. Aber nun ich Gritli gesehen, ist es gar keine Großmut mehr von meiner Seite, daß ich mich ihrer annehme: denn ich liebe sie. O, mein Freund, es ist furchtbar, zu denken, daß ein Vater, welcher zugleich auch der meinige ist, sein Kind, sein eigen Fleisch und Blut, den Zufällen des Fabriklebens preisgeben konnte. Aber er bleibt doch mein Vater und er bedarf jetzt der Liebe, denn er ist unglücklich. Ich will auch Gritli ihn lieben lehren.«

Am Tage, wo der Prozeß vor dem Schwurgericht zur Verhandlung kam, frühstückte ich auf ihre Einladung mit Julie.

»Wäre es doch schon Abend,« sagte sie. »Ich zittere, wie das Los Gritlis fallen wird. – Was den andern angeht – halten Sie mich nicht für herzlos, wenn ich gestehe, daß mir sein Schicksal gleichgültig ist. Er hat von Jugend auf dafür gesorgt, daß er keinen Anteil an meinem Herzen habe. – Aber das Kind, das Kind! Könnte man so barbarisch sein, es zu verurteilen? Geschähe das, mein Schwesterlein, so jung, so schön, so unglücklich, soll nicht im Zuchthaus verkümmern. Ich werde alles, selbst mein Leben daran setzen, das zu verhindern. Zum Glück ist der Staatsanwalt ein einsichtsvoller und humaner Mann. Ebenso der Advokat, welchen ich, wie Sie wissen, zum Verteidiger Gritlis geworben. Er gibt mir Hoffnung und stützt diese insbesondere auf die ärztlichen Gutachten, welche sehr zugunsten des Kindes ausgefallen seien. – Bitte, lieber Michel, lassen Sie mich keinen Augenblick warten, wenn die Entscheidung heraus ist. Ich werde mich von Stunde zu Stunde nach dem Gange der Verhandlung erkundigen lassen und Ihnen dann den Wagen schicken. – Und jetzt von anderem. Sie werden uns bald verlassen, mein Freund?«

»Binnen wenigen Tagen.«

»Ja, Sie müssen sich nach Isolde sehnen: die Herrliche, der auch ich soviel verdanke, ist es wert. Aber ich bin doch zu selbstsüchtig, leugnen zu wollen, daß ich Sie sehr vermissen werde.«

»Liebe Julie, ich lasse einen Freund zurück, der auch der Ihrige ist.«

»Sie meinen Bürger? Er war mir gut, aber ich fürchte, ich habe ihn zu sehr gekränkt in meinem Übermut. Er vermeidet es, mit mir zu sprechen ... Bürger ist ein seltsamer Mensch, aber gewiß ein Mann von Ehre.«

»Durch und durch. Und was seine Seltsamkeiten angeht, so sind sie rein nur äußerlich. Er ist die beste Seele von der Welt. Aber der kräftige Keim von Güte und Milde, den sein Herz birgt, ist nicht zum Ausschlagen und Blühen gekommen, weil keine liebevolle Hand diesen Keim pflegte und ermunterte. So hat er sich die Marotte in den Kopf gesetzt, er sei ein Egoist, Pessimist, Blasierter, während täglich seine Handlungen seine Worte Lügen strafen, aber nur eben ganz im geheimen. Er poltert und schilt über das Volk, und doch beteiligt er sich unter fremdem Namen bei allen Unternehmungen und Anstalten, welche auf die sittliche und materielle Hebung des Volkes abzwecken. Er macht sich über das Volksschulwesen lustig, und doch ist er heimlich stets mit reichlichen Beiträgen für Schulzwecke bei der Hand. Er tut gelegentlich, als ob schon der bloße Namen Polen ihm widerwärtig und verächtlich wäre, und doch hat er, gerade er, aus der Zeit der Polenbegeisterung ein Mitleid sich bewahrt, welches ihn nicht müde werden läßt, eine unglückliche Polenfamilie, die aus jener Zeit hier hängen geblieben ist, heimlich zu unterstützen. O, ich bin hinter Bürgers Schliche gekommen und weiß, daß er seine Tugenden ängstlicher verbirgt, als andere ihre Fehler ... Und er liebt Sie, Julie, glauben Sie mir, er liebt Sie innig und treu. Er würde Sie auf den Händen tragen und Sie ehren wie kein zweiter Mann. Lassen Sie mich es sagen, teure Freundin, ich würde in der Ferne mit leichterem Herzen Ihrer gedenken, wenn ich Sie in der Liebe eines solchen Mannes sicher und glücklich wüßte.«

»Ich glaube Ihnen, Michel,« erwiderte Julie, nachdem sie eine Weile nachdenklich geschwiegen. »Sie meinen es gut, ich weiß es. Eine alte Jungfer kann und mag ich ja doch nicht werden. Und dann würde, wenn ich Bürger heiratete, auch ein alter lieber Wunsch meines Vaters in Erfüllung gehen ... Ich will es bedenken, mein Freund, ich will es bedenken.« – – – – –

Auf meinem Wege nach dem Gerichtshause traf ich zufällig mit Herrn Ziegenmilch zusammen, welcher mich übrigens, sobald er meine Ankunft in der Stadt erfahren, aufgesucht hatte, um mir, wie er sich ausdrückte, für die enorme Diplomatie und Freundschaft zu danken, womit ich ihm wieder zu seinem lieben runden exfrommen Liseli verholfen hatte. Der Herr weiland Direktor der großen Kohlenkompagnie wußte natürlich »enorm« viel von dem Ereignis des Tages zu sprechen und schloß seine Rede mit dem Ausruf:

»Der einzige Sohn der Firma Gottlieb Kippling und noch dazu ein so enorm praktischer Mensch vor Gericht auf dem Lasterbänkchen! Enorm, ganz enorm!«

In einer engen Gasse, durch welche unser Weg führte, wurden wir für einige Augenblicke durch ein frauenzimmerliches Gedränge vor einem Quincaillerieladen aufgehalten. Die Damen steckten die Köpfe zusammen, einige flüsterten, andere lachten, einige gaben sich Mühe zu erröten, andere, entrüstet auszusehen; aber zuletzt gingen alle in den Laden hinein.

»Der Erzschuft!« sagte Herr Ziegenmilch, vor dem Schaufenster des Ladens stehen bleibend. »Da lugen Sie mal, Herr Hellmuth.«

Er wies auf ein großes Blatt Papier, welches zwischen den Quincailleriesachen am Fenster sichtbar war und worauf in kühn geschwungenen Zügen die Worte standen:

»Der Chef dieses Geschäftes, Junggeselle und von sanfter Gemütsart, wünscht sich mit einer ehrsamen Dame, Jungfrau oder kinderlose Witwe, zu verheiraten.«

»Das ist groß,« sagte Herr Ziegenmilch. »Das ist noch gar nicht dagewesen! Das zieht! Das lockt! ... Ja, das muß man sagen, ein praktischer Mensch, ein enorm praktischer Mensch ist der Schufterle doch.«

»Was für ein Schufterle?«

Herr Ziegenmilch wies auf das Schild über dem Schaufenster, und ich las dort in prahlerisch großen Goldlettern: »Quincaillerie-Handlung von Cirillo Rompelli

»Was,« sagte ich,« »sollte wirklich unter diesem italisierten Namen der alte Humbuger Rumpel stecken? Sollte er wirklich die Frechheit gehabt haben, nach allem, was vorgefallen, in dieser Stadt sich zu etablieren?«

»Er hat sie gehabt. 's ist ein enormer Kerl! In allen Sätteln gerecht.«

»Und wahrscheinlich hat er diese Etablierung zuwege gebracht mittels –«

»Eines gewissen Schmuckkästchens und dito Taschenbuches, wollen Sie sagen? Freilich!«

»Und Sie haben nicht Lärm geschlagen, Herr Ziegenmilch?«

»Daß ich ein Narr gewesen wäre? Wir, Oskar Ziegenmilch und Komp., sind nicht so unpraktisch. Tut nicht gut für Geschäftsleute, Skandal zu machen – in keiner Weise. Herr Theodor Kippling dürfte das auch erfahren. Zudem habe ich Ursache, dem Schuft da dankbar zu sein. Seit ihrer Heimklehr von ihrer Entf– will sagen Badereise ist mein Liseli wie ein umgewendeter Handschuh, sie ist wieder ein so liebes, tolerantes, praktisches Frauli, wie sie vorzeiten in der Spiegelgasse gewesen. Die in Gesellschaft des Monsieur Rumpel unternommene – Badereise hat sie von allen gefühlvollen Flausen und Zierereien glücklich kuriert. Praktisch das! Bin daher dem Rompelli gar nicht böse. Grüßen einander, wenn wir uns begegnen. Ins Haus darf er mir natürlich nicht mehr, aber das hindert mich nicht, ihm allen Erfolg zu wünschen. Wird ihn auch haben, ist praktisch genug, seine Fortune tüchtig zu poussieren. Müßte mich sehr irren, wenn der enorm praktische Schwindel, den er da ausgeheckt und ausgehängt hat, nicht sein Geschäft bedeutend in Zug brächte. Könnte ihm dieser Schwindel auch zu einer ganz anständigen Partie helfen. Sehen Sie nur, was er für Zulauf hat. Wollen wir mal hinein, um zu sehen, wie der Schelm mit dem WybervolchMundartlich für Weibervolk, in der dortigen Gegend populärer Ausdruck statt Damenwelt oder schönes Geschlecht. Es fällt mir dabei eine artige Anekdote ein. Ein schweizerischer Pfarrer hat mir erzählt, daß er einmal während des Konfirmandenunterrichts große Mühe gehabt habe, das Lachen zu unterdrücken. Nämlich: »Zu welchem Volke gehörte die Mutter Jesu?« fragte er einen seiner Bauernjungen. – »Zum Wybervolch!« antwortete der Gefragte entschieden. umspringt?«

»Nein, ich habe jetzt weder Zeit noch Lust,« versetzte ich weitergehend.

Ich fand die Zugänge zum Gerichtshause von Volksmassen belagert. Aus dem dumpfen Gemurmel derselben hervor gellten einzelne drohende Stimmen, ob man auch sicher sei, daß der Angeklagte, weil er der Sohn des »Millionenmannes«, der Strafe nicht entschlüpfe. Aber solche Zweifel waren überflüssig. Ich konnte zwar nach allem, was ich wußte, mir nicht verhehlen, daß der Verbrecher zeitig gewarnt worden sei, welche Warnung ihm, falls er ein armer Schlucker gewesen, schwerlich zuteil geworden wäre. Nachdem er sich aber einmal in den Händen der Justiz befand, konnte gar nicht mehr die Frage sein, daß ihm sein Recht werden würde.

Die Prozedur mußte, wie es in solchen Fällen das Gesetz vorschreibt, eine geheime sein, das heißt das größere Publikum war von der Verhandlung ausgeschlossen. Trotzdem war der ohnehin nicht sehr große Saal so ziemlich von Männern angefüllt, deren Anwesenheit mehr oder weniger notwendig erschien. Die Verhandlung war schon eröffnet, als ich aus dem Zeugenzimmer hineingerufen wurde. Richter, Geschworene, Ankläger, Angeklagte und Verteidiger waren auf ihren Plätzen. Der Vorsitzende erfüllte seine wahrlich nicht leichte Pflicht und Aufgabe mit Würde und Takt. Man hatte auch die humane Rücksicht gehabt, die Angeklagten zu trennen, auf der eigentlichen Anklagebank saßen nur Herr Kippling und Frau Regel. Etwas abseits war ein Stuhl für Gritli hingestellt.

Das arme schöne Kind saß bleich und scheu in sich zusammengeschmiegt, als hätte es sich vor den Blicken der Menschen in die Erde verbergen mögen. Sein Verderber dagegen benahm sich so, als wäre er wirklich, wie Julie von ihm gesagt hatte, der frechste aller Menschen. Höchst elegant gekleidet, zupfte er mit behandschuhter Hand an seinem Bärtchen, lorgnettierte Geschworene und Zeugen, unterhielt sich lässig mit seinem Verteidiger, dessen Pult hinter der Anklagebank stand, kurz, er tat, als ginge ihn die ganze Sache eigentlich gar nichts an. Die Frau Regel ihrerseits war offenbar in tausend Ängsten, obgleich sie einen trotzigen Gesichtsausdruck zu erkünsteln suchte.

Die Voruntersuchung hatte ergeben, daß die beiden Verbrechen, um welche es sich handelte, im engsten Kausalzusammenhange standen, und darauf fußte auch die Anklageakte. Sie war mit der größten Sorgfalt verfaßt und entrollte mit psychologischer Meisterschaft ein ergreifendes Gemälde der ganzen unseligen Geschichte. Der dunkelste Punkt darin fehlte freilich. Waren doch der Angeklagte und ich die einzigen Personen im Saale, welche von dem Geheimnis wußten, das die Freveltat Kipplings zu einer unerhörten machte.

Die Leumundszeugnisse Angeklagter spielen vor schweizerischen Schwurgerichten eine sehr bedeutende Rolle, unter Umständen vielleicht eine zu bedeutende. Im vorliegenden Falle verstärkten aber die von Gemeinde-, Schul- und Kirchenbehörden eingelaufenen Zeugnisse die günstige Meinung, welche schon die Anklageakte für Gritli erweckt hatte. Ebenso die Gutachten der beigezogenen ärztlichen Experten, welche zu dem Ergebnis kamen, das Kind sei durch die ihm angetane brutale Mißhandlung in einen Zustand momentaner Geistesstörung versetzt worden und demnach im Augenblick der Brandstiftung unzurechnungsfähig gewesen.

Die Vernehmung der Angeklagten und die Zeugenabhörung begannen. Einen Schleier über die empörenden und schrecklichen Details! Herr Kippling suchte die ganze Sache als Bagatelle zu behandeln und leugnete mit einer Stirne von Erz jede Anwendung von Gewalt. Er mußte auch richtig Mittel und Wege gefunden haben, auf die Frau Regel einzuwirken; denn, auf den Verhörstuhl berufen, nahm sie ihre in der Voruntersuchung gemachten Angaben zurück und suchte ganz im Sinne des Angeklagten zu sprechen. Sie hielt auch das Kreuzverhör, welches der Staatsanwalt und Gritlis Verteidiger mit ihr anstellten, eine Weile mit großer Geschicklichkeit aus. Dann aber begann sie unruhig auf ihrem Stuhle hin und her zu rutschen, zu zaudern und zu stocken. Das Auge Gritlis, bisher immer zu Boden gesenkt, hatte sich mit der ganzen Magie seines schwermütigen Ausdrucks auf die falsche Zeugin geheftet. Vergebens wandte diese sich ab: sie mußte immer wieder diesem vorwurfsvoll flehenden Auge begegnen, bis sie zuletzt, nachdem sie eine Weile verstockt geschwiegen, plötzlich mit fliegendem Atem in die Worte ausbrach:

»Ihr Herren, das Geschrei des Kindes in jener Nacht will mir nicht aus den Ohren ... Ich muß die Wahrheit sagen ... Es ist alles so, wie ich in der Voruntersuchung angegeben.«

Ich atmete freudig auf.

Der Herr Staatsanwalt, seither zu hohen kantonalen und eidgenössischen Würden aufgestiegen, entwickelte in der jetzt folgenden Vernehmung Gritlis das ganze Zartgefühl eines humanen Charakters. Er wußte dem zitternden, stammelnden Kinde Vertrauen einzuflößen, so daß es seiner Angst wenigstens einigermaßen Meister wurde. Als der Staatsanwalt zuletzt an die Angeklagte die Frage stellte, wie es ihr denn im Moment der Brandstiftung zumute gewesen sei, und sie mit vor Schluchzen brechender Stimme die bebende Antwort gab: »Ich weiß ja nicht; mir ist nur so g'si, als müßt' ich die ganze Welt verbrennen!« Da ging eine Regung tiefen Mitgefühls durch den Saal, und ich sah die Augen starker Männer feucht werden. Es lag in dieser Antwort die furchtbare Gewißheit, daß die Brutalität eines Elenden eine schuldlose Kinderseele zum Wahnsinn getrieben hatte.

Als die Plaidoyers der Verteidiger an die Reihe kamen, taten die Advokaten des Herrn Kippling und der Frau Regel, was sie tun konnten; allein man hörte aus ihren Reden deutlich genug heraus, daß sie eben nur berufshalber eine verlorene Sache führten. Der Verteidiger Gritlis richtete die vernichtende Gewalt seiner von großer Beredsamkeit unterstützten Beweisführung auf den Angeklagten. Ein Passus seiner Rede ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. – »Das, meine Herren Geschworenen,« sagte er, nachdem er Charakter, Lebensführung und Verbrechen des Angeklagten gezeichnet hatte, »das sind die Folgen einer Jugenderziehung, wie sie der Mammonsgeist unserer Zeit diktiert, einer Erziehung, welche alle idealen Anregungen geringschätzt und den Materialismus, welcher lehrt, daß nur, was Geld einbringe, gut, nützlich und erstrebenswert sei, als ein Evangelium anerkennt. Hier in dem Angeklagten, in diesem jungen Wüstling, welcher keinen Begriff davon hat, daß die schnöde Opferung eines schuldlosen, von allen übereinstimmend als brav und gut anerkannten Kindes etwas anderes sei als ein frivoler Spaß, als ein gelegentlicher Zeitvertreib eines reichen Herrn, hier haben Sie ein Produkt des utilitarischen Ungeistes, welcher die Masse der Besitzenden und Erwerbenden nur an ihre Interessen, an Luxus und Vergnügungen denken läßt und die Gesellschaft einer sittlichen Verwilderung entgegen zu führen droht, wie die Weltgeschichte nur in Perioden tiefsten Verfalls sie kennt.«

Der Vorsitzende gab sein Resümee, anschaulich-klar und parteilos, die Geschworenen zogen sich zurück, und es verging eine bange halbe Stunde. Ich fürchtete doch für Gritli; denn ich wußte, daß Vergehen gegen das Eigentum nur in wenigen Ländern noch strenger geahndet werden als in der Schweiz, in dieser nämlichen Schweiz, welche Unkenntnis und Übelwollen als einen Herd kommunistischer Schwärmerei verschrien haben. Aber das Verdikt, welches die Geschworenen hereinbrachten, bewies recht schlagend die Vorzüge des aus dem lebendigen Volksbewußtsein geschöpften Rechtes vor dem aus toten Formeln abstrahierten. Gelehrte Juristen hätten nach dem Buchstaben eines Artikels des Strafgesetzbuches urteilen müssen, Geschworene konnten nach ihrer auf den psychologischen Zusammenhang der ganzen Sache basierten moralischen Überzeugung urteilen.

Der Wahrspruch lautete für Herrn Kippling auf »Schuldig unter erschwerenden Umständen«, für Frau Regel auf »Schuldig der Beihilfe«. Für Gritli hieß das Verdikt: »Ja, die Angeklagte war im Augenblicke der Brandstiftung gestörten Geistes und demnach unzurechnungsfähig.«

Ein Summen der Befriedigung lief im Saale um. Der Vorsitzende verfügte sofort die Freilassung des geretteten Kindes. Ich faßte es an der Hand, als ich es auf seinen Füßen wanken sah.

Die Strafbestimmung für die beiden Schuldigbefundenen nahm noch einige Zeit in Anspruch. Das Urteil lautete für Herrn Kippling auf fünfjährige, für Frau Regel auf zweijährige Zuchthausstrafe. Jener nahm den Spruch mit vornehmem oder wenigstens vornehm tuendem Gleichmut hin. Seine Blasiertheit wich, wie ich anderen Tages erfuhr, erst dann, als ihm der Züchtlingsanzug gereicht wurde. Da hat er sich wütend gesträubt und mit wilden Flüchen und, Lästerungen auf dem Boden gewälzt.

Ich führte Gritli hinaus und hoffte, da es bereits dunkelte, das Kind unerkannt durch die versammelten Volksmassen hindurch zu bringen. Aber es wurde doch erkannt und mit jubelnden Glückwünschen bestürmt. Zitternd klammerte es sich an meinen Arm, und so brachte ich es glücklich durch das Gedränge zu dem seitwärts haltenden Wagen. Der Diener öffnete den Schlag, eine Gestalt beugte sich aus dem Fond des Wagens, und die Freigesprochene fand sich in den Armen ihrer Schwester, welche mit Liebesworten und Küssen sie begrüßte.


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