Johannes Scherr
Michel
Johannes Scherr

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Siebentes Kapitel.

Die Stunde des Glücks. – Der Brautkuß. – Frage mich nicht! – Der Alte im Turm. – Ein Brautgeschenk und ein wunderlicher Segen.

Während des Frühstücks hatte ich die Gelegenheit wahrgenommen, Isolde um eine Unterredung zu bitten; denn ich hatte das lebhafte Gefühl, daß es endlich klar werden müßte zwischen ihr und mir.

Sobald ich meinen Brief an den Herrn Oberst expediert hatte, ging ich nach dem runden Gemache, welches Isolde bewohnte. Sie empfing mich mit der ganzen Herzlichkeit ihres Wesens. Ich geleitete sie zu dem Stuhl, auf welchem ich sie gestern nachts hatte sitzen sehen, und blieb vor ihr stehen.

»Lieber Michel,« sagte sie, »du weißt gar nicht, wie tröstlich mir deine Ankunft ist. Und halte mich nur für keine Phantastin, wenn ich inmitten meiner Kümmernisse oftmals still dachte und hoffte, zur rechten Stunde werde der Freund schon erscheinen, auch ohne daß ich ihn riefe. – Ich bin hierher gegangen, um einem nochmaligen Besuche Bertholds und dieses Herrn Kippling in Lindach auszuweichen. Das ist alles, was ich hinsichtlich der Bewerbung des letzteren um meine Hand zu sagen habe. Dieser Mensch muß aber ausspioniert haben, daß ich vor dem gedrohten Besuche nach der roten Fluh geflohen, und nun sind wir hier in der seltsamsten Lage. Berthold erwartet von einer Verbindung mit Julie eine Wendung seines Schicksals, das, wenn auch selbstverschuldet, doch immer beklagenswert ist. Ob er das schöne Mädchen liebt, weiß ich nicht, bezweifle es aber, denn – es ist schrecklich zu sagen – ich glaube, er kann nichts, gar nichts mehr lieben. Ich meine, die arme Julie fühlt das, und kurz, es will sich kein rechtes Verständnis zwischen den beiden herstellen.«

»Das beklage ich von Herzen; aber, meine teure Isolde, ich bin hierher gekommen, um einer mir näher liegenden Sache willen.«

»Ich wußte das, Michel, ich wußte das. Siehst du, ich kann mich nicht verstellen. Aber willst du nicht sitzen, mein Freund?«

»Nein, Isolde. Einem, der sich zu rechtfertigen hat, geziemt es, vor seiner Richterin zu stehen.«

»Ich deine Richterin, Michel? Was hätte ich denn an dir zu richten?«

»Meine Untreue. Vor allem, hast du meinen Brief nicht erhalten, in welchem ich dir von Konstanz aus alles beichtete? Doch, nein, das geschah ja erst vor wenigen Tagen und du mußtest damals schon hier sein. So höre mich denn; es ist nur billig, daß ich mich auch mündlich vor dir demütige, wie ich es schriftlich getan.«

»Halt, mein Freund, ich will nicht, daß der Mann gedemütigt werde, und wäre es auch nur durch ihn selber – der Mann, den ich liebe.«

»Isolde!«

»Ja, das Wort ist heraus... Warum sollt' ich mich des Bekenntnisses schämen? Du hast es ja schon vor Jahren empfangen, als wir noch glückliche Kinder waren. Damals, weißt du noch? auf der Breunighalde unserer Heimat... Gestern noch, mein teurer Freund, hätte ich das Wort nicht gesprochen, nein, nein. Heute sprach ich es und wiederhole es. O, wie konnten so wenige Stunden so viele Not und Pein bringen? Heute, als du zu uns in die Halle tratest, sagte mir dein Auge, daß ich zu dir sprechen dürfe und müsse: Ich liebe dich! Du blicktest mich an wie damals, als ich im namenlosen Bangen meines erwachenden Herzens dich Schlafenden küßte und du die Augen auftatest und die Bebende fragtest, ob sie dir gut sei.«

»O, Isolde, edles und reines Herz, du kannst, ohne zu erröten, auf jenen seligen Moment zurückblicken, aber ich – laß mich knien vor dir – ich kann mich nicht rechtfertigen, aber du, kannst du verzeihen?«

Sie legte mir die Hände auf die Schultern und sah mich liebevoll an mit ihren schönen Augen, aus welchen eine Seele ohne Falsch und Makel blickte.

»Sieh, Michel,« sagte sie, »weil du noch nicht vergangen sein lassen willst, was vergangen ist, so wisse: Julie hat mir alles erzählt, was du mir beichten könntest. Wie hättest du gegen sie gleichgültig bleiben können? Sie ist so schön, so voll Geist und Leben und, gewiß im Grunde ihres Herzens ist sie auch gut. Und sie liebte dich, Michel, ja, sie liebte dich und wird vielleicht ihr Leben lang nie ganz den bitteren Gedanken verwinden, daß sie nicht den rechten Weg getroffen, dich zu gewinnen. Sie ließ mich tief in ihre Seele blicken, und es ist dort etwas, was mir noch hier auf der roten Fluh, noch gestern verriet, daß Julie dich noch immer liebe, obgleich sie es sich selber leugnet. Das hat mir, ich gestehe es, bitteres Leid bereitet, so bitteres, daß ich an dir und mir verzweifelte und recht selbstsüchtig wurde.«

»Selbstsüchtig? du, Isolde? Das ist ja gar nicht möglich!«

»Doch, doch, mein Freund. Ich fühlte mich ganz aus Rand und Band kommen, siehst du. Brennende Eifersucht nagte mir am Herzen, und Haß verdunkelte mir die Seele. Als ich dieses Böse endlich überwunden, war der Sieg auch kein guter. Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, du müßtest ein so reizendes Wesen lieben, wie Julie ist, es könnte nicht anders sein. Zwar wollte mir eine geheime Stimme im Wachen und Träumen zuflüstern, du könntest mich doch nicht ganz vergessen haben –«

»O, sie sprach wahr, diese Stimme, mein teures Mädchen. Mochte der Zauber, womit Julie mich bestrickte, noch so mächtig sein, niemals doch konnte er das Gefühl verwischen, das ich aus goldner Jugendzeit mit herübergebracht hatte, das Gefühl, daß mein Glück Isolde heiße.«

»Es ist so, ich weiß es jetzt. Julie selber ahnte, fühlte das. In der ersten Stunde des Vertrauens sagte sie mir: Jetzt weiß ich, warum mich Michel Hellmuth bloß geküßt, aber nicht geliebt hat. Seine Liebe bist du, Isolde. – Ja, ich wiederhole es, sie ist im Grunde ihres Herzens gut und edel. Ich gewann sie lieb und – ich wollte ihr an Edelmut nicht nachstehen. Lächle nicht über mich, mein Freund, wenn ich dir eine große Torheit gestehe. Du weißt, ich bin nur dazu geschaffen, die stillen Wege des Lebens zu gehen. Alles Aufgespannte, Aufgeregte, Gewaltsame ist mir zuwider, weil es meiner Natur widerspricht. Ich habe gar nichts von einer Heroine, Amazone oder, wie man jetzt sagt, von einer Emanzipierten in mir. Und doch – ich wollte dich und Julie glücklich wissen, und so faßte ich einen verzweifelten Entschluß, zu dessen Ausführung ich mir gestern noch, hier auf dieser Stelle, in nächtlicher Einsamkeit die Kraft vorspiegelte, die ich doch nicht besaß. Ich wollte der Bewerbung des Herrn Kippling Gehör schenken, unter der Bedingung, daß Julie deine Frau würde.«

»Ach, Isolde, jetzt erst bin ich recht gedemütigt vor dir.«

»Nein, nein, sprich nicht so und glaube doch nicht, daß ich das sagte, um mich mit einem heroischen Opfermute zu brüsten, den ich ja gar nicht besaß. Nein, ich hätte es nicht gekonnt! Jede Fiber in mir sträubte sich dagegen und ich fühlte, ich wäre lieber gestorben. Ich sprach dir nur davon, daß du daran die Tiefe meines Leides um dich ermessest und die Höhe des Jubels meiner Seele, als mir an diesem gesegneten Morgen dein Auge sagte, daß wir wieder vereinigt seien.«

»Für immer, Isolde? Vollende du Teure, Gute, Versöhnliche, vollende deine Großmut und sage: für immer!«

Sie faßte meine Hände, und aufstehend hob sie mich sanft zu sich empor. Der schönste Purpur jungfräulichen Liebesgefühls überflog ihr edles Antlitz, indem wir Aug' in Auge standen. Dann schlug sie ihre Arme um meinen Nacken, barg ihre Stirne,an meiner Brust und flüsterte:

»Michel, Gespiele meiner Kindheit, mein Freund, mein Bruder, ich liebe dich, und ich will dir angehören sür immer, für alle Zeit und Ewigkeit.«

Voll Seligkeit küßte ich ihre reine Stirne, ihre feuchten Augen, und als ihre Lippen unter den meinen zum Gegenkusse leise sich regten, da war mir dieser keusche Brautkuß der Geliebten wie das Siegel unter einer süßestes Glück verheißenden und verbürgenden Urkunde.

»Sieh, Isolde,« sagte ich, die aus ihren goldenen Haaren geflochtene Schnur, welche sie mir vor Jahren, als ich zur Universität abging, zum Abschied gegeben, aus der Brust hervorlangend, »sieh, das Liebeszeichen ist nie von mir gewichen. Das andere Andenken, welches ich daran gebunden, ist der Trauring meiner Mutter. Nimm ihn, du Teure, Beständige. Mit diesem heiligen Pfand verlob' ich mich dir für Zeit und Ewigkeit.«

»O,« sagte sie, den Ring fromm mit den Lippen berührend und dann an den Finger streifend und durch Tränen lächelnd, »wir sind ja schon lange verlobt, Geliebter. Denkst du noch der traurigen Nacht, bevor deine teure Mutter von uns ging?«

»Ich weiß, ich weiß! Sie legte unsere Hände zusammen Isolde. Die Nähe des Todes machte sie zur Seherin, die unsere Zukunft schaute. Ihr Segen wird mit uns und wir werden glücklich sein.«

»Wir werden es sein, aber wir werden arbeiten müssen, unser Glück zu begründen. Du hast eine arme Braut, Teurer. Ich habe Lindach, den letzten Rest vom väterlichen Erbe, meinem Bruder angeboten. Er hat das Anerbieten ausgeschlagen, doch die Not wird ihn bald zwingen, seinen Entschluß zu ändern. Mag es sein. Ich will ja gern mit dir für dich arbeiten. Ich habe mir mancherlei Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet und mancher überflüssigen Bedürfnisse mich entwöhnt.«

»Ich weiß, Isolde von Rothenfluh war nie eine vornehme Müßiggängerin, und sie ist so geartet, daß sie sich als Hausfrau eines Bürgers nie nach dem glänzenden Nichts der Salonwelt sehnen wird. Aber sorge dich nicht, Geliebte. Zwar kann ich nicht, wie ich nach noch einigen Arbeitsjahren zu können gehofft hatte, zu dir sagen: Genieße an meiner Hand, was dem gebildeten Sinne das Leben Schönes bietet. Aber ich bin doch jetzt schon davor bewahrt, dir nur Sorge und Arbeit bieten zu können. Das Leben hat mich geschult, das Glück hat mich begünstigt. Ich habe gespart und außerdem auf meiner letzten Reise zu Liverpool eine günstige Konstellation zu einer Privatspekulation benutzt, welche einschlug. Sorge dich nicht. Ich habe, womit wir unseren Hausstand begründen können, und auch noch etwas mehr. Und es klebt kein Unrecht an dem, was ich dir bieten kann. Unser Dasein wird sich freundlich gestalten – vertraue mir nur!«

»Von ganzem Herzen, von ganzer Seele, Teuerster. Sieh, ich bin so glücklich, so sehr glücklich. Mögen alle guten Geister über dieser Stunde walten!«

»So geschehe es!«

»Und nun komm,geliebter Mann! Ach, das Unglück ist verschlossen, aber das Glück ringt nach Mitteilung. Wenn du es mir nicht verwehrst, möchte ich es wenigstens einem sagen, wie glücklich ich bin.«

»Ja, komm, Teure, wir wollen zu deinem Bruder. Mein Herz hatte sich von ihm gewandt, aber ich liebe ihn wieder, seit ich weiß, daß er sehr unglücklich ist.«

»Er ist unglücklich, ja – o, grenzenloser unglücklich, als du ahnen kannst. Ein giftiger Wurm zehrt an seinem Herzen und ich – ich kann ihn nicht trösten. Für ihn gibt es keinen Trost. – Nein, nicht zu Berthold will ich dich führen, sondern zu dem armen alten Großoheim. Er soll uns segnen, er ist so gütig gegen mich gewesen.«

»Ich folge dir. Aber sage mir, was hat dich dem armen Berthold so sehr entfremdet, dich, die Liebevolle, Gütige, Milde? Seine unglückselige Verschwendungssucht allein kann doch diese tiefe Kluft nicht zwischen dir und ihm aufgetan haben.«

»Frage mich nicht!« flehte Isolde mit gefalteten Händen. »Ich muß dir antworten, wenn du mich fragst, denn ich habe ja keinen Gedanken mehr, der nicht dein Eigentum wäre. Aber, o, laß keinen dunkelsten Schatten in das goldene Licht dieser Stunde treten. Reinstes Glück ist so selten in diesem ewigen Wechsel der irdischen Dinge. Frage mich nicht und komm!«

Ich ging an ihrer Hand durch das alte, grabstille Gebäude, in dessen weiten Räumen die wenigen Bewohner ungesehen und ungehört sich verloren. Zuletzt kamen wir am Ende des westlichen Flügels an eine Türe, welche Isolde mittels eines Druckes auf eine geheime Feder öffnete. Ein schmaler Steg führte von der Außenschwelle nach einem mächtigen viereckigen Turm hinüber, dessen kühnaufsteigende Höhe die ganze Burg überragte. Am anderen Ende des Steges ließ Isolde abermals eine geheime Feder auf das Schloß einer schweren eisenbeschlagenen Bohlenpforte spielen, und als wir diese passiert hatten, stiegen wir eine ausgetretene Steintreppe hinauf und gelangten in eine uralte gewölbte Halle. Der Türe gegenüber, durch welche wir eingetreten, bemerkte ich eine zweite und in der Mitte derselben die mit dem eisernen Laden verschlossene Luke, von welcher mir Berthold gesagt hatte.

»Sei freundlich mit dem alten Manne, soviel du kannst. Seine Art zu sprechen ist rauh und wunderlich. Die Welt mußte ihm viel Leid antun, bis er so wurde. Ich erzähle dir wohl einmal davon.«

Dies gesagt, klopfte Isolde in drei Absätzen je dreimal an den eisernen Schieber und harrte dann geduldig.

Erst nach geraumer Weile ließ sich von drinnen eine grämlich barsche Stimme vernehmen: »Wer ist da?«

»Ich bin da,« erwiderte Isolde und nannte ihren Namen.

»Ich will jetzt niemand sehen, Kind. Komm morgen.«

»Aber, lieber Oheim, ich habe dir heute, gerade jetzt, etwas von Wichtigkeit zu sagen.«

»Was will ich von euren Wichtigkeiten?«

»Du hast meinen Vater geliebt, Oheim, du wirst seiner Tochter nicht ihre Bitte abschlagen, zu ihrer Verlobung deinen Segen zu geben.«

»Verlobung, Kind? Was zum Teufel!«

Bei diesen Worten rasselte der Schieber empor, und in der Öffnung erschien ein in seinem verworrenen Wald von Bart- und Haupthaar kaum erkennbares Greisenantlitz. Haare, Brauen und der in verwilderten Strähnen weit über die Brust herabwallende Bart waren silberweiß, die blauen Augen lebhaft funkelnd, der Mund streng und abweisend.

Isolde hielt mich bei der Hand.

»Wer ist der Mann?« fragte der Alte.

»Michel Hellmuth, der brüderliche Genosse meiner Kindheit, von dem ich dir soviel erzählte – jetzt mein Verlobter.«

»Du bist Kaufmann, Bursch?« wandte sich der Alte an mich.

»Dermalen ja.«

»Und warum trägst du einen Schnurrbart?«

»Weil es mir so beliebt.«

»So? ... Isolde, nimm dich in acht, du wirst den da nicht unter den Pantoffel kriegen.«

Das holdeste Inkarnat überzog die Wangen Isoldes, als sie entgegnete:

»Das will ich auch gar nicht, Oheim. Es steht geschrieben: 'Er soll dein Herr sein.'«

Der Greis fixierte uns lange. Dann sagte er etwas milder: »Junger Mann, halte sie gut und hoch, hörst du? oder du bist ein Lump!«

»Ich werde sie hoch halten und kein Lump sein.«

Er war aber, ohne meine Antwort abzuwarten, von der Luke verschwunden. Nach einigen Minuten kam er wieder zurück, bot Isolden eine altfränkisch geformte Lederkapsel heraus und sagte:

»Da, Kind, nimm das zum Brautgeschenk von dem Alten von der roten Fluh. Meinen Segen hast du obendrein. Seid so glücklich als möglich. Und hört, wenn ihr mal Kinder habt und sie euch ärgern und betrüben, so tröstet euch damit, daß die Eltern stets durch ihre Enkel an ihren Kindern gerächt werden.«

Der Schieber rasselte zu.

Als Isolde drunten auf dem Stege die Kapsel öffnete, blitzten ihr Juwelen in uraltmodischer Fassung entgegen.


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