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Wir lagerten auf dem Südhang hinter dem Kirchhof, in »Afrika«, wie der Ort von Bob benannt war. Hier nahmen wir unsre Sonnenbäder, und zwar, streng gegen ärztliche Vorschrift, gleich nach Tisch.
Sooft wir die Augen aufschlugen, gewahrten wir, allerdings hoch über uns, ein bedenkliches Schauspiel. Die Sonne feuerte steil auf die Zypressen herab, die sonst so deutlichen Wappen- und Totenbäume St. Pauls, die jetzt, eine dumpfe Masse, in der Blitzluft schwankten gleich einem Ungeheuern, mit buntgeflammten Banderillas gespickten Stier. Sonst sahen wir sie meilenweit ragen: sprühend, zuckend, mit einem Dunstkreis um sich, dunkles Feuer, höchster Glanz des Olivenlandes – zuvorderst der Stadt, die ein Bergschloß war, als mittägliche Fahne gehißt. Jetzt aber empfingen wir, nackt in der Sonne zwischen der Kirchhofsmauer und dem schütteren Kiefernwald, der dicht an unsern Sohlen in die Tiefe sank, mit den geblendeten Augen die Stöße ihres Kampfes mit dem Gestirn, und wir rochen ihren Schweiß.
»Bob,« lallte ich, »paß auf, daß du nebenhinaus in den Schlaf einlenkst! Sonst setzt dir der Tauro da oben die Hufe auf die Brust.«
Der Freund antwortete nicht, er schlief, und sein Atem zog mich dahin, schon trieb ich in rotgelber Entzückung ... Ein Vogel sang! Und bald nahm mich eine heimatliche Waldlichtung auf, deren Frische meine Haut überzog, ein schräger Strahl der Abendsonne wies mir, vor einem Felsen, zwischen spitzen Gräsern eine Quelle und ihr feuchtes Goldauge.
Lord Berricks Dackel, der mir über die Beine kroch, weckte mich, gleichzeitig fuhr Bob mit einem Angstschrei in die Höhe, denn der Hund rutschte, in Verfolgung seines Weges, nunmehr über die andern Beine, die den Paß sperrten: »Madonna! Ich dachte schon: eine Schlange.«
Als ich eingeschlafen war, hatte der Dackel neben mir gelegen. Jetzt hielt der Wipfel einer Kiefer einen durchbrochenen Fächer zwischen mich und die Sonne, und der Alte hatte es in dem hauchdünnen Schatten nicht mehr heiß genug gehabt. An seinem neuen Ziele angelangt, streckte er sich gähnend aus.
»Sauvieh«, brummte Bob. »Wie kann man sich mit krummbeinigen Hunden abgeben! Vermutlich, weil der Herr ein scheeles Auge hat.« Und da hatte ich von Bob das erste böse Wort über einen Freund vernommen! »Der letzte Satz,« rief ich aufgeregt, »war von deiner Mutter, nicht von dir.«
»Ich hasse die Schlangen!« antwortete er ebenso heftig.
Ich stützte mich auf, um seinen Blick zu suchen, da schloß er langsam die Augen. Ich wußte, jetzt bat er den Lord heimlich um Entschuldigung, und nun war es an mir, mich meiner Heftigkeit zu schämen ...
Um meinen Vorwurf in Vergessenheit zu bringen, sagte ich nach einer Weile:
»Wenn Adam wie du gewesen wäre, langweilte er sich heute noch im Paradies.«
Er schlug die Augen auf, wie eine schwere Blume hing das Lächeln an seinem Mund ...
»Du irrst, mein Lieber. Keinesfalls hätte ich des kupplerischen Zuspruchs einer Schlange bedurft, um auf Evas Körperformen aufmerksam zu werden.«
Da löste sich von den Gedanken, die mich in Rufweite umgaben, unversehens ein Schnellläufer, und den Kopf von dem heraneilenden zu Bob wendend, fragte ich:
»Bob, was machst du eigentlich in St. Paul?«
»Ja, lieber Junge, wie soll ich sagen? ... Ich schäme mich ...«
»Spotte nicht, Claus ... Ich trinke nicht mehr, weil – ja also, weil ich meinen schottischen Herrensitz Whisky übermütigerweise in Brand gesetzt habe, .. mit zwei Revolverschüssen, die ich meine Frau abgeben ließ. Ja, aber, du darfst nicht meinen ... Es hat wirklich geknallt! Zwei junge Leute aus der besten Mailänder Gesellschaft kränkeln heute noch daran. Der eine spaziert sogar täglich mit der Kugel als Acrochecoeur zwischen den Rippen in der Galerie, vom Domplatz zur Piazza und wieder zurück.«
»Camilla hat geschossen?«
Ich setzte mich vollends auf, um sein Gesicht besser unter den Augen zu haben.
»Gott sei Dank schlecht,« sagte er, »aber, immerhin: geschossen hat sie, zweimal. Mitten in der Nacht. Und wie gesagt, zweimal getroffen ... In die Vorderseite. Ich hätte das vom jungen italienischen Adel gar nicht erwartet, daß er sich von vorn treffen ließe. Du? Allerdings, Camilla hat eine fixe Hand. Warum geschossen, fragst du? Lieber Junge, wie soll ich dir das erklären, ohne ... Natürlich war ich betrunken. Also in der Trunkenheit führte ich meine Freunde, mit denen ich im Garten zechte, in Camillas Schlafzimmer. Ich wollte ihnen meine schöne Frau zeigen – verstehst du? Also, da schoß sie, und was das Merkwürdigste ist, nicht einmal auf mich, sondern auf die andern ... Seitdem hüte ich mich vor jedem Tropfen Alkohol.«
An der braunen Hüfte des Freundes blühte ein gelber Krokus, dessen Same der Wind hierher getragen haben mochte, ferner entdeckte ich in dem Gärtchen zwischen unsern beiden Leibern zwei wilde Spargeln, eine Anemone, zwei Levkoien. Ich versuchte, mir den schönen jungen Mann mit den schattenwerfenden Lidern unter der Sonne in jener nächtlichen Szene voll Wüstheit, feurigen Lärms und angstvollen Dunkels vorzustellen, als er sich mit einem Ruck aufrichtete:
»Also, Claus, wir wollen uns anziehn ... Es geniert mich, daß wir nackt sind, wenn ich an jene Geschichte denke. Komisch, nicht?«
Während wir uns noch ankleideten, griff aus heiterm Himmel ein Windstoß die Zypressen und wirbelte sie herum, ein zweiter brach in die Kiefern, der Wald gab einen stöhnenden Laut von sich, der hinter einem Wimmern her in Abstufungen weiterlief ... Dann hörten wir die Läden im Städtchen gegen die Mauern krachen und in allen Tonlagen Scheiben klirren. Das Waldwimmern hatte sich in die Glocke auf der Schule verkrochen.
Von der Höhe erblickten wir das veränderte Land. Bei überklarem Himmel und Horizont hockte eine stumpfe Helligkeit auf der Erde, mit Streifen und Flecken gelben Lichtes behangen, die der Wind hierhin und dorthin trug. Zuweilen wehte solch ein Fetzen auf das hellgraue, starre Meer hinaus.
Es erwies sich als unmöglich, zu sprechen, der Wind drückte uns den Atem in den Leib. Unter dem Tor aber packte uns der Luftzug, wir schossen durch die Gassen, zugleich mit allen Katzen der Stadt, und von den Dächern erklang eine tolle Musik: Oboe, Triangel, Cello und Holztrommel. Frauen, Männer und Kinder eilten, dicht an den Wänden entlang, in die Häuser und mit Geschrei durch die Zimmer, wie alarmierte Schiffsmannschaften. Als wir die Kirchgasse schnitten, hörten wir die große Glocke summen. Der Mistral blies.
Da wurden wir angehalten. Aus einem Haustor fuhr ein grobleinener Sonnenschirm und versperrte uns den Weg. Es war der Schwede, der uns zurief:
»Hier unterstehn, Ziegel fallen.« Wir traten zu ihm in den Flur. »Staffelei, Farben, Stuhl, alles fort, am Schirm festhalten, fünfzig Meter fliegen, bis Hohlweg. Nicht wehtun. Sanft Fallschirm. Durst.« »Im Hotel gibt es zu trinken, Meister. Vorwärts!« sagte Bob.
»Vorwärts, Meister, im Hotel wird getanzt«, sagte ich.
Wir nahmen ihn unter den Arm, um ihn ins Freie zu ziehn, aber, unsern Ermutigungen zum Trotz, wehrte er sich hartnäckig.
»Furchtbar aufregend draußen«, knurrte er. »Ganz wild auf Weib.«
Bob erinnerte an die Hirschkuh, aber er schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Hier trinken ... Hier wild!«
»Also dann«, meinte Bob und wies auf die Innentür. »Hinauf Meister, hinauf zu Madam.« Wir standen, erfuhr ich auf diese Weise, im Hausflur Madams.
»Richtig«, nickte der Maler. »Aber nicht solo. Solo Verfolgungsangst.«
Bob zog die Uhr und fand, es sei ein bißchen früh für den Tee, was Kaspar mit den Worten zurückwies:
»Nie zu früh für kühne Männer.« Alsdann schritten wir, den Maler zwischen uns, lachend und abenteuerselig die breite Treppe hinauf, Kaspar läutete, ein Page öffnete.
»Wollen Sie uns, bitte, Madame melden!« sprach der Marquis Capponi. »Was treibst du da, Knirps?« setzte er unwillig dazu.
Der Knirps beschrieb grinsend mit dem Finger einen Kreis auf der Stirn. Als einzige Antwort auf Bobs Frage aber öffnete er schnell die Flügeltür.
»Ein Herr Marquis,« schrie er, »ein Herr Baron und der Maler aus Schweden.«
Madam flog uns mit ausgebreiteten Armen entgegen, ein wehendes Leuchten fiel von den Haaren, ihr Gang war rauschend und duftete nach Jasmin, und als sie vor uns stand, erkannte ich das brokatne Ballkleid, worin ich sie in Cagnes gesehn hatte. Sie faltete die Hände.
»Seien Sie gesegnet, meine Herren, daß Sie gekommen sind, einer armen, einsamen Frau beizustehn«, flüsterte sie. »Beachten Sie, ich habe mein schönstes Kleid angezogen, um zu sterben.« Sie glitt um die Schleppe des Kleides, eilte an das Balkonfenster, drohte mit der rundlichen Faust hinaus.
»Du Ungeheuer,« – rief sie leise, »du brüchiges! Erschlägst du mich oder nicht?«
Kaspar war ihr nachgeeilt und spähte, an ihre bloße Schulter gelehnt, ohne es zu bemerken, ängstlich aus dem Fenster.
»Sie wissen, meine Herren,« fuhr Madam mit leiser Stimme fort, »je älter sie sind, um so unberechenbarer.«
Kaspar drehte sich um.
»Sie meint den Kirchturm«, sagte er. Er bot Madam den Arm und führte sie zur Bergère. »Schrecklich, schrecklich,« seufzte sie, während sie sich, eine weiße Leda, in die blauen Kissen duckte. »Das ist mein Mörder, glauben Sie mir, meine Herren, der bringt mich eines Tages um ... oder eines Nachts ... Sie, Herr Schwede, Sie können doch singen! Kennen Sie das Champagner-Couplet aus ›Don Juan‹? Tatata-tata-titata? Man kann die Matschitsch darauf tanzen. Wohlan! Sie werden es singen.«
Leichthin zurückgelehnt, ruhte sie in den blauen Kissen. Ich staunte wieder über den glücklichen Fluß dieser Gestalt, die, in dem runden Kopf ansetzend, ohne Stockung, ohne Kanten und Ecken den schmalen, kurzen Hals entlang auf die fast geraden Schultern abfiel, von dort über das Wehr der gerundeten Achseln in die Brust trat, dann, sich verengend, in die weichen Hüften, den leicht gewölbten Bauch strömte, um erst wieder in den kleinen Füßen aufzutauchen, die gekreuzt unter der Robe hervorsahn. Das Haar lag wie ein ausgebranntes Feuer, tatsächlich wie Asche, flockig und doch zäh um Schläfen und Stirn, es schien voller Leben, ja, unruhig im Gegensatz zu den hütenden, brütenden Augen, die, sie mochten berühren, wen und was sie wollten, niemals ihren Ausdruck änderten.
Kaspar war ans Fenster geeilt, um sich zu sammeln, und als der Wein eingeschenkt war, nahm er das Glas aus Madams Hand entgegen und trat zum Flügel. Ich schickte mich an, ihn zu begleiten, indes Bob lässig an der Bergère lehnte und Madam einen Frühlingswind über den klaren Scheitel ihres kribbeligen Haares blies. Seht nur, dachte ich, er ist immer noch ein Gott, obwohl er jetzt ohne Wolke herumgeht. Ich würde mich nicht wundern, wenn er sich plötzlich in einen schwarzen Schwan verwandelte, mit einem roten Schnabel ... Und der Arme hat ein Verbrechen begangen! Aber machten sich nicht auch Götter schuldig?
»Jetzt!« rief Madams verhaltene Stimme.
Wir begannen – ich zögernd, mit Intervallen wie Liebkosungen, Kaspar ausbrechend, er stampfte aus Protest mit dem Fuß, als wäre das »Jetzt!« Madams das Kommando gewesen, die Kette zu sprengen und loszurasen. Er sang schwedisch, es klang für meine Ohren barbarisch, bums, waren wir fertig. Madam streckte die Beine:
»Herrlich«, schnaubte sie. »Meine Herren!«
Sie reichte Kaspar die schmelzende Hand zum Kuß. Während er sich darüber beugte, fuhr Bob ihr mit leichtem Mund über den Scheitel, sie zuckte schnurrend zusammen, und Kaspar, überrascht und beglückt, hob ein wenig den Kopf, doch sank er, ohne den Zusammenhang erfaßt zu haben, gleich wieder vornüber und drang, ein Korsar, mit den Lippen bis zu ihrem Handgelenk vor. Mit sanfter Bewegung schüttelte Madam ihn ab.
»Beefsteaks«, sprach sie, und schon rauschte sie jasminduftend aus dem Saal. Der Schwede, der sich mit finstrer Energie gefaßt hatte, erklärte: »Beefsteaks! Köchin Perle. Aber Beefsteaks, nein! Nur Madam!«
Die Türflügel öffneten sich, und unter Vorantritt Lancelots, den hübschen Namen hatte der Page von Madam erhalten, trugen zwei weißgekleidete Mädchen einen gedeckten Tisch herein. Ohne uns eines Blickes zu würdigen, rückten sie Bestecke und Gläser, verteilten sie Blumen über das Tischtuch, stellten sie Stühle zurecht, während Lancelot, der das Tun der Mädchen überwachte, die Champagnerflasche im Eiskübel rollte. Dann äußerte Lancelot halblaut: »Bien!«, und die Mädchen stellten sich im Hintergrund des Zimmers zu beiden Seiten der Anrichte auf, Lancelot aber entschritt durch die Tür. Er schloß sie nur, um sie gleich wieder vor Madam zu öffnen. Sie war überaus malerisch anzusehn, wie sie, vom Pagen geleitet, mit einer großen silbernen Platte auf den ausgestreckten Händen vor uns erschien! Von der gegenüberliegenden Seite glitten die Mädchen heran, die eine nahm die Platte, die andre die Serviette, die Madams Hände vor der Berührung mit dem Geschirr bewahrt hatte, der Page trat, einem jeden von uns zunickend von Stuhl zu Stuhl, und da saßen wir und bewunderten das Dutzend kleiner goldbrauner Beefsteaks, auf denen eine Messerspitze Butter in der Petersilie zerschmolz, Lancelot schenkte ein.
Das alles vollzog sich fast lautlos. Nicht nur Madam bewegte sich und sprach leise, das ganze Haus war auf ihren gedämpften, heimlich spannenden Ton gestimmt.
Ich weiß nicht mehr, wie es kam, daß auf einmal alle von Träumen erzählten. Vermutlich hatte Kaspar, lüstern nach sibyllinischen Enthüllungen Madams, das Gespräch darauf hingespielt. Er selbst produzierte, sei es, um uns Mut zu machen, sei es, um die Gastgeberin in Stimmung zu bringen, mit sichtlicher Anstrengung, der leider der Alkohol nicht rasch genug beihalf, angebliche Traumgebilde von geradezu scheußlichem Ausmaß. Schließlich gab auch ich einen Traum zum besten, den ich in der letzten Nacht gehabt hatte und keineswegs zum erstenmal in der letzten Nacht. Vielmehr handelte es sich um einen Traum, der seit Jahren regelmäßig wiederkehrte. Nur der Ort wechselte, die andern Umstände blieben sich immer gleich. Einmal war es ein halberleuchtetes Restaurant oder eine Hotelhalle, das andre Mal eine Kirmes unter freiem Himmel, manchmal aber auch eine Kirche, ein tiefer Wald – die letzte Nacht war es der Saal des Herrn Roux gewesen. Ich betrat ihn in erregter Erwartung, wofür ich indes keinen Grund wußte, und wurde von der Musik dreier Kapellen empfangen, von denen jede ein anderes Stück spielte. Melodie und Takt stellten sich als so ungleich heraus wie die Stücke selbst, doch empfand ich eine besondere, schmerzlich lustvolle Harmonie, die, ohne den drei musikalischen Persönlichkeiten im geringsten Abbruch zu tun, mich beglückt an ein großes, dreifach schlagendes Herz hinaufzog. Und gleich darauf war ich die Kirche, der Wald, der festliche Platz und diesmal der Saal der Hostellerie, war ich also, um von der Zufälligkeit des Ortes abzusehn, der intelligente Raum, worin die drei Melodien in mich als ihre höhere Einheit wesenhaft eingingen. In diesem Augenblick höchsten Lustgefühls pflegte ich dann zu erwachen.
So wie hier vermochte ich nun allerdings Madam den Traum, nicht zu schildern, ich blieb bei der Erwähnung des groben, gleichsam stehenden Gerüstes. Trotzdem hatte sie sofort eine Deutung zur Hand, und diese beschämte mich derart, daß ich die Eilfertigkeit, mit der ich Kaspars Verlockungen nachgegeben, aufs ärgste verwünschte. Kaum hatte ich nämlich meine Erzählung beendet, da schaute Madam mit dem im Fleisch geschwungenen Lächeln von mir auf Bob, von Bob auf mich und fragte, zu Bob gewandt, in einem Ton, als stände er in verschwiegenem Einverständnis mit ihr:
»Wer sind die beiden andern? Die eine mag Ihre Schwester sein – Sie haben doch eine Schwester, Herr Marquis – aber die dritte, wer mag wohl die dritte sein?« Und, indem sie sich über den Tisch beugte und mit ihrem Blick von unten in die Augen drängte: »Suchen Sie einmal in ihrer Kindheit! ... Nun?«
Obwohl ich mich der Eindringlichkeit der Stimme, dem heißen Zwang der Augen, der plötzlichen, irgendwie ergreifenden Aufmerksamkeit der Anwesenden nur mit Mühe erwehrte, hätte ich dennoch die Zumutung mit Entrüstung zurückgewiesen, wäre nicht dem fast ebenso fassungslosen Freund unversehens der Name Sidonia entfahren. Die Überraschung lenkte mich völlig ab, der Neugier Madams war aber für diesmal genug getan. Während das Gespräch neue Wege einschlug, konnte ich mich ungestört den tumultuösen Gedanken über die erfolgte Enthüllung überlassen, deren Folgen mir gefahrkündend und glückverheißend zugleich erschienen ... Sidonia, Bob und Maria – es war so, sie hatte ich am meisten geliebt; und nun fürchtete ich, plötzlich erbebend, die beiden zu verlieren, wie ich Sidonia verloren hatte, und gleichzeitig fühlte ich, wie sie Doris bedrohten, sie wollten nicht weichen vor ihr, sie weigerten sich, mich ihr allein zu überlassen ...
Als die Platte zum zweitenmal herumgereicht war, mußten die Dienstboten, unter Vorantritt des Pagen, das bereits von zartfüßig heiteren Geistern wimmelnde Feld räumen. Giulietta, die von Zeit zu Zeit in den Himmel äugte und sich jedesmal bestätigen ließ, daß der Sturm nachgelassen, begann eine lange Geschichte vom Herrn Pfarrer und dem Kirchturm. Die Geschichte war übrigens amüsant genug. Es ging aus ihr hervor, daß sie Pfarrer Roux vorgeschlagen hatte, den schwanken Kirchturm auf ihre Kosten befestigen zu lassen. Worauf der Pfarrer geantwortet: »Wenn es dem lieben Gott gefällt, ihn einstürzen zu lassen, so werden Sie ihn nicht daran hindern. Nehmen Sie ihn, Madam, als das, was er ist: eine ernste Mahnung an den Tod, der auch ein so herrliches Geschöpf wie Sie nicht verschonen wird.« Zu guter Letzt hatte sie sich erboten, den Turm abtragen und neu aufrichten zu lassen, in der Hoffnung, ein so großmütiges, ja ruinöses Angebot werde den Pfarrherrn erweichen. »Madam,« war seine Antwort gewesen, »wenn Sie sich an gewissen Tagen gebrechlich fühlen, ein wenig alt, wenn ich so sagen darf, können Sie da befehlen, daß Giulietta sechzehn Lenze zähle?« Und wie wir, ein wenig geniert, auflachten, schlug Madam vor, wir sollten alle als Siebzigjährige auftreten und eine entsprechende Unterhaltung führen. Der Schwede machte den Anfang. Es stellte sich heraus, daß er als Engel auf einer Wolke segle und sich nach dem Kirchturm von St. Paul umschaute, um da eine Landung zwecks Rekognoszierung des Nachbarhauses vorzunehmen. Denn, so erklärte er: »In dreißig Jahren ich mausetot und schon großer Engel.«
Giulietta ließ ihre Rolle, die sich beim Versuch als undankbar erwies, mit eins im Stich, um als Pfarrer Roux von jener längst verstorbenen Giulietta Var zu erzählen, die im Nachbarhaus spuke und bei Mistral sogar an die Fenster des Pfarrhauses klopfe, um den armen, wackeligen, zittrigen Kanonikus zu beschwören, herauszukommen und den Turm seiner Kirche festzuhalten. »Ach, Herr Marquis, war das bei Lebzeiten eine verzwickte Person! Zwar: eine vermögende Dame. Aber: woher der Reichtum? Ich weiß es nicht. Das Christentum kennt keine Götter, die auserwählten Damen in Form eines Goldregens ihre Aufwartung machen, wie ich es sonst bei erwähnter Person anzunehmen geneigt wäre. Ach ja, sie versäumte nie den Gottesdienst, sie gab den Armen, nur mir gab sie nichts, Herr Baron, mir nichts. Und wenn ich ihr bei der Osterbeichte, ungern, muß ich sagen, und nur auf den direktesten Befehl meines Gewissens, wie Sie sich denken können, die bewußten Fragen stellte, so glaubte ich im Dunkel des Beichtstuhls ein Kichern zu vernehmen – es mag aber auch der Teufel gewesen sein. Ob das Genie der Freundschaft eine Sünde sei, wagte die Person mich zu fragen. Denn wenn man sie mit soviel Männern Umgang pflegen sehe, so beweise das nur ihr Genie der Freundschaft – meine Herren! ... Schon wenn ich in unsre gute kleine muffige Kirche trat, roch ich sie, ich schlug die Augen nieder, um sie nicht zu erblicken, und meine Füße waren plötzlich von Blei. Und sobald sie in den Beichtstuhl kniete, schlug das Blut mir lichterloh ins Gesicht, ich erkannte sie an ihrem Parfüm, bevor sie den Mund geöffnet ... Gott, Herr Baron, wieviel Qualen stand ich in jenen fünf Minuten aus, ich war in Schweiß gebadet, so kämpfte ich um die dunkle Blumenseele dieser Frau, und während sie noch ihre Buße betete, eilte ich nach Hause, um das Wollene auf dem Leib zu wechseln, aus Furcht vor einer Lungenentzündung. Gott sei Dank ist nur einmal Ostern im Jahr! Im Freien fürchtete ich sie nicht! ...«
»Im Freien, Herr Kanonikus?« unterbrach Bob mit einer fadendünnen Stimme, wobei er versuchte, Lippen und Augen lüstern hervorzukehren, was ihm aber nicht recht gelang, so daß seine Grimasse eher der eines schmollenden Mädchens glich. »Pflegten Sie denn die Dame auf der Gasse anzusprechen?«
»Gewiß doch, Herr Marquis. Nicht gerade auf der Gasse, aber draußen, unter Gottes freiem Himmel, auf unsern herrlichen Bergwegen, die kein Menschenhauch verpestet, und wo das Gelispel des Verführers im Quellenlachen und Gesang anbetender Vögel ohnmächtig vergeht, wo –«
»Schnell!« krächzte Bob, »was machten Sie da, Herr Abbé?«
»Da versuchte ich zu Madam Var zusprechen, wie unser Herr mit Magdalena gesprochen.«
Der Engel Kaspar lispelte:
»Oh, ich wissen, was Sie sagen.«
»Nun, was denn, mein Engel?«
Die Stimme aus der Höhe antwortete:
»Herr, Erlaubnis, mit Kaspar sündigen, will ich mit niemand anders sündigen!«
»Das verstehe ich«, erwiderte im leisen Tonfall Madams der edle Greis. »Der Schwede war ein reizender Kerl.«
Da forschte, jählings abstürzend, mit unverkennbar irdischem Laut der Engel:
»Sie mit ihm sündigen?«
Auch der Kanonikus wich einige beträchtliche Striche von seiner Rolle ab, als er mit weltlicher Ausgelassenheit erwiderte:
»Möglicherweise. Aus Genie der Freundschaft.«
Nun stellte ich die Frage nach den Umständen ihres Todes.
»Der Kirchturm ist eingestürzt und hat sie im Bett erschlagen«, gab der sanfte Greis Bescheid, »und, Herr Baron: keinen Sou für mich in ihrem Testament.«
»Im Bett erschlagen, nur weil sie unbeschützt liegen«, eiferte Kaspar, ob seiner Keckheit erblassend, aber das Spiel war aus. Giulietta, bei der die Wirkung des Champagners merkbar wurde, wandte sich »philosophischen Fragen« zu, nämlich den landläufigen Gespenstergeschichten, denen sie aber einen psychologisch merkwürdigen Doppelsinn zu unterlegen verstand. Als sie eine wüste Geschichte vom Palazzo Briamin, so hieß Bobs Haus in Mailand, zu erzählen begann, dessen Besitzer, ein junger Edelmann, seine schöne Frau mit nichtsnutzigen Jünglingen betrog, hob mein Freund langsam herausfordernde Augen zu ihr auf, und da sie, nach kurzem Zögern, unschuldig lächelnd fortfuhr, schüttete er mit eins sein Glas in den Eiskübel und füllte sich ein neues. Madam blieb mitten im Satz stecken. »Sie schütten Champagner fort?« stammelte sie und setzte nach einer Weile sentenziös hinzu: »Man soll nicht auf Brot treten, man soll auch keinen Champagner verschütten.«
»Madame,« entschuldigte sich Bob sehr laut, »Sie hätten mir nicht verwehrt, ein zweites Glas zu trinken ...« »Zehn, zwanzig!« rief sie leise. »Warum darf ich nicht ein zweites Glas riechen? Die Blume vergeht ... Blume, so sagen die Deutschen, ich finde es schön: die Blume des Weines. Nun, auch sie hält nicht ewig, sie verwelkt ...«
Diese Bemerkung aber gab Madam Anlaß, nunmehr die Säufer aufmarschieren zu lassen, die sie in ihrem Leben gekannt. Es war ein tobsüchtiger, ein trübseliger Aufzug, Dionyse im Frack, Dionyse in Hundegestalt, Pierrots, fahrende Ritter, Ekstatiker und Affen, von denen sie in der Art eines sanften Kindes erzählte ... Aus zehn Völkern, zwei Weltteilen häufte sich der Schatz ihrer Erfahrung. Bob wandte sich zu mir:
»Also komisch – man ist noch empfindlich ...«
Um dem Gespräch eine andre Wendung zu geben, bat ich höflich um die Erlaubnis, fragen zu dürfen, welches Volk Madam vorziehe, nicht für den Trunk, sondern in der Liebe ... Sie machte keine Umstände. Am besten bekamen ihr die Deutschen, sie meinte die langen, blonden, ruhigen. Aber? Ihr Schwarm waren? ... Die Chinesen! Die Chinesen? ... Kannte sie auch Chinesen? ... Ein Wunder, stammte sie doch aus Genua! Bob glaubte gehört zu haben, daß sie Pariserin sei. Väterlicherseits, sie gab es zu, auch geboren war sie in Paris, jedoch ihre Mutter, ja, ihre Mutter, die galt zwei Jahrzehnte für die schönste des mit schönen Frauen begnadeten Genua.
»Im Hafen,« triumphierte sie, »im Hafen von Genua stolpern Sie über Chinesen!«
Ach so, sie trieb sich als Mädchen im Hafenviertel herum! Bob verbeugte sich, was soviel bedeuten sollte wie: »Allen Respekt, daß Sie nicht heute noch dort sind.« Giulietta brauste ein ganz klein wenig auf. Herumtreiben? Ihr Vater besaß das größte Hotel am Hafen, das »Bristol«. Sie flüsterte begeistert, und Bob, die Hände in den Taschen, bummelte gelassen hinter ihren beschwipsten Lügen drein. Das »Bristol«? Das war noch keine fünf Jahre alt! Worauf sie errötend hinwarf, nun ja, viel älter sei sie damals auch nicht gewesen.
Gut – da waren also diese Chinesen, Mandarine wohl? Das waren sie, reiche, vornehme Herren, sie machten einen verrückt, und sie selbst kamen nie aus der Ruhe – ja, daran durfte sie gar nicht denken, meine Herren!
»Jedoch, bekömmlich waren sie nicht?«
»Nein, gar nicht.« Giulietta blickte angestrengt auf ihre fleischigen Arme, die sie auf dem Tisch gekreuzt hielt, und zog ein Gesicht, als verurteilte sie ihre Vergangenheit. »Und geizig sind sie auch. Man kann froh sein, wenn sie einem nicht die Hosen mitnehmen.
Jawohl die Hosen, sie spitzten sich auf die Hosen, die Chinesen. Oh, die Nattern! Giftschlangen waren sie, alle ohne Ausnahme.
»Erzählen Sie! rief Bob, »erzählen Sie, göttliche Giulietta, von den Mandarinen, wie sie Ihnen die Hosen klauten.«
Doch Giulietta schüttelte schmerzlich das Haupt.
»Gewiß nicht, Herr Marquis. Ich ziehe mich jetzt zu einem Schläfchen zurück. Kaspar kann bleiben.«
Dieser, ein märchenlesender Junge, der plötzlich vor die Königin gerufen wird, schwankte aufgeschreckt auf seinem Stuhl. Er warf uns einen hilfesuchenden Blick zu, dann sprang er auf und stand reglos, die Augen in wilder Demut Giulietta zugewandt. Weder sah er, wie Bob im Vorbeigehn seiner Herrin freundlich über die Hüfte strich, noch, daß ich ihr einen Geldschein in die Hand drückte, mit Dank für das improvisierte kleine Gelage, das sie mit ihrem Geiste so reich gewürzt. Bei diesem Wort sprang ihr eben noch gutmütig dumpfes Gesicht hellauf, Mund und Augen wölbten sich feucht, als sie eindringlich leise sprach:
»Improvisiert? O nein! Ich hatte meinen Falken nach Ihnen ausgesandt, Herr Baron. Hätte ich Sie anders in diesem Kleid empfangen? ... Freuen Sie sich, mon petit, morgen kommt Ihre Geliebte!«
Mit einem Rätsel entließ uns die Schutzherrin des Olivenlandes im Augenblick, als wir vermeinten, bis auf den Grund ihres Wesens geblickt und dabei nichts Ungewöhnliches entdeckt zu haben.
Vor dem Haus blieb ich stehn:
»Bob, jetzt das mit dem Falken? Ohne den Überfall durch den Mistral wäre es ja alles nicht so gewesen?
Er zuckte die Achsel. »Es dämmert mir, Claus, wieso man darauf verfiel, sie als Hexen zu verbrennen. Aus Unbehagen über ihre Wichtigtuerei. Scheint sie dir übrigens noch immer so bekannt?«
»Das nicht – das heißt, ich weiß bestimmt, daß ich sie früher nicht gekannt habe. Trotzdem kommt sie mir schon irgendwie erlebt vor. Ihr leises Wesen hat diesen Eindruck noch verstärkt. Natürlich ist es eine Selbsttäuschung ... Und was sagst du zu ihrer Traumdeutung?«
Der Freund streifte mich mit einem forschenden Blick:
»Ein gerissenes Frauenzimmer«, antwortete er. »Hände weg! Aber hältst du nicht diese Traumdeutung für baren Unsinn?
»Das schon – das heißt ...«
»Also, und auf Maria werden wir wohl auch noch warten müssen«, fügte er unwirsch hinzu.
Wir hielten uns noch im provenzalischen Hof des Hotels auf, erstaunt über den Ausdruck entzückter Bosheit, den der Baou an den Tag legte, da packte der Schwede unsre Schultern und drehte uns mit einem Griff um.
»Messieurs, Sie vielleicht glauben, ich wild sein, Weib rasend? Nicht Spur. Ich sollen in Nizza Bilder verkaufen, die ich ihr in Jahren schenken. Was Sie sagen? Immer wieder mich fragen, warum ich Komma untereinander malen. Madam nicht glauben, Erde sausen mit Kosmos senkrecht durch Raum! Bild auch, Hirschkuh auch, wenn bei mir liegen, alles! Alors, wenn sie nicht glauben, ich auch nicht ihre Bilder verkaufen.«
Wir zeigten ihm den Baou, und er betrachtete ihn lange mit bedenklicher Miene. »Er sein wütend auf Madam,« sagte er endlich, ließ uns stehn und machte sich pfeifend daran, die vom Mistral zerzausten Kapuzinerranken in den Tongefäßen zu ordnen.
Auf meinem Tisch lag eine Depesche. Ich riß sie auf, daß der Text in Stücke ging, aber die zwei Worte, die mir in die Augen sprangen, ließen mich in lauten Jubel ausbrechen: »Domani ... Maria.«
Ich sang es zum Fenster hinaus, in die blankgefegte Welt.