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Die nächsten Tage brachten nichts Ungewöhnliches; denn daß Herr Oskar Ziegenmilch jetzt täglich und stündlich in unserem Kontor aus und ein ging und mit den beiden Herren Kippling lange Konferenzen hatte, war ganz in der Ordnung. Es mußte ja die große Köhlerei für den Köhlerglauben des spekulierenden Publikums zuwege gemacht werden.
Herr Theodor, welcher täglich zur Stadt kam, verkehrte viel mit dem Rittmeister, Freiherrn Berthold von Rothenfluh, der übrigens den Ton der Vertraulichkeit, welchen der Sohn des Millionärs gegen ihn anschlug, offenbar nur duldete, nicht aber erwiderte. Ich sah in dem Bezeigen von Herrn Kippling dem Jüngeren vorderhand nur die bekannte Neigung des Geldprotzenpöbels, mit adeligen Bekanntschaften Parade zu machen, sollte aber später erfahren, daß hierbei weit ernstere Motive mitspielten.
Herr Kippling der Ältere behandelte seinen freiherrlichen Gast mit Zuvorkommenheit, aber ohne Zudringlichkeit. Er hatte, abgesehen von anderen Kalkulationen, in welchen Berthold eine Ziffer darstellte, vielleicht nichts dagegen, den schönen Kopf seiner Tochter mit einem Freiherrnkrönlein geschmückt zu sehen; aber er tat nicht dergleichen, als wäre so ein Krönlein eine Sache, um deren Erlangung man sich besondere Mühe zu geben brauchte.
Fräulein Kippling wollte dem Rittmeister gefallen, das war sicher, und sie war viel zu aufrichtig, oder wenn man will, viel zu übermütig, es verbergen zu wollen. Ihr Benehmen spielte in den brillantesten Farben; aber sie hatte es mit einem Spieler zu tun, der kein Neuling war und, wie er ja selbst geäußert, sich's nicht umsonst so viel hatte kosten lassen, die Frauen kennen zu lernen. War es Politik, war es eine aus der Gewohnheit, zu siegen, entsprungene lässige Sicherheit, genug, Berthold verhielt sich gegen das reizende Mädchen zurückhaltend. Er erschien zuweilen trübe, sogar finster, gewöhnlich aber vornehm sorglos. War ich zugegen, so unterhielt er sich fast ausschließlich mit mir, als wollte er recht deutlich zeigen, daß er vor den Besitzern von Millionen eben nicht mehr Respekt habe, als der Anstand und seine Stellung als Gast unumgänglich notwendig machte.
So war eine halbe Woche vergangen, als eines Tages, da wir vom Mittagstisch aufstanden, Fräulein Kippling ohne weitere Einleitung zu mir sagte:
»Herr Hellmuth, ich weiß, Sie haben ein Auge für Gemälde. Man hat mir eine Kopie der Riedelschen Sakuntala zum Kauf angeboten. Sie steht auf meinem Zimmer. Wollten Sie die Güte haben, mir Ihre Ansicht über das Bild zu sagen?«
»Zu Befehl, mein Fräulein.«
»Gut. Kommen Sie im Laufe des Nachmittags. Mein Mädchen wird Sie empfangen, und ich zeige Ihnen dann das Gemälde.«
Ich verbeugte mich. Herr Kippling der Ältere warf einen mißbilligenden Blick auf seine Tochter, die aber keine Notiz davon nahm. Herr Kippling der Jüngere kniff die Mundwinkel ein und schielte nach Berthold. Dieser sah gleichgültig drein und erinnerte Herrn Bürger an dessen Versprechen, ihm gelegentlich seine Waffensammlung vom ostindischen Archipel zu zeigen.
Auf dem Wege zum Kontor sagte Bürger zu mir:
»Rechne, Ihr seid noch nicht ganz ausgewischt auf der Herzenstafel von Donna Julia, mein Junge – 's ist kla–ar.«
»Bah, lieber Freund,« entgegnete ich, »Ihr und ich nehmen auf der besagten Tafel nur ganz bescheidene Ecken ein. In der Mitte prangt dermalen ein –«
»Von, überwölbt von einer Freiherrnkrone, ganz recht! Rechne, geht mich, wie Ihr wißt, die ganze Komödie nichts an.«
»Verzeiht, das weiß ich doch nicht so ganz.«
»Seid Ihr toll? Rechne, Ihr meint, weil Ihr selber närrisch, müßten es andere auch sein ... Wollte übrigens sagen, auch dieser freiherrliche Akt der Posse geht mich nur soweit an, als er höchst ergötzlich ist. Kann Euch das Auftreten dieses Eures Cäsars von Landsmann, welcher kam, sah und siegte, recht augenscheinlich beweisen, daß wir schweizerischen Republikaner keineswegs so demokratisch-unkultiviert sind, den Adel abschaffen zu wollen. Ist bei uns jeder Graf oder Baron, der unser Land mit seiner Gegenwart beglückt, co ipso ein großes Tier. Titulieren sich daher die Gauner, welche unsere republikanische Einfalt ausbeuten wollen, immer Grafen oder Barone. Wissen, daß ihnen das Kredit verschafft, ganz ungeheuren, besonders bei unseren Republikanerinnen. Könnte Euch in dieser Richtung höchst amüsable unglaubliche und dennnoch ganz wahre Geschichten erzählen. Habe aber jetzt keine Zeit dazu und ermahne Euch nur noch feierlichst, beim Anblick der fraglichen Sakuntala Euern Verstand besser zu Rate zu halten als weiland der strohherzige König Duschmanta.«
Einige Stunden darauf öffnete mir die Zofe Julies das Zimmer ihrer Herrin, und ich sah mich in demselben allein.
Ich beschreibe nicht die blendend luxuriöse Einrichtung dieses Gemaches, welches der launischen Schönen als »Arbeitszimmer« diente – als Arbeitszimmer, du lieber Gott! Alle diese Pracht, alle diese tausenderlei Spielereien des Reichtums und der Verschwendung bildeten ein chaotisches Durcheinander. Ich mußte unwillkürlich an die edle Harmonie, an die keusche Heimeligkeit des einfach möblierten Zimmers denken, welches Isolde auf dem Lindachhof bewohnte. Dort das Ganze ein Zeugnis von dem Walten einer maßvollen und durchgebildeten Weiblichkeit, hier lauter Wirrwarr, Unruhe, Widerspruch. Man sah den Möbeln, den Stickrahmen, den Blumentischen, den da und dort zerstreuten Prachtbänden von Büchern, der in einer Ecke stehenden Staffelei mit einer halbfertigen Farbenskizze – allem sah man an, daß die schöne Bewohnerin ohne irgend ein tieferes Interesse und nur, um der Langweile zu entfliehen, alles und jedes mit Hast ergriff, um es sofort mit Überdruß wieder beiseite zu stellen oder geradezu beiseite zu werfen. Hier, das konnte man deutlich fühlen, hauste ein verzogenes Kind des Glückes, welches von früh auf gewöhnt worden war, mühelos seine Wünsche, alle, alle, erfüllt zu sehen, welches niemals auch nur die entfernteste Ahnung davon erhalten, was es heißen wolle, »sein Brot mit Tränen zu essen«, und welches daher folgerichtig dazu kommen mußte, das Schicksal nur für eine Kaprice, das Leben nur für einen unterhaltenden Spaß anzusehen.
Am meisten fiel mir der Schmuck der seidenen Wände des Zimmers auf, welchen vier vortreffliche Kopien von Originalen der Dresdener Galerie ausmachten. Die Wahl dieser Bilder frappierte mich. Es waren Potiphars Weib von Cignani, die badende Susanna von Paul Veronese, das Urteil des Paris von Rubens und Danae von van Dyck – also lauter Kunstwerke höchsten Ranges, aber –
»Ich weiß, was Sie beim Anblick dieser Gemälde denken, lieber Freund,« unterbrach mich die Stimme von Fräulein Julie, die unbemerkt durch eine Seitentüre eingetreten war, in meinen Betrachtungen.
»Was denn, Fräulein?«
»Daß Sie nicht erwartet hätten, solche Bilder in dem Zimmer eines jungen Mädchens zu finden.«
»Aufrichtig zu sein, es war etwas dergleichen.«
»Ja, so sind die Männer. Sie glauben alle, das Schöne sei nur für sie allein da. Was die Frauen angeht, so haben sie für ihre alberne Prüderie wenigstens ihre durchschnittliche Unkultur als Entschuldigung anzuführen. Aber männliche Selbstsucht oder weibliche Heuchelei, sie sollen mir nicht verwehren, mein Auge an der Schönheit zu werden, und wäre es auch, wie in diesen Gemälden, die Schönheit meines eigenen Geschlechts. Unsere Zeit haßt das Nackte, weil sie selbst soviel zu verhüllen hat, nichts Schönes, aber Häßliches.«
»Da haben Sie recht.«
»Sehen Sie, mein Bester, wir stimmen eigentlich doch in vielem zusammen und werden, glaub' ich, mit der Zeit, immer bessere Freunde werden ... Aber ich bemerke, daß Sie sich nach der Sakuntala umsehen. Ich habe das Bild bereits weggeschickt. Es war nur eine Sudelei, der Kopist hatte sich an dem schönen weißen Leib der Tochter Kalidafas schmählich versündigt, und dann ist ja die ganze Sakuntalageschichte nur ein Vorwand gewesen, Sie hierher zu bringen, damit ich Sie um eine Gefälligkeit bitten könnte.«
»Bitten? Das ist Überfluß.«
»Wie galant! Es scheint, wo bei Ihnen die Liebe aufhört, fängt die Galanterie an.«
»Julie!«
»So hätten Sie mich zu einer anderen Zeit anreden müssen, lieber Freund. Damals, als ... genug, jetzt ist es zu spät und es ist wohl am besten so, für Sie und für mich ... Aber vor allem zu meiner Bitte. Haben Sie von der Gesellschaft der Söhne Mammons reden hören?«
»Ei, meiner Treu, der begegnet man ja auf der Straße.«
»Allerdings, aber es gibt noch eine spezielle Gesellschaft dieses Namens in hiesiger Stadt.«
»Von dieser weiß ich nichts.«
»Hat Ihnen Herr Bürger nie davon gesagt?«
»Nein.«
»Nun, er wird der Posse überdrüssig sein, wie das in seinem Alter leicht erklärlich ist. Wenn man alt wird, kommt man zu Verstand, sagen die Leute.«
»Aber Herr Bürger ist ja noch gar nicht so alt –«
»Daß er mein Großvater sein könnte? Nein, aber doch alt genug, daß er mein Vater sein könnte, was aber meinen wirklichen Vater nicht abhielt, heimlich zu wünschen, ich möchte Bürgers Frau werden. Vielleicht wäre das auch das Klügste, was ich tun könnte. Einmal muß unsereins doch heiraten, und von euch allen liebt mich doch keiner so fest und brav wie der gute alte Junge, der sich einbildet, ein Mephisto zu sein und die beste Seele von der Welt ist. Aber es ist etwas Entsetzliches um die Langweile, nicht wahr? Und ich fürchte, bei Bürgers ehrenfester und solider Liebe müßte ich vor Langweile blödsinnig werden. Nein, nein, ich kann ihm nicht helfen. Warum ist er ein so fürchterlich tugendhafter Biedermann? Doch zum Text zurück! Die Söhne Mammons sind eine geschlossene, aus der Blüte – 'ne saubere Blüte, beim Himmel! – unserer Jeunesse d'orée bestehende Gesellschaft, die sich größerer Exklusivität wegen mit etwelchem mystischen Hokuspokus umgeben hat. Mein Bruder ist auch dabei und gegenwärtig, wie sie es in ihrem Jargon nennen, Oberpriester im Tempel Mammons, wie das Gesellschaftshaus heißt. Es steht drunten am Fluß, in einer einsamen Bucht, durch einen großen, dichtbebuschten Garten, der es umgibt, vor profanen Blicken gesichert. Nur Herren können Mitglieder der Gesellschaft sein, aber jeder Herr hat das Recht, Damen, soviele er will, in den Tempel Mammons einzuführen, wo reizende Feste gefeiert werden sollen. Heute ist Freitag. In der Nacht vom künftigen Montag auf den Dienstag wird so ein Fest statthaben, ein großes Maskenfest zum Schluß der Wintersaison. Ich habe die Laune, diesem Fest beizuwohnen, und Sie sollen mich hinführen.«
»Ich?«
»Sie!«
»Aber warum gehen Sie nicht Ihren Bruder an?«
»Meinen Bruder? Ist das ein Mensch, den ich um etwas angehen möchte? Wo denken Sie hin! Und dann, ich will unerkannt wieder von dort weggehen, wie ich maskiert hingehe – verstehen Sie?«
»Wohl, aber wie soll ich –«
»Hören Sie nur. Vor jeder Versammlung der Gesellschaft wird sämtlichen Mitgliedern ein Paßwort ausgeteilt, welches als Eintrittskarte dient. Jeder, der im Besitze dieses Paßwortes ist, gilt als eingeweiht. Herr Bürger wird Ihnen das lächerliche Geheimnis gerne mitteilen, wenn Sie ihn darum ersuchen: er hält ja große Stücke auf Sie.«
»Gut, wir wollen annehmen, Herr Bürger sei willfährig. Aber entschuldigen Sie, Fräulein, wenn ich die Befürchtung ausspreche, daß sorgliche Väter Ursache haben dürften, die Anwesenheit ihrer Töchter in einem Tempel, dessen Oberpriester Herr Theodor Kippling ist, nicht eben zu wünschen.«
»Ach, wie zart um meine Tugend besorgt! Beruhigen Sie sich, mein Bester. Das ist meine Sache.«
»Gewiß! Aber ließe sich nicht auch der Fall denken, daß Herr Gottlieb Kippling vor oder nach dem projektierten Abenteuer davon erführe und der Meinung wäre, es sei nicht die Sache seines Kommis, seine Tochter in den Tempel Mammons zu führen?«
»Aha, mein Herr, Sie sind um Ihre gute Stelle in meines Vaters Kontor bange?«
»Fräulein Kippling, Sie sind kein Mann. Sie dürfen mich also ungestraft beleidigen, obgleich Sie, gerade Sie wissen könnten, daß ich nicht gemein denke.«
»Sie haben recht, Hellmuth. Verzeihung! Ich sprach albern und, ach, ich fürchte hinterdrein, daß ich von Anfang an albern gegen Sie gehandelt habe. Es wäre vielleicht alles anders und besser gekommen. Hätten Sie nur gewußt, wie wild glücklich mir zumute war, als ich Sie an jenem Theaterabend plötzlich wiedersah, und hätte ich dann meinerseits nur gewußt, wieviel Trauriges Sie unmittelbar zuvor erlebt hatten. Ich würde ... doch was soll jetzt das alles? Genug, ich konnte Sie nie für gemein gesinnt halten, denn ich habe Sie geliebt.«
»Julie!«
»Nicht so, nicht diese Beschworungstöne, mein Freund. Es ist vorbei, und wir wandeln den Weg von der Freundschaft zur Liebe in umgekehrter Richtung. Wollen Sie mein Freund sein?«
»Ich war es immer.«
»Sie sagen die Wahrheit, denn Liebe, solche Liebe, wie ich will, eine der Welt und des Lebens spottende, himmelan lodernde und höllentief brennende, ein seliges Paar mit jauchzenden Flammen verzehrende Glut – ach! ein solches Gefühl haben Sie nie für mich gehegt. Ich fühlte das wohl, selbst unter Ihren Küssen. Sie waren bereit, für mich in den Tod zu gehen, ich weiß es, ich erprobte es – und doch – seltsam! – besaß ich nur Ihre Augen. Ihr Herz besaß eine andere.«
»Eine andere?«
»Isolde von Rothenfluh ... Als ich in jener Nacht, wo ich eine tolle Laune fast mit dem Leben bezahlt hätte, durch Sie, mein Freund, in des Daseins süße Gewohnheit zurückgerufen wurde und in halb, ja ganz wahnsinnigem Entzücken an Ihrem Halse hing, da trat Isolde zwischen uns, denn sie, nicht ich lebte in Ihrem Herzen. Wenn ich es gewußt, hätte ich sie vielleicht daraus verdrängen können, so ich gewollt – Sie sehen, ich habe meiner Eitelkeit keinen Hehl – aber wie eitel, wie übermütig auch immer Julie Kippling sein mag, sie hält es für keine Schmach, um Isoldes willen verschmäht worden zu sein.«
»Sie haben Isolde kennen, schätzen, lieben gelernt, Isolde?«
»Ja. Sie ist so schön, so hochgesinnt, so hochgestimmt und doch so wahr, so einfach gut und lieb, daß man glauben möchte, sie müsse von Shakespeare oder Goethe gedichtet sein. Was für ein Sünder muß ihr Bruder sein, um von einer solchen Schwester mit scheuer Abneigung, fast mit Furcht angesehen zu werden!«
»Und Isolde sprach mit Ihnen von mir?«
»Ah, wie Ihr Auge leuchtet, lieber Freund, seit ich den Namen Isolde genannt! Ja, sie sprach mit mir von Ihnen, einfach-herzlich und klar, wie all ihr Wesen ist. Sie sprach mit mir von Michel Hellmuth, wie von einem Manne, dem sie durch einen von keinem Ohre, selbst von ihrem eigenen nicht, gehörten und dennoch heiligsten Schwur verbunden sei. Sie sagte das nicht, sie sagte überhaupt nichts von Liebe; aber den Mann, von welchem Isolde von Rothenfluh so spricht, wie sie von Ihnen sprach, muß sie lieben – es kann nicht anders sein.«
»Teure Julie, wie schön steht Ihnen diese neidlose Begeisterung!«
»Ja, sehen Sie – es ist recht sonderbar – Isolde hat es mir angetan. Ich glaube, daß ich in ihrer Nähe zum erstenmal in meinem Leben wirklich gut und liebenswürdig gewesen bin. Ich bin anders geartet als Isolde, ich kann nie so ein Wesen werden, in welchem, wie in ihr, die innigste Naturwahrheit mit dem lautersten Idealismus verschmilzt; meine Art und Weise, das Leben zu nehmen und zu behandeln, meine Wege müssen andere sein, aber dennoch hat es mir bis in das innerste Herz hinein wohlgetan, daß ich Isoldes Zuneigung gewann ... Man kann nicht unwahr sein ihr gegenüber. Ich habe ihr unsere ganze Geschichte erzählt, selbst das nächtliche Abenteuer auf dem See nicht ausgenommen; aber Sie brauchen deshalb nicht zu erschrecken, mein Freund, denn ich konnte ja Isolden mit voller Wahrheit sagen, daß Sie ihr nur auf Momente und nur mit den Augen oder allenfalls noch mit den Lippen, nie aber mit dem Herzen treulos gewesen.«
»Und was sagte sie dazu?«
»Sie war doch tief ergriffen, trotz all ihrer edlen Gefaßtheit. Aber dann sagte sie mit ihrem süßen Lächeln: ›Wenn ich Michel Hellmuth gewesen wäre, so würde ich auch mein Leben daran gesetzt haben, dich den Fluten zu entreißen und mich von dir zum Danke küssen zu lassen‹«
»Gesegnet sei sie für solche Milde und Huld!«
»Ja, sie sei es! ... Sehen Sie, mein Freund, Isoldes Liebe ist so eine wie jene, von der im Hohenliede geschrieben steht, daß sie stärker sei als Tod und Hölle ... In jener Stunde habe ich Ihnen verziehen, Michel, und das bitterzornige Gefühl verschmähter Neigung wich dem Wunsche, dem Geliebten Isoldes von Rothenfluh wenigstens als Freundin nahezustehen!«
»Gesegnet seien auch Sie für solche Großmut!«
»Ja, warten Sie – ich glaube fast, ein Funke, wenn auch nur ein kleiner Funke von Isoldes Wahrhaftigkeit ist auf mich übergegangen – meine Resignation war nicht so ganz selbstsuchtslos, wie sie im ersten Augenblick erscheinen könnte ... Ihr Jugendfreund, der Freiherr von Rothenfluh, hatte einen bedeutenden Eindruck auf mich gemacht –«
»Und doch deuteten Sie vorhin an, daß Sie ihn für einen großen Sünder halten?«
»Was tut das? Ich frage nicht nach seiner Vergangenheit oder vielmehr, ich könnte ihn, so bizarr das auch klingen mag, gerade um dieser seiner Vergangenheit willen lieben ... So bin ich nun einmal, und Ihnen, dem Freunde, darf ich sagen, daß ich so bin ... Ich habe immer eine Schwäche für die Helden Byrons gehabt, vor denen die gespreizte Tugendlichkeit und die dumme Prüderie öffentlich ein Kreuz schlägt, während sie im geheimen dieselben doch sehr interessant findet. Sehen Sie, ich bin keine Heuchlerin, und wenn ich kokettiere, so tue ich es wenigstens mit Bewußtsein, nicht bloß aus Dummheit oder Gemeinheit, wie soviele andere ... Ja, ich habe eine Passion für diesen schönen Sünder, Ihren Jugendfreund. Möglich, daß die Passion sich zur Leidenschaft potenziert. Er erscheint mir wie der Giaur oder wie Lara und dann – der Freiherr von Rothenfluh kann mich mit Hilfe von meines Vaters Geld in eine gesellschaftliche Stellung bringen, die meiner Neigung für Lust, Glanz, Zerstreuung und Intrige entspricht... Da haben Sie die ganze Beichte von Julie Kippling. Und nun – Herr von Rothenfluh wird durch meinen Bruder zu dem Maskenball der Söhne Mammons geführt werden, und so wissen Sie, warum auch ich dabei sein will. Wollen Sie mir zur Erfüllung meines Wunsches verhelfen?«
»Ich werde mein möglichstes tun.«
»Gut. Geben Sie mir morgen oder spätestens übermorgen nach Tisch einen Wink, wie weit Sie mit Herrn Bürger sind, der aber, wohlverstanden! nichts von meiner Absicht wissen soll. Über das Weitere werde ich Sie dann bei guter Zeit verständigen.«
»Ich werde Ihrer Befehle harren,« sagte ich und verbeugte mich zum Abschied.
Sie reichte mir aber die Hand, und als ich dieselbe einen Augenblick festhielt, neigte sie sich lächelnd zu mir, bot mir den rosigen Mund und sagte:
»Da nimm! ... So, das wäre der erste Freundschaftskuß gewesen und er soll überhaupt unser vorletzter Kuß sein. Den letzten geb' ich dir am Vorabend von deinem oder meinem Hochzeitstag.«