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Herr Oskar Ziegenmilch war erfreut, »enorm« erfreut, mich wiederzusehen, aber auch pressiert, ganz enorm pressiert; denn, sagte er, der große Kippling habe ihm die Ehre, die ganz enorme Ehre angetan, ihn zu einer Besprechung einladen zu lassen, welche ein ganz enormes Geschäft zum Gegenstand habe.
Als er fort und ich mit Frau Lelia allein war, meinte sie seufzend, sie sei doch eine »immens« unglückliche Frau. Nie habe ihr Mann, immer in Geschäften steckend, Zeit für sie. Er habe ihr versprochen, sie heute in die Blumenausstellung zu führen. Da sei aber die Botschaft von Herrn Kippling, gekommen, und so müsse sie auch auf dieses Vergnügen verzichten; »denn,« fügte sie hinzu, »in unseren jetzigen Verhältnissen ist es nicht schicklich, daß ich allein hingehe.«
Ich war natürlich höflich genug, die vornehmen Schicklichkeitsskrupel der ci-devant-Käsekrämerin dadurch zu bannen, daß ich ihr meine Begleitung antrug, und bald befanden wir uns mitsammen auf dem Wege.
Während wir den schönen oberen Quai hinauf und zur Seevorstadt, wo die Ausstellung statthatte, hinausgingen, machte ich einen Versuch, der Dame an meinem Arme eine diskrete Warnung hinsichtlich des Herrn Rumpel zugehen zu lassen. Frau Lelia wurde rot, verlegen, einsilbig, und ich merkte bald, daß Herr Rumpel, wenn nicht ihr Herz gewonnen, doch ihren Verstand, soweit einer vorhanden war, gänzlich bestrickt haben müsse. Sie wollte gar nicht mit der Sprache heraus, und ich konnte ihr auf allerlei Umwegen nur soviel abfragen, daß Herr Rumpel, wie sie sagte, ein immens erleuchteter und immens gefühlvoller Mann sei, der es verstehe, unglückliche, von ihren »im schnöden Materialismus versumpften« Männern vernachlässigte Frauen auf höhere Ziele hinzulenken, ihrem Leben einen höheren, einen immens höheren Inhalt zu geben. Ferner, daß Herr Rumpel offenbar ein vom Himmel Hochbegnadigter sein müsse, denn sie, Frau Ziegenmilch, habe es mit eigenen Augen gesehen, wie der erleuchtete und begnadigte Mann eine arme, vom Gliederweh befallene Dienstmagd durch einmaliges Gebet und Handauflegen völlig geheilt habe.
»Haben Sie,« fragte ich, »diese erweckliche Geschichte von der gesundgebeteten Magd Ihrem Vetter, Herrn Artur Puff, auch erzählt?«
»Ach nein,« versetzte sie. »Artur ist ein verstocktes Weltkind, mit dem man von höheren und heiligen Dingen gar nicht reden kann. Es ist mir daher ganz lieb, daß er nur noch selten zu uns kommt.«
»Armes, dickes, blindes Schäflein,« dachte ich. »Du wirst Wolle lassen müssen, aber was kann ich dafür. Du willst ja mit aller Gewalt dem gleißenden Wolf in den Rachen laufen.« Die Blumenausstellungen sind auch eine jener Liebhabereien, welche unsere Zeit charakterisieren. Wir lieben überall nicht mehr das Einfache, sondern das Komplizierte, Gekünstelte, Massenhafte. Was in unseren Augen für schön gelten soll, muß kostspielig sein. Um Feste zu feiern, bedürfen wir ungeheurer Apparate, um uns zu freuen, des Tumults und Hallos. Ein simples Lied zu einfacher Klavierbegleitung einfach singen zu hören, wie langweilig! Aber eine Sängerin an halsbrechenden Rouladen sich braun und blau schreien zu sehen, während sie mit Ober- und Unterkörper konvulsivisch dazu wackelt – wie schön! Einen Strauß von Waldblumen pflücken gehen, welche verschollene Wertherei! Aber ein Billett zu einer Ausstellung zu lösen, wo die Eitelkeit von einem Dutzend Treibhausbesitzern in sinnverwirrender Zusammenstopfung der grellsten Blumenfarbenkontraste untereinander konkurriert, das gehört mit zur »Bildung«.
Die ersten Personen, auf welche wir in dem Blumensaal stießen, waren Fräulein Kippling und Herr Bürger, welche mitsammen gekommen zu sein schienen. Wenigstens standen sie beisammen, und das Fräulein hörte offenbar mit Vergnügen den satirischen Glossen zu, welche der gute Pessimist über das anwesende Publikum losließ, insbesondere über einen Trupp von Damen in der Nähe, welche sich erstaunliche Mühe gaben, die botanischen Namen auf den an die Pflanzen angehefteten Zetteln zu buchstabieren.
»Ja, studiert nur brav, meine Schönen,« hörte ich ihn im Herankommen sagen. »Die Botanik kommt eurem Bildungstrieb galant zu Hilfe. Früher, als man den Blumen noch ehrliche deutsche Namen gab, welche meistens zugleich eine symbolische Bedeutung hatten, mußte man wohl oder übel dabei sich etwas denken. Jede Blume hatte da ihren Sinn, drückte sozusagen eine Vorstellung, einen Gedanken, ein Gefühl aus. Rechne, über alle diese romantischen Blumenschnurren sind wir jetzt hinweg. Die ganze Blumenwelt ist unter die Schablone des botanischen Jargon gebracht, und so kann eine Blumenliebhaberin statt sich mit der Blumenpflege zu bemühen oder die Symbolik der Blumenschönheit verstehen zu lernen, sich einfach darauf beschränken, die Ausstellungskataloge auswendig zu wissen – 's ist kla–ar.«
»Hm, mein lieber Herr Bürger,« gab Fräulein Kippling zur Antwort, meine Begrüßung nur mit einem sehr vornehmen Kopfruck erwidernd und, die Lorgnette an die Augen hebend, meine Begleiterin in der impertinentesten hochmütigsten Weise musternd, »hm, wenn Sie, wie aus Ihrer Rede hervorzugehen scheint, die populären Blumen und Blumennamen von früher so gerne haben, so gehen Sie hier auch nicht leer aus. Die Ausstellung ist diesmal sehr bunt und vielseitig. Sehen sie nur da, geradeaus, das Prachtexemplar von einer gemeinen Butterblume.«
Der Stoß war zu offen, zu direkt, ich möchte sagen zu brutal geführt, als daß er sein Ziel hätte verfehlen können. Ich fühlte den Arm der armen Frau Ziegenmilch in dem meinigen zittern, und sie machte eine Bewegung, wegzugehen. Aber ich hielt sie fest, und empört über die einer unter meinem Schutze stehenden Dame ebenso grundlos als grausam angetane Beleidigung, sagte ich:
»Sie haben recht, Fräulein Kippling. Die Ausstellung ist sehr bunt und vielseitig, so bunt, daß sie leicht das Auge täuscht. Habe ich doch gerade vorhin aus der Ferne eine tropische Prachtblume wahrzunehmen geglaubt und beim Näherkommen bemerken müssen, daß es nur die Pflanze sei, welche in der populären Botanik von früher ›Stinkende Hochfahrt‹ hieß.«
»Lernt man im klassischen Italien und im romantischen Spanien so galant sein?« entgegnete die verzogene, launische, meisterlose Schöne, nicht mit Zorn, sondern nur mit Spott. Dann lachte sie unverhohlen, und ohne von der Anwesenheit der guten Frau Lelia weiter die geringste Notiz zu nehmen, setzte sie hinzu: »Ihr Witz, lieber Herr Hellmuth, wäre zu dickfäustig, falls Sie ihn nicht mit dem alten Sprichwort vom groben Klotz und groben Keil entschuldigen könnten. Sie sehen, ich bin gerecht und noch mehr als das, denn ich mache Ihnen zum Dank für Ihr wohlriechendes Kompliment die Freude, Sie erfahren zu lassen, daß Sie in den nächsten Tagen einen Jugendfreund und vielleicht auch eine Jugendfreundin in unserem Hause werden begrüßen können.«
Sie rauschte weg.
Frau Lelia flüsterte mit einem »immens gefühlvollen« Blick: »Ich danke Ihnen von ganzer Seele!« und schloß sich an eine vorübergehende Freundin an.
Ich wandte den Kopf und erhaschte einen seltsam funkelnden Blick Bürgers, welcher mit zusammengepreßten Lippen dem Fräulein nachsah.
Sie kehrte sich halb nach ihm zurück; einer jener lockenden Blicke, denen so schwer zu widerstehen war, entschimmerte ihrem Auge und ergoß die hohe Stirne meines Freundes mit Freudenhelle.
In diesem Moment bemerkte Bürger, daß ich ihn ansah, und seine Züge gewannen sogleich wieder ihren gewöhnlichen Ausdruck.
Aber es war zu spät! Ich hatte eine Entdeckung gemacht, auf deren Richtigkeit ich einen hohen Eid geschworen hätte – Bürger liebte Julie Kippling!
»Ja,« murmelte der Freund wie selbstvergessend, »sie ist eine Stanhopea, prächtig, berauschend, aber in Fäulnis wurzelnd.«
»Wer?« fragte ich neckend.
»Wer? Wer?« entgegnete er. »Rechne, wer sonst als die Stanhopea da? Wo habt Ihr denn Eure Nase, daß Ihr den Vanilleduft nicht riecht?«
Und er zeigte auf eine prachtvolle Orchis, welche nebenan die bizarr schön gestalteten Blätter ihres üppigen, rötlichgelben Blütenkelches entfaltete, einen wahrhaft berauschenden Duft ausströmend.
»Sie gehört eigentlich zum Geschlecht der Parasiten,« sagte Bürger dozierend, »wächst in den Urwäldern von Brasilien auf modernden Baumstämmen und wurzelt, wie Ihr auch hier bemerken könnt, in faulem Holze; ist aber doch herrlich anzusehen und duftet entzückend – 's ist kla–ar.«
»Ihr meint –« »Ich meine, wir täten gescheiter, einen Spaziergang im Freien zu machen, als uns in diesem Chaos von Blumendünsten ein dummes Kopfweh zu holen. Wollt Ihr.«
Wir verließen die Ausstellung und schlenderten die Straße am Hafen hinauf. Natürlich war ich nicht unzart genug, auf die von mir gemachte Entdeckung weiter anzuspielen, und Bürger seinerseits war augenscheinlich darauf bedacht, den Eindruck, welchen sein Benehmen in einem unbewachten Augenblick auf mich gemacht haben könnte, zu verwischen.
Er zeigte auf einen vorübergehenden Herrn und sagte:
»Seht, das ist der große Balger, welcher unseren Philistern soviel Leibschneiden verursachte.«
»Der berühmte Demokratenchef und sozialistische Agitator?«
»Derselbe. Hat aber ausgedemokrätelt und ausagitiert. Rechne, ist der Mann sehr zahm geworden, seit die liberale Mittelmäßigkeit so pfiffig war, ihn zum Mitglied der Regierung zu wählen – 's ist kla–ar.«
»Aber das war ja nur zu billigen, und es gereicht, meine ich, einer herrschenden Partei zu nicht geringer Ehre, wenn sie einsichtsvoll genug ist, alle tüchtigen, sogar oppositionelle Kräfte für den öffentlichen Dienst, für das allgemeine Beste zu gewinnen.«
»Für das allgemeine Beste? Rechne, Ihr habt wunderliche Marotten. War die sozialistische Agitation in letzter Zeit, im Hinblick auf die Masse unserer Fabrikbevölkerung, den Besitzenden, wenn noch nicht gefährlich, so doch sehr unbequem geworden. Vereinigten sich daher Liberale und Konservative, der Schlange den Kopf abzuschneiden, das heißt den Balger zu einer unschädlichen Antiquität, zu einem Satisfait, will sagen zu einem Mitgliede der Regierung zu machen. Seid Ihr denn noch immer so idealistisch-republikanisch benebelt, um nicht zu sehen, daß die Politik auch bei uns, wie überall, nur ein gemeiner Sesselkrieg ist? Ote-toi de là, que je m'y mette! Das ist die ganze Schnurre – 's ist kla–ar.«
»Ewig Unzufriedener, der Ihr seid! Ich denke, wenn irgend ein Land Europas Ursache hat, mit seinen politischen Einrichtungen im ganzen und großen zufrieden zu sein, so ist es die Schweiz, welcher es durch ein Zusammentreffen glücklichster Umstände in der Verfallzeit des Mittelalters möglich gemacht wurde, aus der zerbröckelnden Hülse des deutschen Reiches als eine Genossenschaft von Freistaaten sich herauszuschälen und seither in stetigem Vorschritt die germanische Idee des Selfgovernment zu verwirklichen.«
»Selfgovernment? Nebel! Sag' Euch, das schweizerische Volk – versteht mich wohl, das Volk – gouverniert sich nicht mehr und nicht weniger selbst als das russische ... 's ist kla–ar.«
»Bah, bah, nur langsam, wenn's beliebt. Eine Demokratie oder, wenn Ihr wollt, ein Selfgovernment à la Jean Jacques wird für alle Ewigkeit eben nur ein Rousseauscher Traum bleiben. Was aber der demokratische Gedanke in verständig-praktischer Gestalt leisten kann, das leistete und leistet er hier bei Euch. Im Kreise Eurer Regierungen mag es menscheln und mitunter mehr als billig menscheln wie überall; es mag auch sein, daß bei Euch, wie ebenfalls überall, hinter patriotischen Phrasen und Mäntelchen vielfach nur die gemeine Habgier oder, wenn's hoch kommt, die gemeine Ehrsucht sich verbirgt; aber trotz alledem, was die meisten, weitaus die meisten der schweizerischen Regierungen in der Reformperiode von 1830 bis heute geleistet und geschaffen, ist so bedeutend, so einleuchtend rühmlich, daß man völlig blind oder völlig verstockt sein muß, um den Vorschritt auf allen Gebieten nicht zu sehen. Das Land bis zu den Hochgebirgen hinauf ist nur ein Garten, in Industrie und Handel nimmt die Schweiz eine der ersten Stellen ein, die öffentlichen Lasten sind nicht drückend, das Armenwesen ist fast überall human organisiert, für Wissenschaft und Kunst geschieht, was geschehen kann, und Ihr habt die beste, freigebigst ausgestattete Volksschule, die es überhaupt gibt.«
»Rechne, Ihr kommt mächtig in Ekstase, so, daß man Euch für einen jüngsten ›Enkel Winkelrieds‹ halten könnte. Ist aber vollends der letzte Trumpf, den Ihr ausgespielt habt, der Schultrumpf, sozusagen, recht zum Lachen. Sag' Euch, wird 'ne Zeit kommen, wo man es bedeutend bereuen wird, dem großen Haufen von armen Teufeln das gelobte Land der Bildung, in welches derselbe ja doch nicht hineinkam, um sich behaglich niederzulassen, so von ferne gezeigt zu haben. Volksschule? Erinnere mich noch ganz gut der Zeit, wo dieses Wort auch zu den übrigen Stichwörtern meiner knabenhaften Begeisterung gehörte. Hab' Euch schon einmal davon gesagt. Ging aber meine Schulbegeisterung flöten, als ich sah, daß auch das Volksschulwesen eben nicht mehr und nicht weniger Windbeutelei sei als alles übrige, und – wartet mal – fällt mir da gerade noch eine gute Geschichte ein, die mit dazu beigetragen hat, mir den ganzen pädagogischen Zukunftsschwindel zu verleiden. War mal drüben im Bihltal in einem Bauerndorfe bei der feierlichen Jahresprüfung gegenwärtig. War nämlich Mitglied der Bezirksschulpflege und hörte mit einer ungeheuren Amtsmiene zu, wie der junge, für seinen Beruf ganz begeisterte Schulmeister die Buben und Meidli über die ganze Enzyklopädie der Wissenschaften examinierte. Endlich kam auch die Weltgeschichte dran und erzählten die Kinder von Cäsaren und Brutussen, daß es 'ne wahre Freude war. Auch im alten Griechenland waren sie daheim und wußten vom Zeus und Apollon und vom pythischen Orakel. Dann war da ein dicker, kurzer, rotbäckiger Junge, der während des ganzen Examens 'ne stupende Gelehrsamkeit entwickelt hatte. Fragte den der Lehrer: ›Du, Ruodi, kannst mir sagen, was ist ein pythisches Orakel?‹ Mein Ruodi, nicht faul, blies die Backen auf und schoß los: ›Ein pythisches Orakel ist ein rundes Loch; da setzt man sich drauf und gibt Sprüche von sich.‹«
»Die Schnurre ist gut, wenn auch vielleicht ein bißchen zynisch,« sagte ich lachend. »Aber was soll damit bewiesen werden? Wahrscheinlich, daß in die Volksschule viel unpassender Lehrstoff hineingeschleppt worden sei. Ich sehe aber nicht ein, was es am Ende schaden könnte, wenn auch die Bauernjungen eine Vorstellung von Orakeln bekämen, eine richtigere und ästhetischere freilich als die Eures Ruodi.«
»Ihr wollt also die Bauern zu Gelehrten machen? Na, Glück zu!«
»Keineswegs, aber wenn Ihr's erlaubt, zu Menschen. Der allgemeine Vorschritt der Bildung –«
»Mit Eurem ewigen Vorschritt! Ist 'ne alberne Illusion! Alles schon dagewesen –'s ist kla–ar. Nur die Formen der Dummheit wechseln, sie selbst war, ist und wird ewig dieselbe sein. Träumt und schwatzt nur vom Vorschritt, ihr guten Leute und schlechten Musikanten: der gescheite, der eminent gescheite Goethe hatte dennoch recht, den Phantasten seiner und aller Zeiten zuzurufen:
Es bleibt doch nach wie vor
Mit ihren hunderttausend Possen
Die Welt ein einz'ger großer Tor.«