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Zweiter Teil

Olivenland

Auf einmal wimmelte es im Zug von weißgekleideten Frauen mit roten Hüten, roten Mündern, gleich darauf tauchte das Meer auf. Es war hartblau und blitzte.

Was sollte man aber von dem jungen Mann halten, der da plötzlich vom Polster aufsprang und sich mit ausgestreckten Armen ins Fenster legte, als wollte er das Meer oder doch zum mindesten die roten Felsen, an die es rührte, mit den Händen greifen? Sicher zählte er seine einundzwanzig Jahre, eher etwas mehr als weniger, und benahm sich gedankenlos wie ein Knabe.

Im Abteil saß noch ein holländisches Ehepaar, seit Stunden blinzelte es schlaftrunken vor sich hin. Als nun der junge Mann sich umdrehte, lachte er es laut an, hahaha! lachte er, völlig grundlos und recht eigentlich erschreckend, und nickte erst Mevrouw, dann Mijnheern ausschweifenden Blickes zu. Sie wischten sich über die Augen und rückten ein wenig das Gesäß, um nach dem Anlaß des plötzlichen Alarms auszuspähen. Da war der junge Mann bereits zwischen ihren Knien auf den Gang des ins Blaue rasenden Zuges hinausgeschlüpft.

Ja, das war Claus Breuschheim, der, vom Licht des Südens mächtig berührt, sich wieder einmal in einem D-Zug umsah, was Märchenhaftes darin los sei. Jetzt, wo die Fahrt den offenen Himmel streifte, mußten auch die Menschen sich irgendwie ihrer irdischen Staubhülle entäußert haben, und in der Tat begegnete Claus in den Wagengängen lauter neuen Gestalten von zartestem Körperbau und entschlossenem Ausdruck. »Im Feuer versilbert«, fiel ihm ein, da er die schmalen harten Hälse, die dünnen, aber wie sich bei jeder Bewegung erwies, überaus festen Schulteransätze, Knie und Fesseln betrachtete, und damit meinte er nicht nur die Verbindung von Kraft und Grazie, sondern auch die weit getriebene und anscheinend sprungfeste Politur der Erscheinung. Alle diese Frauen waren weißgekleidet und trugen kleine rote Hüte oder Turbane, und alle hatten einen tollen roten Mund. Ihre Begleiter hüteten sie mit männlichem Gewicht, zuweilen auch mit Musik. Claus mußte achtgeben, daß er nicht auf Schritt und Tritt hahaha! lachte und den aus dem Blauen in den Zug geschneiten Engeln ebenso vertraulich zunickte wie jenen Leuten aus der alten Welt, den Holländern in seinem Abteil.

Ja, das war Claus Breuschheim, hochgeschossen in den Jahren, sogar etwas gebückt, ein Mann jetzt und doch noch ein Kind. Ein Mann, immerhin, ein gewesener deutscher Soldat, auch schon verlobt, ein gebrochener Soldat aber, den man mit einem knapp ausgeheilten Lungenspitzenkatarrh in den Süden entlassen hatte, in den welschen Süden, bitte, und als Bräutigam ein Liebhaber, der noch mit keinem ernsten Gedanken der Ehe nahegetreten ... Ja, das war ich, und hoch im Norden, in Köln, träumte ein Mädchen von mir, Doris, meine Braut, Doris von Kieper, wir waren uns in die Arme geflogen, ohne etwas voneinander zu wissen. Ich hatte sie auf einem Offiziersball kennengelernt, in Köln, meiner zweiten Garnison, wir setzten sofort mit einem phantastischen Duett ein, erwählten uns auf der Stelle, nach einer Minute Heimlichkeit traten wir ohne Scheu vor die Welt, selbst in Köln hatte man so etwas noch nicht gesehen – wir waren nicht wenig stolz darauf. Noch während des Balles fuhr ich sie mit ihrer Schwester Pia nach Hause. Als um Mitternacht die Eltern nachfolgten, fanden sie uns bei einem improvisierten Verlobungsessen versammelt: Doris, Pia, mich, sowie Arno von Steinberg und eine Freundin der Mädchen, die telephonisch herbeigerufen worden waren. Und dann ging es sehr lustig her, wir »kämpften« gegen unsre Familien. Die Familien nämlich erklärten mit feierlicher Verschämtheit, wenigstens meine Volljährigkeit abwarten zu wollen, bevor sie sich aussprächen – welch eine sprudelnde Quelle der Heiterkeit für uns drei, Doris, Pia und mich, diese halb erschrockenen, halb entzückten und ganz verwirrten Ahnen, die taten, als ob sie Schicksal spielten!

Jedoch bei einer Nachtübung holte ich mir einen Lungenspitzenkatarrh, lag fiebernd und gar nicht mißvergnügt im Bett, Ärzte kamen und gingen, schließlich trat ein berühmter Professor auf, der nickte freundlich und schickte mich in den Süden.

»Ihnen fehlt nur noch gute Luft und Sonne,« sagte er, »dann können Sie es leicht bis zum General bringen, das heißt: wenn Sie wollen.«

Ich wollte nicht.

Ich erbat meine Entlassung und erhielt sie. Zum Soldaten war ich nicht geboren, nein, das gewiß nicht. Schon der Gefreitenknopf hatte mich verlegen gemacht vor Gott und den Menschen. Bald kam ich mir als ein verabscheuungswürdiger Tierbändiger vor, bald als Verräter an meinen Landsleuten wie an Kaiser und Reich. Offen heraus, ich liebte die Uniform nicht, der Soldatenstand schien mir die verzwickteste und bösartigste aller menschlichen Einrichtungen, und der Soldatenstand erriet wohl meine Abneigung, er gab mir voll heraus, auf Heller und Pfennig.

Der das vor allen andern besorgte, war der Rittmeister von Stulpnagel, Eskadronchef bei den Straßburger Husaren. Bei denen war ich mit Arno Steinberg zusammen als Einjähriger eingetreten, leichtsinnig, wie es meine Art war, weil nun einmal die Husaren in Straßburg lagen, und ohne zu ahnen, daß in dem Regiment der Teufel kommandierte. Und gerade in seine Eskadron ward ich gesteckt, in des Teufels Eskadron, in keine andre. Der Wachtmeister half mir, wie er konnte, nur fand sich keine Gelegenheit, den Stulpnagel zu ermorden. Dafür, meinte der Wachtmeister, müßten wir erst Krieg haben, aber das könne er mir versprechen, fügte er hinzu: sobald die ersten Kugeln pfiffen, führe der Rittmeister von Stulpnagel in die Hölle zurück, von wo er gekommen. Bob, der zuweilen in seiner Wolke angereist kam, um Frau Camilla Steinberg darin aufzunehmen und für kurze Zeit mit ihr zu verschwinden, kündete mir an, daß dieser Augenblick, der Krieg, sichtlich näherrücke.

Einmal stiegen wir zu dritt in Bobs Wolke ein, Maria, Frau Camilla und ich, die Wolke ließ sich in einem Schwarzwaldtal nieder, Bob und Frau Camilla gurrten und schliefen in Büschen, verschwiegenen Winkeln, Maria aber drohte. Wenn Strata es nicht verhindere, versicherte sie, so könnte der Krieg, der große Krieg, jeden Tag ausbrechen. Dann wäre es um mich geschehn. Bei diesem Gedanken lachte sie! Dafür, dachte ich, hätte sie die große Reise nicht zu machen brauchen, darüber hätte sie auch ganz allein in Rom lachen können. Warum dann das Gerede, daß sie es »vor Sehnsucht nach mir nicht mehr ausgehalten« und mit Bobs Hilfe eine »Riesengeschichte aufgemacht« habe, nur, um mich einen halben Tag zu sehn?

Strata, fragte ich, ein kleiner italienischer Volksmann, den Krieg verhindern? Strata, erwiderte sie, Strata? Der konnte Minister werden, wenn er wollte! Strata? Der hatte nicht nur die italienischen Arbeiter, sondern die Arbeiter der ganzen Welt in der Hand! Bob kannte ihn, Bob stellte sich gut mit ihm, wegen seiner Automobilfabrik in Mailand – Strata, mußte ich wissen, war von Turin nach Mailand übergesiedelt, und Bobs Fabrik beschäftigte mehrere hundert Arbeiter! Ich erklärte, die Übersiedelung Stratas von Turin nach Mailand ließe mich kalt, was sie herzlos fand.

Doch Maria drohte nur mit dem Krieg, ganz wie sie mit einem italienischen General drohte, den sie angeblich heiraten wollte – da war es nun an mir zu lachen. Ein General? Maria! Der mußte doch schon hoch in den Jahren sein, und was war aus ihrem Fürsten geworden? Den meinte ich, der in den Sternen stand! ... Nun, der General entstammte mütterlicherseits einer fürstlichen Familie, und er hatte kaum die fünfzig überschritten. »Der General? Ach, mein armer kleiner Claus, welch ein Mann!« Übrigens wartete er ungeduldig auf ihr Jawort, der Schlaf floh ihn, seitdem er sie gesehn, er war schön wie Herkules. Wie gesagt, sie drohte mit Strata, sie machte sich über Viviane lustig, die ihr vor Jahr und Tag anvertraut hatte, sie werde »mir ewig die Treue halten«, die Arglose, und die jetzt einen französischen Offizier geheiratet hatte; das Lachen verging mir; sie drohte mit ihrem General; seit dem verregneten Wiedersehn in Venedig vor vier Jahren hatten wir uns nicht mehr geküßt; es war das Ende.

»Warum lachst du denn so töricht?« fragte ich.

Ja, sagte sie ernst, wie sollte sie denn auch nicht lachen, hier säße sie, Maria, und da säße ich, Claus, die Hälfte des halben Tages, der uns gehörte, sei verstrichen, und ich fände nichts Besseres zu tun, als mich von ihr aufziehn zu lassen.

»Nein,« sagte ich verstockt, »in der Tat, ich finde nichts Besseres zu tun.«

Was konnte das bedeuten? Es bedeutete – mochte es bedeuten, was es wollte, ich treibe hier keine Psychologie! Ich erklärte es mir so: die ungleiche Strömung der Jahre hatte uns auseinandergeführt, unsere immer selteneren Zusammenkünfte waren nur gut gewesen, die wachsende Entfremdung festzustellen, so erklärte ich es mir, in diesem Augenblick glaubte ich sogar klar zu erkennen, in wie »natürlicher, vernünftiger Weise« wir uns von Anbeginn gegeneinander gewehrt hätten.

»Maria,« schlug ich vor, »ich meine, es wäre jetzt an der Zeit, daß wir gute Freunde würden –«

Weiter kam ich nicht, sie lachte wieder wie außer sich, ja, sie warf sich auf den Rücken ins Gras, dort lag sie und lachte mit ihrem schweren, bebenden Mund in den Himmel.

Bob und Frau Camilla traten auf die Waldlichtung. »So oder so,« meinte Maria, indem sie sich erhob und ihrem Rock einige Klapse versetzte, »es kommt Krieg, und der wird schon alles in Ordnung bringen.« Dabei beobachtete sie mich aus den Augenwinkeln, ob ich mich fürchtete, aber ich fürchtete mich nicht im geringsten vor dem Krieg. Er schien mir noch lange nicht das Schlimmste, konnte er mich doch vom höllischen Stulpnagel befreien. Wer konnte sich denn damals vorstellen, was das war: der Krieg!

»Maria,« murmelte ich, »denk' daran, ich lebe schlimmer als ein Sklave.«

Wahrhaftig, da schossen ihr Tränen in die Augen, es dauerte nur eine Sekunde, doch ich sah es, sah es deutlich, eine Sekunde, da rief sie ihrem Bruder lachend entgegen: »Bob, das Militär hat unserm Jungen den Rest von Verstand geraubt, ich bin unglücklich, er liebt mich gar nicht mehr – und ich ihn auch nicht!« Sie warf sich Frau Camilla in die Arme, es sollte ein scherzhafter Auftritt sein, indes der Heimweg verlief still und traurig, wir saßen alle vier wie hinter Schleiern.

Tags darauf verließ Frau Camilla auf immer die eheliche Wohnung. Der Baron reichte die Scheidung ein und ging in Urlaub. Aus dem Urlaub kehrte er heim nach Posen. Ganz Straßburg sprach von dem Skandal, und die Elsässer erklärten sich scheinheilig für neutral, wobei sie zugaben, eine Dame, die das Schicksal vor die Wahl zwischen einem preußischen Staatssekretär und Tyrannen und einem italienischen Marquis und Großindustriellen stelle, dessen Ehrenhaftigkeit die Breuschheim und die Bock gewissermaßen verbürgten, eine solche Dame könne sehr wohl »in letzter Stunde zu einer Verzweiflungstat getrieben werden«. Wilhelm Tell war ein Mann, und er hatte Schlimmeres getan. Außerdem hatte die Baronin als Gattin eines Protestanten und protestantisch getraut, streng gesehn, in keiner kirchlich gültigen Ehe gelebt. Arno verließ die Husaren und trat in ein Kölner Infanterieregiment ein.

Natürlich schloß ich mich ihm an, meinem einzigen Freund in der Hölle. Mit viel Mühe gelang der Streich, gemeinsam entflohen wir dem Stulpnagel und seinem Marterreich. Und über Köln, über Köln ging die Erlösungssonne mir auf wahrhaft »Gottes Herz«, über Köln, – mit erhobenen Armen taumelte ich hinein!

Als ich Maria meine Verlobung mit Doris mitteilte, erhielt ich erst keine Antwort. Nach etwa drei Wochen, ich lag krank in meiner Wohnung, Doris und Pia pflegten mich, kam eine gedruckte Karte, das Zirkular der Familie Capponi, das Freunde und Bekannte von der kirchlichen Trauung ihrer Tochter Maria mit dem General X. benachrichtigte. Die Adresse war von Marias Hand geschrieben, dafür wenigstens wußte ich ihr Dank ...

Die Holländer im Rivieraexpreß sahen beunruhigt den offenbar nervenkranken jungen Mann in das Abteil zurückkehren. Ja, das war ich, der junge Mann, aufgeschossen in den Jahren, ein wenig blaß noch, mit fiebrigen Schläfen, nicht im geringsten nervenkrank, ein wenig gebeugt nur, kein Soldat mehr, ein freier Mann, der mit beiden Armen das Tor des Lebens aufstieß, und sieh nur! da legte ein zärtliches Meer großen, rothäutigen Felsen winzige Schaumkränze vor die Füße, in der Höhe stand, flammende Zuversicht, die Sonne, zwischen Meer und Sonne ging die Fahrt, sie schlitzte den Himmel auf, es schneite weiße Engel, weiße Engel mit einem roten Tupfen im Gesicht und einem roten Helmschein darüber, ja, das war wohl ich, ich, der mit lautem Lachen und heimlichem Jubelruf an der Côte d'Azur, zu deutsch: der himmelfarbenen, der himmelblauen, der himmlischen Küste vorfuhr!

Bob hatte geschrieben: »Geh nicht in ein Sanatorium! Es würde dich nur aus deiner provinziellen Enge in eine andre, gefährlichere führen. Komm hierher –«

 

In Cagnes-sur-mer, einer kleinen Station vor Nizza, wo ich ausstieg, äugte ich vergeblich nach L'Amico, der mich hier erwarten sollte. Als ich mich schließlich hinter zwei Engländern auf die ramponierte Trambahn setzte, brach diese unversehens mit betäubendem Gepolter auf, so daß wir alle erschraken. Aber auch der Schaffner erschrak, denn dicht vor uns bremste ein Auto, in das wir um ein Haar hineingefahren wären. Eine Frau lächelte mir ins Gesicht.

»Madam«, flüsterte in ehrfürchtigem Tone der eine Engländer, er sprach das Wort englisch aus, worauf der andre, der sich mit einem farbigen Seidentuch die Stirn trocknete, einen bemerkenswerten Fluch ausstieß.

Das Auto war ein starker Wagen, breit und geräumig, mit blauem Polster, worin die Dame in einem narzissenweißen Brokatkleid die Umwelt zur Cour empfing. Ein rundes, nicht sonderlich hübsches Gesicht, hellaschblonde Haare, ein geschwungener Hals, dessen Fülle, sich hemmungslos erweiternd, zu den Schultern abglitt, breit in die Brust verströmte – hütende, brütende Augen. Diese Augen, ich sah sie nicht zum erstenmal. Das im Fleisch geschwungene Lächeln dieses Mundes flog mir, wie mein Blick auf ihm verweilen wollte, in ferne Vergangenheit davon. Da war ein Obstgarten, Hühner pickten, am Kopf, Rücken oder Schwanz von einem Sonnenstrahl, der durch das Laub stach, grell gefärbt, verschlafen schlug die Uhr einer Dorfkirche. Die Kirchenuhr Rheinweilers, die Kirchenuhr Breuschheims? Oder jenes weltentlegenen Dorfes eine Stunde hinter Paris, wo mein Onkel Albert-Léo ein Obstgut besaß? Oder war es in der Touraine? In diesem Falle lag Tante Mary, in wollene Schals gehüllt, fröstelnd auf der Terrasse, während ich mit den Buben zwischen dem Fluß und dem halbverwilderten Garten des Pächters in Badehosen herumstreifte. Hatte man jene mit den hütenden, brütenden Augen nach mir ausgesandt? Oder war es einfach nur eine Fremde, hinter einem Zaun erblickt, wie sie sich auf die Zehen hob, um einen Apfel zu pflücken? Wo hatten diese Augen auf mir geruht, wo meine unklaren Wünsche auf diesem Mund? Aus großer Tiefe in mir kam das Erinnern, doch meine Kindheit war voller Gärten, in denen Frauen gingen. Diese hier fand ich nicht wieder.

Und nun fuhr der Zug, barbarisch klappernd, in eine, wie vom Himmel zurückgeworfene, wie fernher gespiegelte, im Traume vielleicht vorhergesehene Landschaft ... Ich aber sprach zu mir: »Wie unerwartet, nie geschaut, nie erdacht« und geriet außer mir, so sprangen meine Gedanken, von den äußeren Eindrücken gejagt, kreuz und quer vor dem Neuen. Bei einer Biegung, wo man auf die Heerstraße der himmlischen Küste zurücksah, stieß ein letzter Mimosenbaum sein »Lobet die Sonne!« aus. Das sinkende Gestirn färbte ihn kupfern.

Für die Rosen der Gärten nahte indessen die Stunde, wo sie am schönsten sind, die große Klarheit, die der Dämmerung vorangeht, wenn eine jede von ihnen wie auf einer Geisterhand ruht. Am Ende des weiten, von der Olive bewohnten Tales, rund und fest auf seinem Gipfel schwebte St. Paul. Zu ihm stieg das Tal auf, in Mulden und Hängen, die mit zahllosen Mäuerchen bewehrt waren, auf daß der Regen die kostbare Erde nicht entführte, die all den Reichtum nährte: Orangen, Mandarinen, Rosen, äckerweit niedere Rosen, Levkoien, Spargeln, Artischocken und wiederum Rosen. Kleine Hügel, mit kastellartigen Häusern, die Pinie als Sonnenschirm, die Zypresse als Blitzableiter neben sich, wachten über dem bewegten, in der Tiefe unübersichtlichen Aufmarsch. Seine gewaltigen Mauern in den Abhang gegraben, von Wällen gegürtet, eine Front von Häusern zeigend, von denen jedes eine Festung schien, den viereckigen Kirchturm in den Himmel gereckt, so erwartete St. Paul die dem Meere entstiegenen Vasallenvölker, die früchtebeladen und blumengeschmückt zu ihm emporstrebten. Ein wenig abseits, doch auf gleicher Höhe, hielt eine Gruppe Zypressen die Hauptwache: das Gros der über das Land verteilten Aufseher. Das war der Kirchhof, wie ich von meinem englischen Nachbar erfuhr. Nun, da war also vorgesorgt, daß man in den hundert Mulden und in der Ebene dieses Reiches selbst die Toten St. Pauls nicht vergaß!

Plötzlich begannen die Olivenbüsche, die jungen Olivenbäume von einem unsichtbaren Leben zu erzittern, ein Rieseln ging durch ihr Laub, silberne Dämmerung umfloß ihr Dunkel – gewiß doch, die Luftgeister des Tages gingen in ihnen mit den Vögeln zur Ruhe! Die alten Bäume standen auf den Gräbern von Helden.

Ein Frohgeläute in der Brust, sprang ich auf. Kindliche Arme breitete ich, kindliche Rufe sprangen mir von den Lippen, ich drehte mich um mich selbst, nur, um das alles zu verlieren und in der nächsten Sekunde wiederzufinden, nur, um mit in dem großen Umzug zu sein, der im Abend angehoben! Da erblickte ich in der Ferne das Meer.

Es dämmerte. Ein Leuchtturm flitzte. Den beschmutzten Purpur des Ertrunkenen mit Füßen tretend, kam die Nacht über das Wasser. Jeden dritten Herzschlag flitzte der Leuchtturm, in sinnloser, rundum schweifender Angst.

Doch hier oben glühten tiefer die Orangen, meiner Hand erreichbar. Doch goldklare Äcker entsandten Levkoiendüfte. Doch in Filigranlaub musizierten zahllose kleine Rosen, vom Himmel gefallen, auf ihren Drähten gereiht. Der Zug hielt. Dicht über mir thronte die Stadt, in einer Wolke rosigen Wohllauts, und Bob schloß mich in die Arme.

Einen weißen Anzug trug er und strahlte. Er warf den Kopf zurück, da erschienen bunte Lichter in seinen Augen, und die Freude hob sich auf den schwarzen Brauen wie auf Flügeln. Nach bittern Mandeln roch er ...

Bob, frisch gewaschen, gekämmt und gebügelt, wie du bist, mit einer Nelke im Knopfloch dem Goldhaupt des Tages entsprungen, sei gegrüßt (mitsamt Maria, die dir das Schönste vom Mund gestohlen hat)!

Willkommen, Claus, du mit Sidonias Stirn, Sidonias Händen – wir werden mit Orangen Ball spielen, damit etwas von deinen Händen, etwas von deiner Stirn mit den Vögeln um die Wette fliegt!

 

»Verzeih, daß ich dich nicht drunten abgeholt habe«, sprach der Freund. »Ich mußte einen Brief aufgeben, eine sehr wichtige Arbeit, die erst vor einer Stunde fertig geworden ist ... Also, das da ist Kaspar.«

Am Wegrand stand ein Maler vor einer Staffelei, vielmehr er führte aufrecht einen Kampf mit der Leinwand, die unter seinen Schlägen erzitterte. Ich beobachtete ihn neugierig. Aus den Tuben preßte er Farbkleckse in Form gewaltiger Kommata auf die Leinwand, einen unter den andern und immer die dünne Spitze nach unten, sodann ergriff er ein Malmesser und begann seine kriegerische Handlung. Bald machte er einen Satz zurück, bald schoß er nach vorn, er beschrieb mit halb zugekniffenen Augen, wie zögernd, einen Halbkreis, um darauf die Staffelei von neuem zu stürmen. Mit großen Spatelhieben verteilte, mischte er die Farben, doch so, daß die Kommaform des Auftrags erkennbar blieb. Zwischendurch beschrieb sein Arm beschwörende Bewegungen in der Richtung der hoch erblühten Stadt, als wollte er sie durch Zauberei auf seine Leinwand bannen. Bob rief ihn an:

»Hallo! Kaspar, hier ist mein Freund Claus Breuschheim. Also, er bewundert Sie fest – kaum, daß er aus dem Zug gestiegen.

Der Riesenkerl mit dem kleinen, runden, kurzgeschorenen Kopf schob die Hemdsärmel höher und wandte sich uns erhobenen Hauptes zu.

»Der Baron!« Er nickte, kurz, freundlich. »Kunstfreund! Hoffen auch, echter Saufbruder. Marquis Capponi leider nicht. Jetzt leider nicht Zeit, Stimmung gleich futsch.« Er nickte wieder, schon verdüstert, den Blick der rötlichen Augen mörderisch auf St. Paul gerichtet. Ja, da oben schwebte sie, die Rosenrote, im mattblauen Feuer ... und entfärbte sich langsam. Stöhnend warf der Messerheld sich auf die Staffelei.

»Der größte Maler Schwedens«, klärte mich Bob im Weitergehn auf. Von hundert Rivierabildern, die in den Salons des nördlichen Königreichs hingen, waren neunzig von Kaspars Hand modelliert. Telegraphische Bestellungen platzten in St. Paul wie Bomben und hielten das Städtchen in Atem – aus Indien sogar kamen sie, aus Australien, ja, aus Polynesien, wo nur immer in der Welt ein Schwede ein nationales Kunstwerk an der Wand vermißte. Niemand wußte, wie er hieß, er nannte sich, zeichnete seine Bilder nur: Kaspar. Er und »Madam« waren die Berühmtheiten des Städtchens. Ich hatte bereits von Madam gehört? Kein Wunder. Von Engländern in der Trambahn? Also, da hatte ich Fürsten aus dem Abendland getroffen, die sich aufgemacht hatten, der Kleopatra des Olivenlandes ihren Tribut zu zollen. Es kamen übrigens auch manche aus dem Morgenland, glitzernd von Ringen und gesalbt, mit Dienern hinter sich, die Geschenke trugen, und Bob hätte nicht gewettet, daß Madams künstlerischer Ruf hinter dem Kaspars zurückstehe. Kaspar hatte sie denn auch als Kleopatra gemalt, mit einer goldenen Schlange und einem chinesischen Sklaven. Madam war aber heute zum Weißen Ball nach Nizza gefahren. Auch Bob sprach das Wort englisch aus.

Vor uns erhoben sich zwei ockergelbe Gebäude, »die erst in jüngster Zeit vorgeschobenen Corps de Garde oder Wachen der Stadt«, wie Bob sich ausdrückte. Sie standen einander gegenüber und waren mit feindlichen Mannschaften belegt, die dauernd weit ausgreifende Annäherungsarbeiten zwecks Überrumpelung der gegnerischen Position, sowie an Festtagen Ausfälle mit bewaffneter Hand wider einander ausführten. Das eine prahlte in kindshohen Drucklettern: »Grand-Hotel du Roi René« das andre hing ein altes Herbergsschild aus Schmiedeeisen aus, worauf mit Schwung das einzige Wort »Hostellerie« gemalt war. Unter diesem traten wir in einen Hof.

Da war eine niedrige, mit Nelken bestandene Mauer, von wo man in einen andern Teil des Olivenlandes blickte, eine sprödere Erde zweifellos, mit rauheren Tiefen, zerrissen, die Hänge in Winkeln kletternd, und erst in großer Höhe über uns, wie es schien, gewann das Land die schwellenden Kurven, die geruhigen Flächen, das Klingen, Verschweben, die ebenmäßige Bewegtheit des Vorgeländes zurück. Zuhöchst hing ein dunkelbelaubter Garten, groß genug, nicht nur zahlreiche Villen und Gehöfte, sondern gleich eine ganze Stadt mit seinen Hainen und Blumenfeldern zu umgeben. Dahinter jedoch steilte unvermittelt ein Felsengebirge, nackt und rot in den Himmel geschleudert, ohne Beziehung zu der Landschaft – über sie hinaus in Urfeindschaft dem Meere zugewandt: die Luft- und Sonnenklippe des »Baou«. So nannte Bob das Gebilde, und die Stadt zu dessen Füßen hieß Vence. Angesichts seiner wilden Fremdheit zeigten die Siedlungen dort oben einen schier menschlichen Ausdruck, ja, die jähe, nackte Gewalt des Ungetüms bewirkte, daß jenes bewohnte Hochland, von ihm angezogen, sich selbst abstoßend und in dieser Bewegung erstarrt, zu schweben schien.

»Dort oben wächst Weizen«, sagte Bob und, als ich immer noch hinaufstarrte: »Schau dich auch mal im Hofe um! Hier rösten vormittags die Damen und Katzen des Hotels in der Sonne. Mir ist der Ort zu öffentlich, ich gehe also nach ›Afrika‹, das ist ein einzigartiges Sonnenbad, niemand kennt es, dir werde ich es zeigen.

Große, geschwungene Töpfe, die einen aus roter gebrannter Erde, die andern aus Majolika, standen im Hofe verteilt. Sie trugen Blütensträucher, Mandelbäumchen, Myrten und quollen über von Kapuzinerkresse und wohlriechender Wicke. Drei, vier provenzalische Bauerntische mit ebensolchen Stühlen luden zum abendlichen Tafeln ein. Die Abdrücke der Körper in den Liegestühlen wirkten vertraulich – das konnten nicht Fremde sein, die dort mit der ganzen Last ihres Körpers geruht hatten.

»Hier ist es schön!« seufzte ich.

»Komm, wir sind eingeladen«, sagte der Freund, und er führte mich dem Hause zu, in dessen Tür jetzt ein kalabresisches Räuberlein mit einem Spitzhut auftauchte. Unter dem Hut blickte mausartig ein braunes Gesicht hervor, die Äuglein fuhren musternd über mich hin. Wohlwollen breitete sich über die Züge, sank langsam tiefer, bis zu den Lackspitzen der Schuhe. Ich mißfiel ihm nicht, ei ja, und eine nervige Hand ergriff die meine, und die andre schwang den Hut.

»Unser unvergleichlicher Wirt, Monsieur César-Marie Roux«, stellte Bob vor.

Den Hut in der Hand, dessen Rand ihm bis an die Schuhe reichte, geleitete der Edelmann, bei dem ich nunmehr zu Gaste war, uns in mein Zimmer. Dort angelangt, verbeugte er sich wieder, schwang den Hut, schloß hinter uns die Tür. Der Freund klärte mich dahin auf, daß alle wichtigen Persönlichkeiten hier oben Roux, Marie Roux hießen: der Wirt, der Pfarrer, der Stationsvorsteher, der Briefträger und auch der Hotelier gegenüber, der Feind, Monsieur Antoine-Marie Roux – Cäsar und Antonius also, in der schärfsten Form. Inzwischen kleidete ich mich um.

Wie wir dann zum Fenster traten, legte Bob den Arm auf meine Schulter ... Schon witterte ein Hauch von Mondschein über die Olivenbäume, die den Raum zwischen dem Orangengarten unter dem Fenster und dem fernen Meer füllten. Der Leuchtturm funkte jetzt taktfest aus dem grauen Dunkel.

»Claus,« sagte der Freund, »ich glaube, Maria kommt auch.« Im selben Augenblick schlug eine jähe Hitze über mir zusammen. Aus dem Nacken lief mir ein Zittern in die Schultern, schauerte blitzschnell den Rücken entlang und sammelte sich in den Knien.

»Mein Freund!« rief ich außer Atem, ich floh, ich floh, »Freund,« rief ich, »mein Freund, herrlich ist es hier, schau nur«, und ich deutete mit dem Kopf hinüber, wo der Baou im höchsten Abendleuchten aufflammte.

»Hier,« antwortete mit zärtlicher Stimme der Freund, indes sein Arm sich fester um mich schloß, »hier, Claus, bin ich eines Morgens aufgewacht, also, da schlotterte ich nur so lose in der Puppenhülle des alten Bob, ich spürte Neues, atmende Flügel, frische Lebensfarben, aber es war schlimm, Claus, ich fühlte mich elend bis ins Herz. Großer Gott, dachte ich, und bangte vor dem Tod. Also, ich dachte allen Ernstes, ich sei im Begriff, gleichsam in der Narkose zu sterben. Ich wehrte mich aus Leibeskräften, und in der drosselnden Angst ... schlüpfte ich aus. So ist es bei den Schmetterlingen, mein Lieber, nur daß die Schmetterlinge vermutlich nicht Todesschweiß vergießen müssen, wenn ihnen das Licht aufgeht. Dann saß ich eine Stunde lang auf der Fensterbank und wiegte die Flügel an der Sonne. Hübsch war's. Sehr angenehm, und ich wünschte, du –«

In alledem brauste mir der Name Maria. Es läutete in meinen Ohren: Maria. Nicht, als ob ich den Namen vernommen hätte, nein, es war etwas ungeheuer weit Reichendes, abgründig Stilles, eine alles ansaugende Leere, ein beseligender Lärm, es war sie. Und wie durch olivengrauen Nebel, in dem weit, weit entfernt jemand eine Laterne schwang, in diese entsetzliche Leere fallend, worin es sogleich erlosch, ... blitzte ihr Knie auf, vom herabgestreiften Strumpf entblößt, eine Schulter schmolz, ihr Hals, und glühendrot, ganz nah, brach ihr Mund auf, und gleich darauf, gar nicht sichtbar, aus Luft geschaffen, und doch sprang es mich an wie ein Tier: die Bewegung ihrer Hüften. So blieb ich eine Zeit, mit zitternden Knien, den Rücken krampfhaft gestreckt, hörte Bob sprechen, verstand ihn und verstand ihn nicht. Und dann lachte ich! Wie ein Hahn. Den Kopf zurückgeworfen, die Arme gespreizt, in einem lang ausgehaltenen, schmetternden Ton.

»So bist du jetzt ein ... Schmetterling?« rief ich, nach Luft ringend, und konnte oder wollte mich von der überaus komischen Vorstellung, daß Bob ein Schmetterlingsabenteuer gehabt haben wollte, nicht trennen. Schließlich ergriff mich der Freund an den Schultern, drehte mich um, schüttelte mich, lachend auch er, und in dieses so verschiedene, schmerzlose Lachen sank ich aufatmend und ihm an die Brust.

»Kindskopf,« flüsterte er, »schnell den Zylinder auf und los zu Lord Berrick!«

O ja, gern, schnell zu Lord Berrick. Trug er noch hellgraue Anzüge? Neigte er noch immer ein wenig den Kopf zur Seite, wenn er sprach? Ging er noch oft nach Venedig? Sprach er manchmal von uns?

Der Lord, ward mir zur Antwort, kleidete sich noch immer hellgrau, er neigte ein wenig wehmütig den Kopf, wenn er sprach, aber er ging nicht mehr nach Venedig, denn er trennte sich nicht mehr von seiner Frau. Von mir sprach er als von »jenem kleinen Liebling der Götter – wahrhaftig, jetzt, gerade jetzt war ich es wieder geworden, das Zeichen brannte mir auf der Stirn! Und auch von Sidonia sprach er oft, ja, erst kürzlich hatte er einer Liebhaberaufnahme, die er seinerzeit von ihr gemacht, den Kopf für eine Diana entliehn, und das Bild war im Pariser Salon mit einer Medaille ausgezeichnet worden.

Damit war Bob bei Peggy angelangt, ich betrat Neuland. Wer war Peggy? Ursprünglich die »parlour-maid« einer Nizzaer Teestube. Doch eines Tages willigte sie ein, für die Diana des Lords Akt zu stehn, da erhob sich hinter ihr das Glück und bekränzte sie mit dem dauerhaften Lorbeer ... Lady Berrick selbst hatte das Girl überredet, sich in den Dienst der Kunst zu stellen, nicht ohne Mühe, das verstand sich von selbst. Weniger dem Akt des Lords als der Gesellschafterin der »society leader« oder, wie man sich beschönigend ausdrückte, der »Freundin« der Führerin eröffnete sich die große Welt: winters im schottischen Schloß, auf dem internationalen Kapitol der Freude vom April bis in den Herbst: Algier, die Riviera, Florenz, Rom, Taormina, Girgenti. Reiselust hatte die kühlhäutige Scham, wie englische Mädchen sie gern als Wettermantel tragen, in einem Windstoß entführt, das reichliche Taschengeld ihrer Sehnsucht Flügel geliehn – mehrmals kam Bob darauf zurück, wie beseelend die Gewohnheit sei, dem jungfräulichen Körper ins Auge zu blicken und ihn vertraulich um die passende Bekleidung zu befragen.

Wir überschritten einen Platz, den rundum alte Platanen einfaßten, und der Freund wünschte, daß ich ihn bewundere. Zwischen zwei Bäumen stand immer eine Steinbank. Es war der Markt- und Vorhof, die St. Pauler hatten ihn ihrem Berggipfel abgerungen. Auf der einen Seite lief eine kleine Mauer, auf der die Mädchen saßen und den Männern beim Bocciaspiel zuschauten, während die Alten die Bänke drückten; die beiden andern Seiten nahm die mächtige Stadtmauer ein. Die zwei ockergelben Hotels schlossen den Raum. Zwischen diesen konnten die Wagen auf den Platz fahren, dann aber waren sie für diesmal am Ende der Welt angelangt, denn das Stadttor ließ nur Handkarren durch ... Einige Schritte vor diesem Tor zielte eine Kanone dem Wanderer ungeniert auf die Brust. Ich bemerkte, daß sie im Wall eingemauert war. Unmöglich, sie zu stehlen! Deshalb brauchte St. Paul auch keine Polizei.

»Vielleicht ist es ein Automat mit Pfefferminz schachteln,« hörte ich Maria sagen, »Claus, zieh mal! ...« Würde sie wirklich kommen? Ich lachte in mich hinein – ein neuerstandener Liebling der Götter!

In scharfem Winkel bogen wir vor der Kanone in das Tor ein. Die Gassen lagen eng, tief unter dem Himmel – wie aus dem Kuchen geschnitten, äußerte ich, was Bob auf allerhand Rosinen brachte, die in dem Kuchen stecken sollten. Es dunkelte schnell, schon erkannte man im Ausschnitt zwischen den Dächern die Sterne, hie und da brannten kleine Lampen: Sternschnuppen, die auf einer Leimrute festsaßen. Die Straßen oder vielmehr die Pfade waren roh gepflastert, mit einem Streifen lehmiger Erde in der Mitte, wo es sich weich genug ging. Die schweren Gebäude verfielen schamlos, einige wenige hatten sich aufgeputzt. Zu unsrer Linken stiegen steile Gäßlein in geräumigen Absätzen, andre steilere, in Treppenstufen empor, zu unsrer Rechten stürzten sie ab, und alle waren sie so schmal, als seien sie im Laufe der Zeit vom Regen ausgewaschen worden, nicht von breitspurigen Menschen angelegt. Zuweilen klemmten sich kleine Torbogen zwischen die Häuser, ohne ersichtlichen Grund.

Auf einem Miniatursquare, wo eine Renaissanceurne stolze Wasserstrahlen in ein Marmorbecken spielte, das fast den ganzen Platz einnahm, hämmerte Bob mit dem Klopfer gegen ein frisch gestrichenes Tor. Plötzlich glaubte ich an eine bevorstehende Überraschung: Maria war bereits hier, sie wartete hinter dem Tor – die Knie versagten mir ...

 

Es war Peggy, die aufschloß und uns über eine schwach erleuchtete Treppe in das Atelier führte, das als Gesellschaftsraum diente. Die Art ihrer Begrüßung und wie sie im Atelier die ersten Worte mit mir wechselte, machten mich auf der Stelle zu ihrem Mitverschworenen. Ich käme in Verlegenheit, wenn ich erklären sollte, wie sie es anstellte. Sie gab mir einfach zu verstehn: »Sie kennen mich, Sie kennen mich gut, trotzdem mögen Sie mich leiden – sehen Sie, ich bin aufrichtig, und ich bin hübsch. Seien wir Freunde!« Sie sprach nichts Derartiges, mit keiner Silbe; beim ersten Blick stand es fest.

An der Decke des Ateliers klebte eine Kiste, worin an Stelle des Deckels eine Mattscheibe eingelassen war, dahinter brannten elektrische Birnen und verbreiteten ein angenehmes Licht. Überall hingen Bilder: badende Frauen von Renoir, zwei Landschaften von Cézanne, das große Bildnis eines Jünglings, ich erkannte die Züge des Lords, sowie ein Stilleben von Manet. Um diese Meisterwerke prasselte, gleich Spatzen um adlerhafte Erscheinungen, ein Schwärm von geschmackvoll geschürzten, vielleicht etwas zu bunten Ölskizzen, lauter mehr oder minder entkleidete Frauen, irgendwie reizvoll durch die Art des Vorwurfs, über deren künstlerische Unzulänglichkeit der Maler durch den Schein des Skizzenhaften hinwegtäuschte. Das einzige ausgeführte Bild dieser Art hing über dem Diwan, ein lebensgroßer Akt, der mit Mühe und Not nach Ingres kopiert schien: die Diana, von der mein Freund gesprochen. Ich erkannte sie sofort an der Ähnlichkeit der Gesichtszüge mit denen Sidonias.

»Entschuldigen Sie, Claus,« sagte der Lord nach der herzlichen Begrüßung, als ich daran ging, all die Frauenblüten an der Wand zu betrachten, »ich bitte Sie sehr, zu entschuldigen; andre dichten, spielen Klavier«, und er suchte mich wiederholt durch allerhand Vorwände von seinen »shocking toys« wegzuziehn. Auch klagte er sich der Sünde wider den heiligen Geist an, weil er vor »seiner Frau und andern Damen die Libertinage der eigenen Malerei mit dem Namen der benachbarten Meister zuzudecken suche ... Ich sah nur die Diana, das enthüllte Geheimnis jener Peggy, die uns die Tür geöffnet und sich auf der Stelle mit mir verbündet hatte – sicher nur, weil ich Bobs Freund war. Doch machte der Anblick des Aktes diese Vertraulichkeit zu etwas Überwältigendem, ich fürchtete mich vor dem Augenblick, wo sie wiederkäme ... Daß der Akt Donjas Kopf trug, erhöhte meine Verwirrung bis zum Gefühl von Scham über heimliche Sünde, von Schändung.

Lady Berrick trat ins Zimmer. Was sie da um Kopf und Hals trug, das war der kühn zurückgeworfene Schleier der befreiten Dame, ich merkte es gleich – dieser Spitzenschleier mit dem Maltakreuz war etwas Besonderes, ein Symbol, das Insignum der Führerschaft; er stand ihr vortrefflich. Ihr maskenhaft gleichmäßiges Gesicht lächelte etwas mühsam. Es leuchtete, stärker als das Lächeln, zartrot mit einem weißen Schein um Nase und Augen, man konnte es schön nennen, weil man es unmöglich häßlich hätte nennen können, von einer traurigen Schönheit war es, ich wußte nicht, warum, aber traurig war dieses schöne Gesicht, traurig wie der Tod ... Mit jedem Schritt setzte sich Mylady ihr eigenes Gesetz, jede ihrer Bewegungen kündete ihre Souveränität, und dies alles ergab ein merkwürdiges, fast allzu vollendetes Bildnis: bunt, wie ein großer Pariser Schneider bunt arbeitet, wenn die Mode es verlangt, scheinbar willkürlich, doch nach einem Plan, hochmütig, mit dem Wissen um das Zweifelhafte des Anspruchs, und sichtlich geadelt durch den Glauben an ihre Berufung ... Sie hielt zwei Mädchen an der Hand, reizende Geschöpfe in Pyjamas und offenen roten Wollmänteln, die Füße noch rosig vom Bad – wie zierten sie ihre Mutter! Es waren Lady Berricks Töchter aus erster Ehe, Betty und Brigitte. Als ihre Mutter sie losließ, eilten sie in Bobs Arme, Betty in den rechten, Brigitte in den linken – von dorther kundschafteten sie mich aus. Leider war ihnen die Zeit karg bemessen, aber beim Abschied hingen sie sich doch ein wenig an meine Hände, Betty, die ältere, an die rechte, Brigitte an die linke.

Wie Mylady sodann auf dem Eisbärfell des Diwans die Glieder löste, bewies aufs klarste, daß sie sich weder um ihre Beine noch um ihre Schultern sorgte. Allerdings waren jene bekleidet und die Maße des Ausschnitts durchaus nur tagesüblich. Fiebernd von Belehrungswut, forderte sie mich auf, neben ihr Platz zu nehmen. Sie legte mir gesprächsweise die Hand auf das Knie, sie reichte mir die Rose von ihrer Brust. Kurz, sie behandelte mich, unter geänderten Umständen, wie ein Missionar den ältesten Sohn eines Negerhäuptlings. Jedoch der Moschusduft, den jede ihrer Bewegungen entfesselte, kränkte mich, ich rückte unwillkürlich von ihr ab, und plötzlich stützte sie sich auf dem Ellbogen auf und bekannte sich blitzenden Auges – wozu? Zum Moschus. Parfüme, die Moschus enthielten, seien in der sogenannten guten Gesellschaft verpönt – um so besser für den Moschus! Moschus, das war Atem von Mänaden. »Mänaden?« fragte ich bestürzt. Jawohl, Mänaden. Was waren sie denn anders, die Damen der »outguard,« wie sie, von London bis Kalkutta, über das Parkett hingeschmetterter Clubmen hinwegstürmten, was waren sie anders als die ewigen Mänaden? Die Priesterinnen der fruchtbaren Unruhe! Die Tollen, die nie den Kopf verloren! Möglich, sagte ich, doch schiene mir bei Mylady insofern eine Verwechslung vorzuliegen, als die Mänaden im allgemeinen eher für Freiluftwesen angesehn würden, während es von den Flötenbläserinnen allerdings heiße, sie hätten starke, duftende Salben – Man ließ mich nicht aussprechen. O pfui! So pervers konnte nur ein Mann sein, »schlechtgeborene« Kreaturen, die sich für Geld hingaben, mit den Priesterinnen des leopardenbegleiteten Dionys zu verwechseln. Das war, als ob ich zu Madam ginge, wenn ich bei ihr, Lady Berrick, eingeladen wäre.

»Ein gefährlicher Wink«, warf der Lord lächelnd ein.

Lady Isabels entflammtes Gesicht büßte alle Poesie ein, ihr Mund verzog sich vollends, aber sie faßte sich und schwang scherzhaft den schönen Arm, als schleuderte sie den Speer gegen den Gatten.

»Was für Zweideutigkeiten, Lord Berrick!«

Der stellte sich, als finge er das Geschoß im Fluge, um es alsdann freundlich auf dem Kaminsims niederzulegen. Ich begehrte in geheuchelter Unschuld zu erfahren, wer »Madam« sei.

Nach einem kurzen, forschenden Blick ließ sich die Lady in die Kissen fallen und schlug die Knie übereinander. Die Fesseln der Füße erwiesen sich als so zart wie die eines ganz jungen Mädchens.

»Nun, eine Kreatur«, sagte sie nach einer Pause.

Verwirrt blickte ich um mich. Der Lord senkte den Kopf. Bob musterte mit angestrengtem Ernst die Beleuchtungskiste an der Decke. Indes zeigte sich, daß die Lady noch nicht beim tiefsten Ton ihrer Verachtung angelangt war, wie man hätte meinen sollen, denn als sie die Beine abgeworfen, die Arme unter dem Nacken gekreuzt und sich gestreckt hatte, zornbebte sie:

»O Ihr Männer! Eure Frauen möchtet Ihr in Knechtschaft halten, mit Fackeln und Dolchen rottet Ihr euch zusammen, wenn sie ihre Fesseln sprengen, aber eine feile Dirne, die scheint euch immer entschuldbar.«

»Das muß wohl an den armen Dingern liegen«, sprach der Lord halblaut zu sich selbst.

Worauf Bob geradeaus die Bemerkung wagte: das eine schließe das andre nicht aus, Konventionen seien die Kodifizierung jahrhundertealter Erfahrungen, und seit dem grauen Altertum –

Weiter kam nun er wieder nicht, im grauen Altertum blieb er stecken, trotzdem er mächtig ausschritt. Lady Isabel saß auf dem Rande des Diwans, ihr Kleid hüllte sie bis zu den Füßen ein ... und verschloß sie. Was man eben noch als weibliche Schwäche hätte ansprechen, worauf ein Mann, der Nachsicht brauchte, unter Umständen noch hätte bauen können, war uns mit eins entzogen. Verbaut jede Ausflucht. Wohin jetzt mit dir, Bob? Die Führerin hob das Kinn ...

Und die Tür öffnete sich. Was auch immer folgen mochte, vorerst galt es, die eintretenden Damen zu begrüßen. Schon eilte Bob der perlmutternen Diana entgegen. »Wo in aller Welt bleiben Sie denn, verehrtes Fräulein?« flüsterte er eindringlich. »Wo haben Sie sich die ganze Zeit herumgetrieben? Also, Peggy, es war eine Ewigkeit.« Ich aber küßte schnell einem Mädchen die Hand, das die größte Hornbrille auf der kleinsten Stupsnase zum Nestrand und Auslug des lustigsten Vogelpaars gemacht hatte. Man lachte, wenn man sie nur ansah. »Die Schwester des Lords«, sagte sie selbst. Die weißhaarige Dame, die wartete, daß ich ihr die Hand reichte, überschwemmte mich mit einem wasserblauen Blick, eine schmeichelnde Stimme schlug an, ich lauschte ihr. Unverzüglich vertraute sie mir an, sie glaube an Gott, an die welterlösende Menschenliebe Englands und an die drahtlose Telegraphie. »Die Schwester Lady Berricks«, stellte der Lord vor. Inzwischen hatte sich seine eigene Schwester vor der Lady aufgestellt. Hinter der großen Brille ging es lebhaft zu: der eine Vogel überschlug sich vor Spott, der andre schoß hin und her und haßte. »Der Führerin Heil!« sprach die Hornbrille. Ein Diener trat ehrfürchtig murmelnd zu Peggy, und Peggy teilte der Lady laut mit, die Tafel sei bereitet. Bei jeder Bewegung schimmerte die Diana an ihr durch!

»Seit dem grauen Altertum,« scholl es da in das Schweigen, das der Ankündigung gefolgt war, »seit dem grauen Altertum, Marquis Capponi, sind die Männer Heuchler und Wucherer an der Schwäche der Frauen, lautlose Mörder, schreiende Diebe.«

Zufrieden lächelnd erhob sich Mylady und nickte mir zu: »Baron, darf ich bitten?« Bob wollte Peggy den Arm reichen, doch scheuchte ein Blick der Lady ihn an die Seite der weißhaarigen Dame, und es war der Lord, der Peggy führte.

Am Tisch herrschte erst eine Stille, wie sie ganz der Feierlichkeit der großen, weißen Tafel entsprach, in deren Mitte ein buddhistisches Altärlein voll Blumen und Früchte prangte. Als aber der Diener den Suppenteller vor die Lady hingestellt hatte, beugte sich diese leichthin über den Dampf und schwor, ohne Bitterkeit: »War to the philistines.«

»Bis die Raben sie fressen«, ergänzte Peggy, wozu sie eine Faust ballte, die neben der roten Nelke auf dem Tischtuch an eine zusammengerollte kleine Katze aus Porzellan erinnerte. Dem mißtrauischen Blick ihrer Herrin begegnete sie mit spiegelweit geöffneten Augen. So konnte jedermann sehn, mit wem sie es hielt, nämlich, bedingungslos, mit den Mänaden. Gleichzeitig berührte ihr Knie das meine, und, bei Gott, das Knie lachte – es bebte und schlug vor Lachen aus!

Krieg den Philistern, – gut, wir zeigten uns alle bereit, Lady Isabel Gefolgschaft zu leisten und wider die Philister zu Felde zu ziehn. In der nächsten halben Stunde setzte es nur Hiebe für sie. Dann artete die Polemik in wahren Kannibalismus aus. Die Opfer wurden geschlachtet, aufgeteilt, warm verzehrt. Jeder von uns bekam sein Teil Philister hingeworfen. Peggy schluckte es, während ihr Knie gegen das meine Karneval trommelte, tief bekümmert und gehorsam würgte der Lord. Bob und ich schoben das uns zugedachte Stück der Priesterin des mit Leoparden Wandelnden höflich wieder zu. Sie drohte den Meuterern neckisch mit dem Finger, ließ es liegen. Bob hatte am Moselwein geschnuppert, darauf am Burgunder, jetzt nahm er, über den Champagner gebeugt, den Bericht seiner Tischdame über ein seelisches Ferngespräch zwischen Glasgow und Neuorleans entgegen. Er trank nicht. Keinen Tropfen.

»Es ist auch wahr,« rief Peggy begeistert, »warum soll eine unverheiratete Frau nicht Geld nehmen dürfen? Ich hasse die Philister.« Hier lag auf seiten Peggys ein offenbares Mißverständnis vor, unverheiratete Mänaden nahmen natürlich kein Geld, doch ließ die Führerin es in Anbetracht von Peggys Tapferkeit in dem soeben siegreich beendeten Gefecht mit den abwesenden Philistern bei einer stummen Zurechtweisung bewenden. Mit einem mißbilligenden Blick auf die revoltierende Diana hob sie die Tafel auf. Wiederum schuf, für einen Augenblick, schöne Feierlichkeit zwischen uns einen Abstand, ich reichte Lady Isabel den Arm, Bob eilte, die Hand auf dem Herzen, zu Peggy: »Warum sie kein Geld nehmen darf? Weil sie sonst vielleicht keinen Mann fände«, antwortete er laut. Der Wein, den er nicht getrunken, hatte ihn kühn gemacht.

»Abwarten!« rief Peggy leise. Es flog wie ein Pfeil, die Sehne schwirrte.

Die Lady, im Schreiten das Abendkleid belebend, wandte ein wenig das Haupt, damit wir es alle hörten: sie war keine spießige Frauenrechtlerin, sie würdigte alle guten Scherze, wie sie über die aristokratische Avantgarde der Frauen fielen, und sooft einer fiel, wünschte sie wie bei einer Sternschnuppe schnell einem Manne das gräßlichste Herzeleid. Denn daß er Kinder gebäre, dieser Wunsch sei leider vergeblich. Ach, nun hatte ich die ganze Zeit nicht an Maria gedacht ... Tritt ein, bestricke sie, alle, wie sie hier sind, schweige, nicke mir zu! ...

»Miß Peggy, schauen Sie nicht Lord Berrick an, auf ihn ist nicht gezielt, er gehört zu den Männern, die uns Frauen anbeten, eine Form der Entwürdigung, an der wir ungern Kritik üben«, und die Führerin wandte sich zu Bob:

»Sollten Sie je das Haus von Madam betreten, Herr Marquis – es gibt kein Bad, das Ihnen den Geruch nähme.«

»Vielleicht Moschus?« fragte Bob.

Sie zuckte über den törichten großen Jungen nachsichtig die Achsel ..

Gesittetes England! Die Herren zogen sich in das Rauchzimmer im oberen Stockwerk zurück.

Hier begannen wir eifrig, Madam zu rehabilitieren. Sie nahm Geld, gut – die Tugendhaften auch. Und von denen gaben die meisten dafür nur magere Kost und Ärger obendrein. Die alten Griechen waren weise ... Die katholische Kirche war weise ... Sie hielten auf saubere Scheidung. Romanschreiber und Politiker, diese geborenen Emporkömmlinge, verdrehten der Frau den von Natur schon unsoliden Kopf. Seit Rousseau wagte kein Autor mehr, ein vernünftiges Wort über die Frauen zu schreiben. Einige hatten geschimpft, von diesen die klügsten – sich gerächt. Jetzt waren wir an der Reihe, Tapferkeit zu beweisen!

Keiner von uns hatte bisher ein Wort mit Madam gewechselt. Keinem, weder Bob noch dem Lord war sie bemerkenswert erschienen. Jetzt beschlossen wir, ihre Bekanntschaft zu suchen. »Wie heißt sie denn?« erkundigte ich mich.

Sie hieß Giulietta Var, und ich behauptete, ohne zu zögern, daß ich niemals einen klangvolleren Namen gehört hätte.

Bob sagte noch:

»Der Name ist Konfektion, aber er sitzt wie angemessen.«

Die Hornbrille kam und wollte auch rauchen – obwohl das bei den Mänaden für shocking gelte. Der Diener, der ihr auf dem Fuße folgte, bugsierte sie ohne Umstände hinaus.

Bald mußten wir denselben Weg gehn, im Atelier war Bobs Mutter in Begleitung des Abbé Roux eingetroffen. Die glatt rasierten Wangen des Dieners, der uns zu Myladys Füßen befahl, waren fiebrig wie bei Schauspielern, wenn der letzte Akt naht. Doch rauchten wir die Zigarre zu Ende, was dem Seelenhirten von St. Paul gestattete, zu uns heraufzusteigen, um ein Wort unter Männern zu reden.

Auf dem stämmigen, in den Gelenken knotigen Körper des Mannes war ein Prälatenkopf aufgepfropft, Bauernschläue, zu Weltweisheit veredelt, erhellte die Augen. Nachdem er mich als Neuling in seinem Gesichtskreis mit auszeichnender Höflichkeit in diesem seinem Staat willkommen geheißen, legte er ohne Umschweife dem Lord die Frage vor, warum seine mit allen Tugenden, auch Klugheit und Nächstenliebe ausgezeichnete Gattin gerade Giulietta Var gegenüber jedes Erbarmens, jeder Nachsicht entrate. Er nannte Giulietta einfach beim Namen, ohne vorgesetztes »Madame«, ging gerade aufs Ziel los, man sah, es war ihm ernst.

»Ich kenne Giulietta Var,« so hob er, scheinbar stockend, an, »seit zwanzig Jahren. Wir kamen gleichzeitig nach St. Paul, ich als Pfarrer, sie als Kurgast. Wir stießen sofort zusammen. Unter den Frauen meiner Gemeinde hatte sich ein großes Wehklagen erhoben: alle Männer, die noch gesunde Beine hatten, tanzten, sit venia verbo, um das seidige Kühlein. Mit dem Stock fuhr ich dazwischen. Es war eine schlimme Zeit, solang sie sich mit den Eingeborenen abgab ... Sie wollte zwei Wochen bleiben, und sie ist noch immer da. Ich auch. Mit unsern Männern gibt sie sich nicht mehr ab, aber alle grüßen sie, aus Dankbarkeit. Sie gehört zu den Sehenswürdigkeiten der Riviera. Mein Kirchenschatz auch Sie und ich, wir werden beide hier sterben ... St. Paul verdankt ihr seine Wohlhabenheit. Wir haben keine Armen mehr, und die Wohlhabenden geben reichlich für die Kirche. Sie gibt nichts, das ist eine Sache für sich. Pourtant –, wenn ich in den schweren Zeiten der Trennung von Kirche und Staat den weltberühmten Kirchenschatz gerettet habe, so ist das, indirekt, ihr Verdienst. Sie schickte mir reiche Kurgäste, die bezahlten, einzig und allein, um den Schatz bewundern zu dürfen. In den andern Kirchen unsres Landes nahmen sie ihn mit. Wieviel unersetzliche Kostbarkeiten sind auf diese Weise aus unsern Kirchen verschwunden, für immer, messieurs, für ewig und immer! Der Staat gab uns keinen Pfennig mehr, meine Pfarrkinder sind nicht reich. Wir haben gehungert und gefroren. O, diese Freimaurer!«

Er kniff den Mund zusammen, forderte tückischen Blickes einen unsichtbaren Feind heraus.

»Messieurs, ich kenne einen alten Pfarrer, einen wahren Heiligen, der nährte sich von wilden Spargeln und den halbverfaulten Orangen, die er nachts unter den Bäumen auflas. In einer bitterkalten Nacht begann er das romanische Gestühl seines Chors zu verfeuern. Wir haben kein Holz hier. Es war ein strenger Winter. Im Frühjahr war das Meisterwerk Jacopo della Portas in Rauch aufgegangen. Eh bien, in meiner Kirche fehlt nicht ein Stück. Ich habe gelebt und mich gewärmt. Der hochwürdigste Herr Bischof nennt St. Paul als ruhmreichen Ort und als Vorbild. Wie war das möglich? Hélas, ersparen Sie mir die Wiederholung, ein Wunder war es gerade nicht! Ich bin nicht Giuliettas Richter, ich vermag nicht ihr Herz zu ergründen, obwohl ich es oft versucht habe.

Der Pfarrer seufzte, die Falten seines wetterroten Gesichtes standen starr, bei Gott, es war ihm ernst. Wir kamen uns plötzlich wie Schulbuben vor. Da warf der Geistliche den Kopf in den Nacken und blickte dem Lord in die Augen:

»Lord Berrick!« sprach er mit bebender Stimme, »wir erwarten Giulietta auf ihrem Sterbebett. Ich oder mein Nachfolger, einer von uns wird zu ihr treten, wenn der Todesengel nach ihr greift. Das ist eine Sache zwischen uns, zwischen ihr und uns, zwischen Giulietta, die einst ein unschuldiges Kind war, und ihrem Gott. Voilà. Ich dulde nicht, daß man sie in der Fremdenkolonie schlecht macht, daß man sie verschreit von St. Raphaël bis Menton, als wäre sie die leibhaftige Tochter der Hölle. Abgesehn davon, daß sie das nicht ist, nie und nimmer, verlange ich im Namen der Nächstenliebe, verlange ich, verstehen Sie mich recht, Lord, verlangt meine Gemeinde, verlangen alle hier bis zur letzten Waschfrau, daß man Giulietta Var unbelästigt, wenn Sie wollen: unbeachtet, ihrer bittern Stunde entgegengehen läßt.«

Während wir noch beklommenen Herzens schwiegen, trat Pfarrer Roux an das offene Fenster. Er atmete tief, und jetzt erst bemerkten wir den Duft der Rosen, den Duft der Levkojen, den Duft des Goldlacks, alle die Düfte, die, einzeln wahrnehmbar, in das Zimmer drangen. Die Kirche von St. Paul und eine entferntere im Tal kündeten langsam hintereinander die Stunde, so daß die Klänge der einen nach einer Weile drunten in der Tiefe aufzuschlagen schienen.

»Es fehlt den Herren Fremden nichts, und ihre Damen behaupten, in Wonne zu schwimmen«, hörten wir ihn sagen. Die Hände in der Schärpe, näherte er sich freundlich dem Lord, der auf einmal vergnügt, ja schalkhaft vor sich hinlächelte.

»Ich sehe es Ihrem Gesicht an, Lord Berrick, ich brauche mich nicht ausführlich wegen meines etwas brüsken Schrittes zu entschuldigen. Gern erlaube ich Ihnen, über uns zu lächeln, nachdem Sie mir gütigst gestattet haben, offen zu Ihnen, zu sprechen – fast hätte ich gesagt: zu drohen. Ich denke, wir sind alle im Bild ... Der Herr Baron, der erst heute abend angekommen ist, hat natürlich längst von unsrer armen Giulietta gehört. Der Herr Marquis – mein Gott, der Herr Marquis! Nicht wahr?! Nun fragt es sich noch, Lord, ob Sie es übernehmen können, einen Appell an die Güte, die Klugheit, die Einsicht der Lady zu richten, der, ich muß hinzufügen, den erwünschten, den unbedingt nötigen, den dauernden Erfolg bringt?«

Einen halben Schritt trat Lord Berrick zurück, und das Kinn in seiner bezaubernd sanften Art zur Seite geneigt, erwiderte er:

»Monsieur le Curé, ich gehöre nicht Ihrer Religion an. Trotzdem muß ich sagen, ich habe vielleicht noch nie eine so treffliche Predigt gehört, wirklich, ich danke Ihnen, und was Lady Berrick anlangt, so will ich es mit Vergnügen unternehmen, sie aufzuklären. Die Lady, müssen Sie wissen, Herr Pfarrer, bekämpft weniger eine Person als einen Verstoß gegen die Spielregel, verstehn auch Sie mich, bitte, recht: sie meint, derartige Damen kompromittieren die Sache der Frauenbefreiung. Aber natürlich haben die Pläsiers Madam Vars mit einer so ernsten Sache, wie die Lady sie vertritt, nicht das geringste gemein, und da Madam Var nicht bloß Geld nimmt, sondern, wie wir eben gehört haben, auch welches gibt, so glaube ich, den Punkt gefunden zu haben, wo ich ansetzen kann. Er verbeugte sich gegen uns. »Meine Herren, die Damen erwarten uns.

Funkelnd von Schminke, die Augen von Belladonna geweitet, den Arm unserm Kuß entgegengehoben, als lockte sie mit verkehrter Hand einen Vogel, so empfing uns die Marchesa Capponi. Neben ihr wirkte Lady Berrick in ihrer künstlichen Frische wie der leibhaftige Frühling.

»Herzensjunge!« rief die Marchesa bei meinem Anblick aus, »welch ein Teint, welch eine Haltung! Küssen Sie mich alte Dame auf die Stirn. Sie dürfen es, Sie allein. Warum wohnen Sie nicht bei mir unten in Cap d'Antibes? Ein Breuschheim vom Scheitel bis zur Sohle!« Und zur Lady gewandt: »Sie werden uralt, die Breuschheim, sie sterben nicht, die Breuschheim. Eines Tages befehlen sie: Genug!, und der Tod greift ihnen leicht an den Kopf, oder er drückt ihnen mit dem Daumen ein wenig in die Herzgrube. Und, eia, sind sie im Himmel. Mein Wort, Isabel, eine fabelhafte Rasse! Warum sind Sie eigentlich nicht mein Schwiegersohn geworden, Claus? Nicht böse gucken, Claus! Pscht, ruhig, ich sage nichts mehr.«

Der Pfarrer hob mit gestreckten Fingern ein wenig den Stock. »Gnädigste Marquise,« lächelte er, »ich halte es aus gewissen Gründen für meine Pflicht, Ihnen zu versichern: sterben tut weh.«

»Ich weiß, darauf bestehn Sie,« eiferte fliegenden Atems die Marchesa, »Sie fürchten, nicht zurecht zu kommen, natürlich. Beruhigen Sie sich! Sie haben neunundneunzig Chancen auf hundert. Wie die Bank in Monte Carlo.«

»Leider nicht, Frau Marquise, leider nicht! Ich frage bloß: steht es uns an, einen jungen Mann anzuleiten, oder dürfen wir ihn auch nur ermutigen, den Tod en canaille zu behandeln?«

»Ganz gewiß«, antwortete Lady Isabel. »So ehrwürdig das Opfer, so abscheulich der Henker. Der Tod verdient durchaus, en canaille behandelt zu werden.«

Der Lord murmelte: »Ich finde, wir sprechen heute abend etwas viel vom Tod,« und die Marchesa war ganz seiner Meinung. Durch die Manie, bei jeder Gelegenheit in unangenehmer Weise an den Tod zu erinnern, büßten die Herren Geistlichen viel von ihren so mannigfachen Reizen ein. Waren sie denn Wucherer, daß sie immerzu den Schuldschein schwenkten? »A propos, Claus, der General hat sich vorgestern nach Abessinien eingeschifft, in einer sehr, sehr wichtigen Mission. Pscht! Bob, deinem Freund wird schlecht, ein Glas Wasser! ... Nicht? Gott sei Dank! ... Ich sage nichts mehr ... Der ausgezeichnete General! Ich gebe zu, er hat etwas von einem Gespenst, erschreckend, sogar in seiner Abwesenheit.«

»Warum?« Der Glaubensstreiter schlich sich von neuem an: »Darf ich in aller Ehrerbietung fragen: warum ist der zweifellos hochachtbare, vermutlich sogar bedeutende Mann, den Sie, Frau Marchesa, den General nennen, auf so besondere Weise erschreckend?«

»Ein Schwiegersohn, der zehn Jahre älter ist als ich, finden Sie nicht, daß der sozusagen im Hause meiner Tochter ... spukt?«

»Also wiederum die Angst vor dem Tod?« griff der Abbé zu.

»Ja, wieso denn, Herr Abbé?!« Die Marchesa schüttelte sich vor Ungeduld. »Der Mann lebt doch, ist aktiver General, fährt mit Waffen und Geld nach Abessinien, um Geschäfte zu machen – wo sehn Sie da den Tod?«

»Ja, spuken denn in der Familie der Frau Marchesa auch die Lebenden?«

Meisterlich bemüht, der also zugespitzten Unterhaltung jetzt eine humoristische Wendung zu geben, kniff der Pfarrer mit komischer Listigkeit ein Auge zu. Seine ganze Gestalt drückte Wohlwollen für das zerzauste Weltkind aus.

Die Hornbrille sprang ihm bei.


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