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Dritter Teil

Sie kommen. Wir gehn

Als die deutschen Soldaten, schmutzig und die Brust voll widerstreitender Gefühle, aufatmend immerhin, daß die greuliche Arbeit von vier Jahren endlich ein Ende haben sollte, über den Rhein abgezogen waren, schob der liebe Gott ein paar Ruhetage ein, um den Elsässern Zeit zu lassen, ihre Städte und Dörfer fleißig zu putzen, zu scheuern, zu wichsen und sich selbst für den Empfang ihrer Befreier bereit zuhalten (wobei einige wenige eingeborene Vögte und Knechte des Kaisers mit der Uniform gleichzeitig ihre bisherigen Erinnerungen und Überzeugungen ablegten). Und dann, als man im französischen Hauptquartier vernommen hatte, das große Reinemachen zwischen Vogesen und Rhein sei beendet, dann zog die Armee ein.

Sie war prächtig, funkelnd neu, wie aus dem Ei geschlüpft und bereits von allen Resten der Schale gesäubert. Ein großer Schneider hatte dem Mars gleichsam über Nacht einen Streich gespielt, und nun belustigte er sich damit, dem gasstinkenden, von Blut und Kot bedeckten Heidengott über das ganze Land hin eine Nase zu drehn – eine schöne, eine sonntägliche Nase, daß die Kinder in die Hände klatschten und die Frauen lächelnd sich streckten.

Um dieses Augenblicks willen lohnte es sich, jahrelang alle Teufel auf den Fersen gehabt zu haben, von ihnen qualvoll gekitzelt, gezwickt und gespießt worden zu sein, wie man dies auf der von Meister Grünewald dargestellten Versuchung des heiligen Antonius hatte beobachten können, bevor das Bild, bekanntlich ein Hausschatz der Elsässer, von den mißgünstigen Deutschen außer Landes geschafft worden war.

Jetzt aber kamen die Franzosen, sie kamen!

Meine Mutter wachte aus ihren Gebeten auf, um an ihrem Kleid eine Stelle ausfindig zu machen, wo eine Kokarde in der Lage wäre, unauffällig Freude auszudrücken. Sie brauchte Stunden, bevor sie sie entdeckt hatte, und mein Vater rief mich als Zeugen herbei, daß die Kokarde am Gürtel die Mutter unglaublich verjünge. Er selbst überwachte ungeduldig den Tisch, der für den Sohn seines welschen Bruders gedeckt wurde.

Er hatte einigen Grund zur Ungeduld, denn alle Mägde standen mit ihren Kopfschlupfen vor den Spiegeln, und die Diener stritten, ob sie die blauweißroten Schleifen als Leibbinde oder als Schärpen über die Schulter anlegen sollten. Meine Schwägerin, die kleine Hartmann, war seit der Frühe als Niederbronner Bäuerin verkleidet und wartete, ein Fläschchen mit Riechsalz in der Schürze, auf das Telegramm, das die Ankunft meines im Auto durch Deutschland heranrasenden Bruders Ernst vermelden sollte. Vergeblich suchte ich sie vom Grund ihrer furchtbaren Unruhe abzulenken. An mir vorbei starrte ihr Blick auf ein angeschwärztes, ganz und gar undeutlich gewordenes Deutschland, auf dessen riesiger Fläche bald hier, bald da, doch immer näher einer Schlangenlinie, die den Rhein bezeichnete, etwas wie ein Johanniskäferchen auftauchte: das Auto, worin Ernst aus der Hölle entfloh.

Meine Bemühungen um sie waren schon vierzehn Tage alt. Bald hatte ich ihr die Angst vor den »roten Soldaten« ausreden müssen, denn Waffenstillstand und Revolution hatten meinen Bruder auf dem Kasernenhofe überrascht, wie er, nun schon im dritten Jahr, Rekruten drillte oder, vielmehr, den Drill der armen Teufel überwachte ... Er war Rittmeister bei den Pasewalker Kürassieren. Beim ersten Ansturm durch Belgien nach Nordfrankreich hinein hatte er sich zu einer beinahe sagenhaften Heldengestalt emporgereckt, sein Name war in den Kriegsberichten genannt worden. Dann hatte er eine Nacht und einen Tag im Stacheldraht gehangen und war mit einer schweren Nervenerschütterung in ein Sanatorium verbracht worden. Hier langweilte er sich – er setzte es durch, daß er in die Garnison geschickt wurde. Es schien, als ob er geheilt wäre ... Nachdem auf Grund sicherster Nachrichten von ihm feststand, daß keinem Offizier im Innern ein Haar gekrümmt worden sei, bemächtigte sich Anne-Maries eine andre Sorge: was wohl Ernst auf seinem Kasernenhof zurückhalte, von dem die Rekruten längst weggelaufen seien, statt daß er spornstreichs in ihre Arme und zum bevorstehenden Einzug der Franzosen herbeieilte – statt »herbeizufliegen, wohin er gehört, wenn die Franzosen kommen«, wie sie sich immer wieder wörtlich genau ausdrückte.

Ich tröstete sie mit der Behauptung, kein gewissenhafter Angestellter desertiere, wenn in der Hinterstube des Ladens ein Brand ausbräche, vielmehr warte er vor der Tür das Eintreffen der Feuerwehr ab. »Und wenn Vetter Léo plötzlich dasteht, und Ernst ist nicht da?!!« Sie fand Leute, die sie nach Kehl schickte, um zu telegraphieren. Vielleicht wäre sie ruhiger gewesen, hätte sich nicht unser Vetter Léo angesagt gehabt. Indes konnten wir ihn nicht bitten, seinen Besuch zu verschieben, er kam mit der Armee. Zuweilen ärgerte es mich zu beobachten, wie sie es Doris, der Deutschen, mißgönnte, bei dem bedeutsamen Familienereignis anwesend zu sein, während der »älteste Sohn«, der »Stammhalter der Breuschheim«, in dem plötzlich verfeindeten, dem verlorenen Deutschland zappelte, wie Mars in dem Netze Vulkans.

Doris und Anne-Marie waren einander immer steif gegenübergestanden, Doris, weil ihre Schwägerin sie mit einem Mißtrauen umgab, das an Abneigung grenzte, Anne-Marie, weil Doris auch eine Industriellentochter war, jedoch eine Deutsche und überdies von Adel, und weil ihr eine ungezogene Art eignete, bei jeder Gelegenheit zu lachen. Seitdem es hieß, die Franzosen würden den Krieg gewinnen, fühlte sie sich zwar als Mühlhauser Patrizierin und Tochter eines weithin bekannten Franzosenfreundes Doris reichlich überlegen, und im Grunde ihres Herzens hatte sie sie auch schon ausgetilgt: es war nur mehr Dorisens Schatten, der im Morgendämmer des französischen Elsasses umging. Um so mehr peinigte es sie, daß Doris noch immer bei jeder Gelegenheit lachte und gar nicht gespenstisch, vielmehr mit blühendem Mund und mit Augen, die alles zu sehen schienen, nur nicht das nahe Ende ... Ich würde lügen, wenn ich jetzt glauben wollte, ich hätte Anne-Marie ihre kleinen Schönheitsfehler ernstlich verübelt. Ich habe immer Puppen geliebt.

Ihr Blick starrte, wie gesagt, an mir vorbei, und manchmal sah ich es ihm an, wie das Johanniskäferchen aus dem fernen Dunkel der Landkarte schlüpfte, dann lächelte die Puppe, manchmal blieb es auch unsichtbar, dann traten ihr die Tränen in die Augen, und sie entlief in ein anderes Zimmer, um dort »etwas zu suchen«. Das ganze Stockwerk roch nach Baldrian. Inzwischen fütterte meine Frau die Hühner, die Gänse, die Hunde und bestach den Oberschweizer, damit er sich um die paar armseligen Kühe kümmerte, die vergessen im Stall muhten.

Kamen sie bald, die Franzosen? Einige Autos waren durchgefahren, mit pelzvermummten Gestalten besetzt, und eins hatte angehalten, um das Schloß zu filmen. Unter den Brillen waren die Gesichter blau vor Kälte. Die Jungen durften mitfahren bis vor das Dorf. Unterwegs lernten sie zwei Brocken Englisch und kamen mit ebensoviel unbekannten Geldstücken in den gefrorenen Händen zurück ...

Ein französischer Diplomat, ein hervorragender Diplomat, denn er war ein Dichter, mit dem ich mich unerlaubterweise in der Schweiz angefreundet, besaß eine unfehlbare Methode festzustellen, ob die Konstellation der Gestirne ihm gebiete, die Einladung zu einem politischen Tee anzunehmen, der Frau seines Chefs Blumen zu schicken, ein neues Buch zu lesen, entweder sein Bett oder aber die Bar des Hotels aufzusuchen, und nun tat ich wie er. Ich trat alle Stunde an den Spiegel und hob an den Wimpern die Lider hoch, streckte die Zunge heraus, schlug mit der flachen Hand gegen die Kniescheibe, um zu sehen, ob ich wirklich und wahrhaftig Franzose sei. Hatte ich mich vor dem Krieg oft für einen verhinderten Gallier gehalten, so stutzte ich jetzt bei dem Kommando, nicht länger verhindert zu sein, ja (so wunderbar erschien mir die Geschichte) auf einmal als eine Art Moses dazustehn, den die Prinzessin völlig erwachsen im Schilf des Rheins gefunden ... Plötzlich läuteten in der Ferne Kirchenglocken ... Ich zweifelte nicht länger.

Wie am Ende der Karwoche von der Reise nach Rom, kamen sie näher und näher. Jetzt ließen sie sich auf Breuschheim nieder! Unter ihren Fittichen, die maßlos bebten, betrat der erste Zug Franzosen das Dorf. Was folgte, das waren weniger Bataillone, Regimenter, Batterien, Eskadrone, als vielmehr ein fließender Abgrund voll blitzenden Lichtes und betäubender Finsternis. Die Mägde reichten sich den Arm, um nicht kopfüber in die plötzlich vor ihnen aufgerissene Männlichkeit der Schöpfung zu stürzen ... Niemals, solange die Welt steht, haben Menschen einen solchen Einzug erlebt. Niemals, sie mag noch so lange dauern, wird die Welt wieder einen Krieg mit solch einem Festzug enden sehn!

Wahrlich – ich, der ich dies schreibe, ich bin zwei Jahre an der Front gewesen, aber das glückhafte Ende der Laufbahn, das die Gelbkreuzgranaten, Flugzeuge und Tankgeschwader genommen, ihr Versinken in einem Blumenmeer, ihre Schmelze in einem singenden Himmel erscheint mir wunderbarer, als daß ein andrer Prophet, der Prophet Elias, im feurigen Wagen zum Himmel gefahren!

Blaue Soldaten marschierten, unabsehbar, durch die Dorfstraße. Alle lachten über das ganze Gesicht in den kalten Tag und dazwischen noch besonders das Schloß an, als brennte hier ein Feuer, das die Vorbeimarschierenden erwärmte. Man unterschied die Familienväter von den Unverheirateten. Jene fingen glückseligen Ganges die Kinder, die sofort zu ihnen fanden, diese suchten sich unter den Dorfmädchen eine Liebste aus, um sie in ihren Augen bis zum nächsten Dorfe mitzunehmen – gespannt, welch endgültige Gestalt sie in Straßburg annähme. Eine ganze Division marschierte durch Breuschheim, das sich mit Trikoloren verhängt hatte, damit die Herzen, gefangenen Singvögeln gleich, nicht zu laut schlügen. Die Bauern winkten schwerfällig, riefen »Vive la France«, und der weißhaarige Bürgermeister, der die »Mexiko«-Medaille auf dem Rock trug, war froh, daß die Herren nur grüßten, ohne bei ihm anzuhalten, denn er hätte ihnen unweigerlich von seinem Sohn erzählt, der es bei den Deutschen zum Feldwebelleutnant gebracht hatte. Und ein Auto, an dem ein Fähnlein flatterte, lenkte in den Hof.

Einen Augenblick schien die Heeressäule zu stocken. Ein Offizier schrie ein Kommando, dann schritt Vetter Léo durch das Spalier der Mägde, die er alle der Reihe nach auf beide Wangen küßte. So waren diese Franzosen! Ihre Generäle küßten Mägde der Reihe nach auf die Backen! Die älteren kannten ihn, hörten sich errötend von ihm bei Namen nennen. Er hob Jacquot auf den Arm und trat ins Haus.

Da war er. Sein Bäuchlein und das meines Vaters liebkosten einander. Er küßte uns alle auf beide Wangen. Dann setzte der General sich zu Tisch.

Als wäre er von einem Spaziergang heimgekehrt, ohne Umstände, hauchte er in seine langfingrigen Schreiberhände und sprach:

»Kinder, ich habe Hunger.«

Die Kirchenglocken waren weiter geflogen – wahrscheinlich hatten sich die Jungen, die sie im Nest festhielten, auf und davongemacht, um auch die Franzosen zu sehn. Die Musikkapellen spektakelten weiter. Wenn sie für einen Augenblick innehielten, vernahm man Kommandorufe: Offiziere, Korporale, die sich im eisigen Wind Luft machten.

Anne-Marie begann sogleich von ihrem Gatten zu sprechen.

»Ernest?« meinte Vetter Léo. »Er ist Elsässer, Franzose«, und erst als er mit dem Fasan fertig war, fügte er, scheinbar zu mir gewandt, hinzu:

»Nur kein Politikergeschwätz! Ich wäre auch für den König von Frankreich in den Krieg gezogen, auch wenn wir es gewesen, die angegriffen hätten ... Und dann! Wenn der Krieg einmal da ist, kennt er nur mehr sein eigenes Gesetz ... Unsere Soldaten denken in der Mehrzahl ebenso vernünftig – bis sie demobilisiert sind ... Dann, ja, dann leben wir wieder in einer Demokratie, worin alle Wähler Heilige sind und der liebe Gott, so wie die Freimaurer ihn sich zurechtgelegt haben, der Onkel des Staatsoberhauptes. Dann fängt der Krieg der Zivilisten an ...« Er stach in den Braten. »Ich pfeife darauf. Claus, mein Junge, du warst zwei Jahre draußen ... in der Infanterie. Haben wir dir hart zugesetzt?« Hart zugesetzt? In der Infanterie? Fragend blickte ich meine Frau an. Saß ich nicht verliebt neben ihr? War sie nicht schön? Hatten wir es nicht längst überstanden?

»Nun ja, lieber Vetter, gewiß, gewiß ... Aber mit deiner gütigen Erlaubnis, um die ich bitte, erzähle ich dir lieber nichts von den zwei Jahren, oder doch nur so viel, als daß ich immer vorn war, und daß ich eines schönen Abends meinen Freund, den kleinen Baron Steinberg (seine Batterie war in unsrer Ruhestellung eingegraben) dreimal in einer Blutwelle aus seiner Grube in die Luft springen sah. Es war eine schöne Grube mit dicken Eichenbohlen ausgelegt – du verstehst? Gleich darauf wurden wir ein bißchen verschüttet, nicht schlimm, die Hälfte von uns kam mit dem Leben davon. Statt für den Rest des Krieges im Hinterland Soldat zu spielen, ließ ich mich lieber gleich in die Schweiz abkommandieren. Und denke nur, Léo, wie abscheulich, wie unmenschlich: in Bern, da speisten wir Samstagabends im Louis XVI.-Salon eines alten guten Restaurants: Lord Berrick von der englischen Gesandtschaft, der deutsche Graf Schmal, Professor Valtin von der französischen Botschaft, ein Amerikaner namens Walter, der schon nach der Suppe betrunken war, der italienische Journalist Sta, dazwischen ein halbes Dutzend andrer Aufpasser, die gelegentlich von Genf und Zürich herüberkamen – nun, lieber Vetter, und da besprachen wir eure Todessprünge, fachmännisch. Wir wetteten nicht, nein, das nicht, aber wir griffen eure Muskeln ab, eure Nerven, euer Portemonnaie, ermittelten den Grad der Bestechlichkeit eurer Munitionsarbeiter. Ich wage es, dir zu gestehn: wir alle behandelten euch ein wenig von oben herab! Ohne falsche Scham besprachen wir die Form unsrer Mannschaften, die hinter den Bergen lagen und in jedem Nerv, mit jeder Muskel eines jeden einzelnen erlitten, was unsere Zeitungen schrieben ... oder auch nicht schrieben, wie man es nun gerade nimmt. Und als die Schwarzweißroten aufgaben, gingen wir auseinander, nicht ohne daß ihren Vertretern die Hand gedrückt worden wäre.«

»Pfui, Claus«, rief Anne-Marie aus, und ich sah, die grauen Ringe um ihre Augen hatten sich vertieft. »Pfui«, rief sie, »während die andern starben, soupiertet ihr.«

Alle schauten erstaunt auf. Mein Vater schüttelte unmerklich den Kopf. Es lag mir auf der Zunge zu antworten: »Meine kleine Puppe, das ist eine prächtige Ohrfeige für die, die sie verdient haben, nur hast du falsch gezielt. Ich gehöre nicht dazu.« Da aber Anne-Marie mich doch nicht verstanden hätte, schwieg ich.

Über den Igel aus Schokolade, den man gerade vor ihn hingestellt, schielte mich Vetter Léo eine ganze Weile an. Er schien bitter traurig.

»Valtin«, brach er endlich das Schweigen, »der gute Valtin ist leider vorige Woche an seiner alten Zuckerkrankheit gestorben. Er konnte, er wollte nicht Diät halten.«

Mein Vater klärte seinen Neffen auf – nebenbei und indem er gleichzeitig die Kleine Verzeihung heischend anlächelte:

»Anne-Marie hat wenig Sinn für Ironie.«

Da wurde sie ans Telephon gerufen. Wir hörten ihre Stimme sich überschlagen, singen, ersterben ... Als sie sich wieder unter uns niederließ, trug sie die Schwingen einer Siegesgöttin. Ernst war in Straßburg, und er berichtete, es sei ihm nach vieler Mühe gelungen, sich über die Kehler Brücke durchzuschlagen. Vetter Léo ließ die Gabel sinken, um höflich zu gratulieren. Doris sprang vom Tisch auf und umarmte ihre Schwägerin. Die Freude der Kleinen war so groß, daß sie Doris herzhaft wiederküßte.

»Eure Birnen sind wirklich ausgezeichnet«, meinte Léo und nickte meinem Vater respektvoll zu. »Sie schlürfen sich wie Fruchteis. Machst du einen Sommerschnitt?«

Indessen verweilte Anne-Marie bei der Musterung von Dorisens leichtsinnigen Locken. Sie hatte sich gefaßt. In ihren schmalen Lippen, die sie jetzt seltsam breitzog, zeichneten sich, wie die Lettern einer noch nicht entzündeten Lichtreklame, die Worte ab:

»Dehors les boches!«

Ich war der einzige, der sie las.

Unsere Blicke begegneten einander. Errötend, während schon der Trotz ein Ausrufungszeichen auf ihre Nasenwurzel setzte, schlug sie die Augen nieder.

Draußen marschierten noch immer die Soldaten.

 

Dem sinnbetörenden Laut des Franzosenschwarms, der sich auf das Elsaß niedergelassen, folgten die Liebenden wie in schönen Sommernächten dem Gesang der Zikaden. Uns hatte er entzückende Vettern und Kusinen ins Land gebracht, denen ich bisher nur flüchtig, dazu noch in fremder Umgebung begegnet war, während sie jetzt als wahre Weihnachtsengel und Nikolasse zu uns ins Haus kamen. Sie machten es sich bequem, sie verweilten wie der beglückende Frieden selber, um den ich als Kind vor dem Einschlafen gebetet.

Da war nicht ein einziger Franzose (im Grunde doch für uns alle, die wir für den Kaiser marschiert waren, ein Sieger, ein Kerl also, wie geschaffen, uns den gestiefelten Fuß auf den Nacken zu setzen), der uns nicht freundlich entgegengekommen wäre. Nicht ein einziger fragte, ob er sich die Uniform der Pasewalker Kürassiere anschauen dürfte, die unsern Ernst so gut gekleidet hatte. Jeder küßte meiner deutschen Frau die Hand, und wenn er nur drei Worte deutsch konnte, so bestand er darauf, sie mit ihrer Hilfe zu üben. Ja, sie lachten heimlich über die allzu offensichtliche Eifersucht meiner Schwägerin, der kleinen, ein wenig provinziellen Tochter des großen, durchaus weltmännischen Hartmann, deren deutsche Sprachkenntnisse gleichsam über dem Reif einer einzigen Nacht erfroren waren. Zu ihrer Entschuldigung muß ich hinzufügen, daß es die Nacht nach Ernstens Heimkehr war.

Wahrlich, unsre Sieger waren scharmant. Welch eine Wohltat für uns, wenn sie in den Salon traten, ohne daß gleich unter ihrem Schritt der Erdball erdröhnt wäre! Wie dankte man es ihnen, saßen sie anspruchslos heiter in einem Restaurant, in das man ging, um zu essen, nicht aber, um die sich zum Knock-out rüstenden Champione unsers Erdteils zu bestaunen oder von den nicht immer wohlerzogenen, weil zu absichtlich auffallenden Söhnen von Großgrundbesitzern, Fabrikanten und Oberlandesgerichtsräten auf Reichtum und Herkunft abgeschätzt zu werden! Die Sieger zeigten sich zurückhaltend und vergnügt. Ihr Übermut selbst war leichtfüßig.

Anders verhielt es sich mit meinen Landsleuten. Wir hörten, sie rotteten sich in den Städten zusammen, zögen gröhlend durch die Straßen, anerkennten oder verwürfen den Patriotismus der Einwohner (der nunmehr französischen, versteht sich), rissen hier Fahnen ab, schrien dort »Vive«. Ja, sie versammelten sich zur Feme, vor der angesehene Bürger wie Schulbuben erschienen, um über sich und ihre Familie auszusagen und einem Narrenrat die heimlichsten Türen ihres Gewissens zu öffnen. Auf der Kehler Rheinbrücke sollten Gelehrte von namenlosem Lumpenvolk verhöhnt, arme Teufel von minderen Intellektuellen mit Roßäpfeln beworfen worden sein.

Erst lachte ich, wenn Ernst, zwischen Furcht und Begeisterung bangend, Einzelheiten dieser Volksbelustigungen zum besten gab. In meinen Augen war das – die elsässische Revolution, ein von einem wohlbewaffneten Heer und ein paar hundert eilig zugereisten Verwaltungsbeamten gehätschelter Aufstand, der den steinernen Tyrannen die Köpfe abschlug und die lebenden außer Landes, über den Rhein trieb, ohne daß ein einziger dieser Sansculotten sich selbst dabei im geringsten aufs Spiel gesetzt hätte, nicht einmal bis zu einem Nasenbluten, das Revolutionstribunal in Krähwinkel, Jakobinersprünge in Volkstrachten und »historischen Kostümen«, die Karrenzüge zur Rheinbrücke statt zur Guillotine, ein von den Veranstaltern wie von den Teilnehmern völlig mißverstandener Rumor im Elsässer Ländle, das sich, o Ironie!, dadurch als die Diaspora des soeben geborenen deutschen Freistaates erwies. Doch verging mir das Lachen angesichts der Verwüstungen, die diese andauernde und immer weiter um sich greifende geistige Pest in unserm Volk anrichtete.

Inzwischen tanzten bei uns in Breuschheim die Fliegeroffiziere und die Kavalleristen, die bereits wieder die Köpfe über die Infanterie erhoben, lauter junge Leute, die sich tadellos hielten, und die zu ihrem freudigen Erstaunen ihren guten alten Namen durch die Kothölle eines schon halb vergessenen Krieges gerettet hatten.

Wenn wir Verwandten nach dem Tanz noch ein halbes Stündchen am Kamin beisammensaßen, versäumte Ernst nie zu versichern, wie er sein Leben lang auf die Franzosen gewartet habe, und daß es nicht seine Schuld sei, wenn sie nicht schon früher eingetroffen wären.

»Hast du auch in Pasewalk gewartet?« fragte ich einmal leise, als er es zu bunt trieb, ein andermal: »Und als jener Assessor, der davon träumte, hoppehop Unterstaatssekretär zu werden?«

»Auch dann,« antwortete er jedesmal mit erhobener Stimme, »gerade dann. Ich wollte meinem Lande dienen, bis eben die Franzosen kämen«, und jedesmal rief er seine Frau zum Zeugen an. Auf diesen Augenblick hatte Anne-Marie den ganzen Tag gewartet. Sie hob beschwörende Augen zur Decke: »Ils ne t'auraient jamais fait ministre,« sagte sie, »crois-moi, mon ami, jamais.« Das glaubte ich auch, und ich sprach schnell von unsern Kühen, die die Milch aufhielten, wogegen man endlich etwas unternehmen müsse.

Die französischen Verwandten, die unser kurzer, in freundlichem Ton gehaltener Wortwechsel in Verlegenheit zu bringen pflegte, interessierten sich dann immer auf das lebhafteste für die Kühe, und der eine oder andre Herr küßte Doris die Hand, während die jüngeren Damen einen wahrhaft mütterlichen Blick auf Ernstens ereiferten Stirne ruhen ließen. Und mein Vater schüttelte den Kopf ... über die Kühe. Meine Mutter aber, mein Gott, sie konnte nicht anders: sie streichelte Ernst flüchtig die Hand. So taten die Kühe, die keine Milch gaben, in jenen Tagen immerhin ihren Dienst.

Eines Nachmittags jedoch fuhr ein Auto vor, und ihm entstiegen sechs, nicht besonders gut gekleidete Zivilisten, die, nachdem sie einen behördlichen Ausweis vorgezeigt hatten, in den weißen Salon geführt wurden, eine Räuberbande, aus dem Busch gebrochen in der Absicht, die nationale Gesinnung der Familie Breuschheim nachzuprüfen. Ein säbelbeiniger Drogist aus der Langestraße in Straßburg, bei dem wir zu unsrer Räuberzeit Pulver gekauft hatten, empfing mich, freundschaftlich, an der Spitze seiner Bande ... Was mich und meinen Vater angehe, sagte er, wobei er mich wiederholt zum Sitzen einlud, so habe die Kommission nur die Frage an uns zu richten, was uns veranlaßt habe, deutsche Frauen zu heiraten. Mit meinem Bruder Ernst dagegen werde sich eine ausführliche Auseinandersetzung nicht vermeiden lassen. Er bediente sich eines Französisch, das durch seine hitzige Eile zu einem schier unverständlichen Kauderwelsch verkochte. Jedoch, die Kommission blickte mit Stolz auf ihren Wortführer, ohne sich übrigens an die altseidenen Bezüge der Louis-XV.-Stühle heranzuwagen.

Ich antwortete sehr höflich, erklärte entschuldigend die Abwesenheit meines Vaters, der in Paris sei, was mir einen rätselhaften Seitenblick des Drogisten, dagegen die sichtliche Billigung der Kommission eintrug, worauf ich mich mit dem Versprechen entfernte, meinen Bruder zu benachrichtigen. An der Tür holte mich der Drogist ein:

»Halt, Herr Baron, Sie haben uns noch nicht gesagt, warum Sie eine deutsche Frau –«

»Das ist auch nicht nötig«, unterbrach ich ihn. »Schauen Sie mal, Herr ..., ich weiß nicht einmal, ob Sie verheiratet sind.«

Einige Minuten danach erschien im Salon mein Bruder Ernst, bleich und steif, zwischen mir und Vetter Léo, der sofort mit seinem Bäuchlein als wie mit einem Tank auf den Drogisten losfuhr.

Vetter Léo trug seine Generalsuniform. Er warf die Kommission aus dem Haus. Er sagte: »Messieurs, je vous prie de sortir«, und es wäre ihm außerordentlich peinlich, so fügte er hinzu, wenn er die Wache im Gemeindehaus herbeirufen müsse, um den Herrn beim Einsteigen in ihr Auto behilflich zu sein. Léo und ich geleiteten die Herren die Treppe hinunter bis zur Tür.

Der Drogist wahrte das Gesicht, indem er »eine Beschwerde an höherer Stelle« in Aussicht stellte. Da stand er aber bereits im Wagen.

»Faites, Monsieur,« nickte Vetter Léo, »faites toujours, allez, soignez vos relations!« Vergnügt schaute er zu, wie die zusammengepferchte Kommission in rascher Fahrt durch die Dorfstraße entfloh. »Ah, les braves Alsaciens«, wandte er sich zu mir. »Il n'y a que nous pour avoir du courage! Mais où est Ernest?«

Wir bekamen ihn erst abends nach dem Tanz zu Gesicht, wo er mich am Kamin sichtlich auszeichnete, indem er mir das Mißgeschick mit unsern Kühen auf das gewissenhafteste auseinandersetzte. Damit verhielt es sich, wie folgt: Unsre Kühe waren fast alle während des Krieges requiriert worden, und mit dem Ersatz, nach dem mein Vater sich umgetan, haperte es. Die neuen Kühe trotzten, sie hielten die Milch zurück. Warum? ... Nein, die Politik war da nicht im Spiel, obwohl in unserm armen Elsaßland (»zagend zwischen Krieg und Brand«) wohl wenig Schlupfwinkel ausfindig zu machen wären, wo nicht das Spitzohr eines politischen Teufelchens herausguckte. Zu diesen seltenen Schlupfwinkeln gehörte indes ohne Zweifel das Euter einer Kuh. Die Damen sollten entschuldigen ... Die Damen fanden die Geschichte amüsant? Um so besser!

Ernst lehrte mit Würde, wobei er sich an mich wie an einen Lieblingsschüler wandte. Zwar enthielt, was er da scheinbar mir erzählte, nicht die geringste Neuigkeit für mich, doch wußte ich ihm Dank für die Bemühung um den verwilderten und seiner Meinung in allen ernsten Lebensfragen unbewanderten Bruder. Also, die Kühe! Die Handgriffe beim Melken der Kühe waren bekanntlich verschieden, die eine Magd melkte mit voller Hand, sie »fäustelte«, in andern Ställen wiederum wurde »gestrippt«: zog man die Zitzen und kitzelte gleichsam die Milch aus dem Euter. Kam nun eine Kuh in andern Besitz, so hielt sie unter der Praktik der ungewohnten Hand erst mit Staunen, dann mit Entrüstung die Milch an. Natürlich konnten auch andre Ursachen vorliegen, Euter- und Zitzenkrankheiten, in diesem Fall ergab sich die Beseitigung des Übels von selbst. Unsern Kühen aber fehlte nichts! Unser Vater hatte durch die Viehhändler die Gewohnheiten einer jeden einzelnen in den früheren Ställen ermitteln lassen. Und sie beharrten auf ihrer Weigerung! Was tun?

»Man gebe der Kuh beim Melken Futter oder Saufen vor,« sprach ich gelassen, »rede ihr gütlich zu und klopfe sie mit einem Schlüssel sacht an die Hörner.« So hatte ich's gelernt.

Während alle lachten, zog mich mein Vater zur Seite und flüsterte: »Dein Bruder weiß so gut wie ich, daß der Oberschweizer die Milch hinter unserm Rücken an das Militär verkauft.« »Die Tiere sind unschuldig«, sprach er laut zum Kamin hinüber. »Die Gretel ist schuld.«

Wiederum lachten alle hellauf, und keiner versuchte zu verstehn, allein schon aus dem Grund, weil eine Frage, wie sie jetzt zur Lösung des Rätsels nötig gewesen wäre, ganz und gar gegen die Regeln einer muntern Konversation verstoßen hätte. Und nur meine Frau nahm den von Humorlichtern umspielten Grimm meines Vaters beim Wort.

»Schicke die Gretel fort«, riet sie mir am andern Morgen. »Ob es nun dem Ernst paßt oder nicht. Sie ist schon zu lange bei euch. Durch den Schweizer beherrscht sie den Hof. Das kränkt den Vater.«

Ich hatte Doris nie verraten, daß ich als Knabe meinen Bruder dabei betroffen hatte, wie er mit der Gretel über die Streu gerollt war – und mit welch einem Ausdruck unsäglicher Gefräßigkeit im Gesicht, mit wie bleckenden Zähnen, die Augen von Gier und Haß wie geweitet, sie dabei seinen Kopf mit beiden Händen von sich abgehalten hatte, um ihm, während er sie besaß, in die Augen zu sehn! ... Jahrelang beherrschte mich dieses Bild, finster. Meine Jugend lang, bis zu jenem plötzlichen Aufbruch bei Morgengrauen in St. Paul habe ich geglaubt, das Weib liebe den Mann, indem es ihn verschlinge ... Es war keine leichte Sache, Gretel vom Hof zu verweisen. Sie verlangte Geld. »Gib ihr, was sie fordert«, rief Ernst aufatmend aus. »Dieses Bauernmädel, es würde mich für meine Jugendsünden verfolgen bis ins dritte und vierte Glied.« Der Schweizer ging mit ihr, nicht aber, ohne vorher das Geld, das Gretel grinsend angenommen, unter zornigen Reden über den Boden der Gesindestube verstreut zu haben.

»Boches!« schrie Gretel, als sie vor dem Tor auf der Dorfstraße stand, zu den Fenstern des Schlosses hinauf, und der Schweizer, der aus dem bayerischen Allgäu stammte, legte die Hände an den Mund, um zu gröhlen: »Boches, Boches, Boches, dreckete Boches ihr!«

Am Abend wurde wieder im weißgoldenen Saal getanzt.

 

So verging mehr als ein Jahr. Doris und ich blieben in Breuschheim. Das Zusammenleben mit Ernst und Anne-Marie gestaltete sich immer schwieriger, und am meisten drückte es uns zu sehn, wie die Eltern darunter litten. Die Mutter kam nie zu uns herauf, ohne Doris oder mir auf die eine oder andre Weise zu sagen: »Vergeßt nicht, daß Ernst krank ist, ich schwöre es, er ist wirklich krank, wenn es auch fast niemand merkt. War er je böse vor dem Krieg? Böse? Nie. Er wird sich bald erholt haben, und wir werden es wieder haben wie zuvor. Geduld, liebe Kinder, Geduld. Zu Jacquot ist er ja immer gut.«

Ich rührte schon lange keine Zeitung mehr an, aber Ernst machte sich eine Aufgabe daraus, besonders gehässige Artikel bei Tisch vorzulesen – in der Tat, nie hätte er sich früher eine solche Taktlosigkeit erlaubt. Er wütete, mit einem nach innen gekehrten Fanatismus, oft dachte ich: als ob er sich selbst bestrafen und quälen wollte! So leidvoll war sein Gesicht, wenn er sich in politische Betrachtungen stürzte.

Die wenigen Freunde, die der Krieg mir gelassen hatte, waren vollauf beschäftigt, sich eine neue Existenz zu schaffen in dieser Gründerzeit, die der Abzug der Deutschen, der Umtausch der Mark gegen den Franken und die Möglichkeit, Deutschland billig auszukaufen, herbeigeführt hatten. Jedesmal, wenn ich in Straßburg war, bekam ich Streit; in einem Nachtlokal, wohin ich mich nach einer Soiree bei den Bock geflüchtet hatte, kam es zu einer regelrechten Boxerei mit drei Franzosen, die meine Landsleute am Nebentisch gegen mich aufgehetzt hatten. Dem einen zerschlug ich eine Champagnerflasche auf dem Kopf; natürlich wurde ich zu einer Geldstrafe verurteilt. Ich (nicht etwa Ernst) bildete eine ständige Rubrik in den Zeitungen, deren Geschäft noch immer in der Deutschenverfolgung bestand. Ein andrer als ich wäre darüber zum deutschen Patrioten geworden ... Nur Viviane von Bock, die wir oft besuchten, hielt sich wacker. Vielleicht weil sie eine Kriegswitwe war – doch die Witwe eines bereits im August 1914 gefallenen französischen Offiziers, worauf sie die höchsten Ansprüche auf patriotische Dummheit hätte gründen können. Bei ihr durfte ich mich aussprechen, eine Feigheit eine Feigheit nennen und meine pazifistische »Idee« entwickeln, von der ich behauptete, daß jetzt, jetzt erst ihre Zeit gekommen sei. Wie verstand sie es, dem aufgeregten Menschen zuzuhören! Wahrlich, es galt mir mehr als Liebe ... Nur wenn ich übertrieb, hielt sie mich an und rief mit dunkel strahlendem Vorwurf: »Pulcinella!«

Ich reiste nach dem Lido – mit dem Erfolg, daß ich Maria verlor, und kaum war ich zurückgekehrt, ging die Hetze von neuem an. Hubert Adam, der seit dem Waffenstillstand ein »grand médecin« geworden war, mit einer Privatklinik von einer modernen Fasson, einer Fülle sowohl wissenschaftlicher wie ästhetischer Einrichtungen, wie man sie in Paris vergeblich gesucht hätte, kam zuweilen abends spät nach Breuschheim hinausgefahren, um mir stillen Zuspruch zu spenden. »Warte nur,« sagte er pfiffig, während er mit gesenktem Kopf an seinem Kneifer rückte, »warte nur drei Jährchen oder vier, da werden allerhand Leute ihr blaues Wunder erleben.« François Kern aber unternahm es, mir in seiner Zeitung beizuspringen, aber da diese Zeitung eine der ganz wenigen (wenn nicht die einzige) war, die das Elsaß tatsächlich verteidigte, galt sie bei den Gutgesinnten für ein Radaublatt, und er schadete mir mehr als meine ärgsten Feinde.

Was blieb mir da noch? Meine »Idee«. Sie war alt und zäh, meine Idee, mit sechzehn Jahren hatte ich sie gefunden, und wer mit sechzehn Jahren eine »Idee« findet, der ruht nicht eher, als bis er sie sich einverleibt hat, der umhegt und pflegt sie und bewehrt sie mit Türmen, in die er Musikspiele einbaut und eine Sturmglocke für die Stunden der Gefahr. Als die Verkörperung und leibhaftige Predigt meiner Idee hatte ich Straßburg, das Land und zuletzt meine Familie aufgestellt, und dies war der Grund, warum ich ihrer Geschichte so leidenschaftlich nachspürte: der Geschichte Straßburgs, des Landes, der Geschichte meiner Familie, die sich schon tausend Jahre hier umtat, lebhaft, deutlich, unverkennbar, als sei sie nur immer ein und derselbe Mensch. Ein ermüdeter Läufer warf sich in den Jungbrunnen und sprang, kaum, daß er untergetaucht, mit einem Knabenlachen auf den grünen Rasen, das waren die Breuschheim, und von den sich reckenden Armen deutete der eine auf die Vogesen, der andre zum Rhein ... Das waren die Breuschheim, das war Straßburg, das war das Elsaß. Das Reich Karls des Großen, hier lebte seine Seele weiter, während die Trümmer seiner Gestalt über Europa verstreut lagen – o du kleine, an der Grenze zweier großer Nationen, zwischen den beiden unermüdlichen Ringern um die verlorengegangene Krone in wieviel Karnevalen und Ostern ausharrende Provinz der einigen Christenheit: Elsaß! ...

Was half mir aber nun meine Idee? Hubert Adam, der in der Obersekunda an sie geglaubt hatte, warf den Kopf zurück, wenn ich darauf anspielte, und schmetterte guttural: »Ach was, heute gibt es nur zwei lebendige Ideen, die des Besitzes und die des Nichtbesitzes! Schauen wir zu, daß wir das Leben genießen, bevor die Bolschewiki über uns kommen. Was kostet euer neuer Wagen?« Dagegen verfolgte Francois Kern, der sie früher bekämpft hatte, jetzt eine Politik, die manche Beziehung zu meiner Idee aufwies ... Wer weiß, sagte ich mir, wer weiß: in drei Jährchen oder vier ...

Eines Tages fand zwischen Ernst und mir eine Unterredung statt. Sie war kurz und schlicht.

»Doris und ich,« sagte ich, »wir fahren morgen in den Schwarzwald für sechs Monate. Wir lassen Jacquot hier. Visa haben wir nicht. Wir benutzen Léos Brigadeauto, damit kommen wir nach Offenburg.«

»Vortrefflich«, sagte Ernst. »Und dann?«

»Dort finden wir schon ein andres Auto, das uns bis vor unser Waldhaus bringt.«

»Zweifellos. Und dann? Wie denkst du dir das übrige?«

»Welches übrige?«

»Hör' zu, Claus, ich wünsche nicht, daß du mit dem Vater über Geldangelegenheiten sprichst. Er gäbe für dich sein letztes Paar Hosen her ... Ich muß dir sagen, das Gut ist nicht die Kravattennadel wert, die du da im Schlips trägst. Unser Großvater hat, wie du weißt, sämtliche Reben ausgerissen, jahrelang ganze Wagenzüge burgundischer Erde hergeschafft. Bei seinem Tod lag derselbe Wein im Keller, wie der Urgroßvater ihn ohne burgundische Hilfe gezogen hatte! Unser Vater ... Aber nein, davon wollen wir lieber nicht reden. Er ist stark in der Theorie, man könnte ihn geradezu einen Gelehrten nennen, einen Nationalökonomen, sozusagen den Erfinder der vergleichenden Wirtschaftsgeschichte ... Dann, im Krieg haben wir viel verdient, wie alle Bauern. Es war unvermeidlich. Aber Vater hat das Geld in deutschen Papieren angelegt. Warum? Dein Schwiegervater Kieper erzählte, schrieb, telephonierte ihm dauernd Märchen von der gewaltigen Zukunft der deutschen Industrie. Und als Praktiker überragte er ihn, das hatte Vater immer zugegeben. Die Papiere, mein Junge, werden täglich weniger, ich fürchte, Privatleute wie du können demnächst Feuer damit anzünden oder darin für ihre Jacquots Figuren ausschneiden, ohne sich einem Vermögensverlust auszusetzen. Kieper selbst – ja, mein lieber Junge, das ist eine andre Sache! Kieper ist groß geworden, riesengroß! Wenn er will, kann er sich ein früheres Großherzogtum kaufen oder den Montblanc. Eine Kleinigkeit für ihn. Drum, was ich sagen wollte: hier in Breuschheim schließt deine Rechnung mit einem Passivum, in Köln jedoch liegt das Geld – bergehoch! Halte dich an deinen Schwiegervater. Richte deinen Blick auf Köln. Nimm deine liebe Frau an die Hand und ... und ... Hör' zu, Claus. Ich habe keine Kinder, und wir werden auch nie welche haben. Unter uns gesagt. Drum ... Wenn nicht bis dahin unsre Welt völlig zusammengekracht ist, so wird Jacquot, euer Jacquot, heute oder morgen ein kleines Königreich sein eigen nennen. Denn die Kieperschen Söhne sind tot.«

Ich muß gestehn, ich war überrascht. Es war das erstemal, daß ich die tatsächliche Überlegenheit meines Bruders erkannte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich ihn für einen geschäftehungrigen, auf seine feudale Abstammung erpichten Landjunker gehalten, wie sie in den letzten dreißig Jahren zahlreich aufgetreten waren. Er liebte Automobile, viel weniger Frauen und von diesen nur solche, die einen heftigen Hautgeruch ausströmten. Er plauderte ebenso geläufig über die Großen der Höfe, die er zu bespötteln vorgab, wie über die Prominenten der Weltbörsen, von denen er mit echter, wenn auch herablassender Hochachtung sprach. Ein Gedicht Goethes von einer Schillerschen Ballade zu unterscheiden, wäre er nicht imstande gewesen, wenn er auch mit viel Geschick in jedes Buch hineinsah, von dem »man sprach«. Soweit war alles in Ordnung. Dumm war er nicht, o nein, im Gegenteil, klug war er, sehr klug, und seine Konversation galt nicht nur in Pasewalk und Charleroi für blendend. Wenn er gut aufgelegt war, fiel es ihm leicht, ein Französisch hinzuplaudern, das blühte, duftete, ja von Tau funkelte, und manchmal, vom ergriffenen Schweigen ebenbürtiger Damen oder sehr vermögender Herren ermuntert, konnten seinem Talent Schwingen wachsen, daß sich seine Sprache fugenartig zu schwindelhaften Höhen erhob. Auf diesem Gipfel angelangt, prophezeite er. So hatte er in Paris wiederholt den Weltkrieg vorausgesagt, den Sieg Deutschlands einbegriffen. Deshalb und weil Frankreich schließlich doch nicht geschlagen worden war, verzieh man ihm, daß er zur Erfüllung der Prophezeiung auf deutscher Seite tatkräftig mitgeholfen. Auf den Schreibtischen schöner Pariserinnen stand heute schon wieder sein Bild, wenn auch in der neuen französischen Uniform. Auch das war in der Ordnung. Jetzt aber ...

»Und da wäre ja dann noch die Autofabrik«, sagte ich und blickte durch das Fenster. Hinter dem Park, von einem guten Gärtner an ihn angeschlossen, ja, in das grüne Reich einbezogen, murrte Tag und Nacht eine kleine Fabrik, ein wahres Muster, das Vater Kieper in den Mußestunden seiner kurzen Ferien dort angelegt hatte. Früher hatten die Kraftwagen unter der Marke »Alsatia« ihren Weg in die Welt genommen, jetzt lieferte das Werk »Nouvelle-Frances«, die sich bei den automobilkundigen Franzosen rasch beliebt gemacht hatten.

»Welche Autofabrik?« fragte mein Bruder mit erstaunten Augen.

»Wie kannst du nur so dumm fragen, Ernst! Vater Kiepers Ideal, die Freude seines Alters, das Bijou von einer Fabrik, das er uns zu Dorisens dreißigstem Geburtstag geschenkt hat.« Ich zeigte durch das Fenster.

Ernst erhob sich langsam, sah, die Hände an den Bügelfalten der Hose, mit immer noch wachsendem Staunen auf mich herab, und es dauerte geraume Zeit, bis er die Sprache wiederfand. Dann setzte er sich.

»Ja, mein lieber Junge, die gehört doch mir! Die habt ihr mir doch alle feierlich überschrieben – weil ich unter euch allen der einzige Geschäftsmann bin!«

Richtig. Die Fabrik gehörte ihm. Feierlich hatten wir sie ihm überschrieben, damals, als er aus dem Sanatorium auf Urlaub heimgekommen war, niedergeschlagen wie nur einer und alle Welt seines Bedürfnisses nach Trost versichernd. Annemarie hatte mich telegraphisch herbeigerufen. Seine fassungslosen Hände waren dauernd aus denen seiner Frau in die Dorisens, manchmal sogar in die meinen gewandert. Er hatte nicht mehr gewußt, was in der kunterbunt durcheinandergewürfelten Welt anzufangen. Da hatten wir ihn in die Mitte genommen und waren alle zum Notar gezogen. Kein Zweifel, die Fabrik gehörte ihm. Und wir andern Breuschheim waren arm wie Kesselflicker!

Jedoch, was konnte das bedeuten, tröstete mich Ernst, wo der alte Kieper so groß geworden war, riesengroß, und wo unsre eigenen Eltern kaum Bedürfnisse hatten und nicht einmal die bescheidensten Anforderungen ans Leben stellten, wie sie mein Vater mit Kopfschütteln an meinem früheren Erzieher, dem Kanonikus Simon, bemerkt hatte, der, kaum daß er den Marschall Foch im Münster empfangen hatte, plötzlich nach Jerusalem gereist war?! Gewiß doch, es blieb mir nur übrig, mich wegen meines unangebrachten Hinweises auf die Fabrik zu entschuldigen. Die Schornsteine hatten mich dazu verleitet, die eine Handbreit über den Parkbäumen hervorsahn. Natürlich gehörte die Fabrik Ernst, nur ihm, ihm allein ...

Auch der Wagen war sein, der Doris und mich wie auf Händen nach Straßburg trug. Ein ganz prachtvoller Wagen!

 

Als wir Viviane aufsuchten, um uns von ihr zu verabschieden, trafen wir große Gesellschaft, Männer, Frauen und Kinder. Der Präsident der Republik beehrte an diesem Tage Straßburg mit seinem Besuch, die Stadt war von Fremden überfüllt. Auch im Hause Bock wehte festliche Luft. Für die Bock und Dürckheim, die in den Salons versammelt waren, um ihnen bekannte oder empfohlene ortsfremde Offiziere und deren Damen zu empfangen und sie mit den rechten Anweisungen für den Besuch der Stadt und des Landes zu versehen, war das Elsaß, ihre Heimat, wahrhaft befreit. Demaskiert, von allen Wolfsgruben des Eroberers gesäubert, lag es klar unter dem Himmel, als ihre Heimat, ihr Elsaß, wie es vor 1870, dem »großen Verrat«, wie die einen sagten, dem »Gottesgericht«, wie es die andern hießen, immer gewesen ... Immer? Unwillkürlich dachte ich an die alten, schon im Boden versinkenden Steine an der Kirchhofsmauer des Glöckelsberges, auf denen die Grabschriften auch dieser Familien in deutscher Sprache weiterklangen, auch diejenigen von Männern und Frauen, die dem Bourbonenhaus in der Kammer oder im Felde gedient hatten..

Doris lachte mit den gleichaltrigen Müttern, nahm die väterlichen Komplimente des Barons entgegen und sprach Jacquot Mut zu, mit dem die Mädels, von ihrer koketten, alle Gäste entzückenden »Landestracht« berauscht, immerfort »Einzug in Straßburg« spielten. Schließlich empfingen sie ihn so stürmisch, daß er sich nicht mehr zu ihnen hineintraute und lieber ein Gespräch mit einem andern Jungen anknüpfte, der im Nebenzimmer einsam auf einem Stuhl saß und verschüchtert zum Sofa hinüberträumte, wo seine Eltern in ehrfürchtiger Haltung einen Hymnus auf den Odilienberg anhörten. Es war Viviane, die ihn auswendig hersagte. Als wir aufbrachen, folgte sie uns in die Halle, um mir zuzuflüstern:

»Mein lieber Claus, ich bin zufrieden, aber – von allen Landsleuten hier, wissen Sie: von den richtigen, den alten, gefällt mir doch am besten der François Kern. Sie haben den Mut gehabt zu sagen, daß Sie sein Freund sind – bitte, grüßen Sie ihn von mir.«

»Eine hübsche Geste, Viviane!«

» ...alter Kameradschaft, Claus. Also, Punkt 6 Uhr bringe ich Ihren Jacquot nach Breuschheim zurück, und da ich leider selbst keine Kinder habe, will ich ihn oft besuchen, als wäre er mein Junge und bei Ihren Eltern in Pension.«

Die Kastanien der Kellermannstaden trugen auf ihren gelbbelaubten Ästen das Licht wie auf Lüstern. Im Wasser des Kanals floß ein dunkles Feuer, schwebend verweilte der Tag, von lauter frohen Menschen straßenbelebt, und es war nicht nur die Fülle der Rosen in den Gärten, die Dorisens Blick verwirrte und entzückte, noch das milde und doch so starke Blau eines Rittersporns, der mit seinen kleinen blauen Flammen einen Rasenplatz erhellte, wenigstens war es nicht das allein – nicht die Schaustücke dieses herrlichen Tages allein in den Straßen, durch die wir zogen. Es war Lust und Klage Dorisens über all. das, was sie hier zurückließ, und etwas wie trotzige Treue, so daß sie sich mit ihrer ganzen Gestalt aufhob gegen jenes Andre, das in der allgemeinen Helle und Weltlust, die der Tag über Straßburg ausgeschüttet, sie bedrohte wie eine ungewisse Nacht: jenes Etwas, was plötzlich für sie die Fremde war, drüben über dem Rhein ... Sie hatte Heimweh, bevor sie noch das Land verlassen.

Sie schritt neben mir, ließ die Augen schweifen, ließ alle Freude, die sich ihnen bot, wahllos in sie ein, ließ sich von diesem wahrhaft wunderbaren Sommerwind in einer Wolke federleichter Musik dahintragen, schier gewichtlos Arme und Beine, den Kopf fast leer, und war, ich sah es ihr an, hauptsächlich auf irgendeine Art von Tanz bedacht.

Ohne das Lächeln über ihren Augen, das Lächeln unter ihrem Mund mir zuzuwenden (ach, wie ich es kannte, dieses Visier!), sprach sie unvermittelt:

»Claus, in meinem Herzen gehe ich nicht fort. In Wirklichkeit bleibe ich hier.«

Und sie blickte trotzig-selig an den Häusern der Langestraße hinauf.

Wir waren nach Durchquerung der Stadt beim Schlachthausstaden angelangt, von wo man mit der Elektrischen nach Breuschheim fährt.

»Wie wär's –?« fragte Doris übermütig, indem sie tat, als wollte sie zur Haltestelle hinüberlenken. Aber schon ergriff sie meinen Arm und zog mich lockenschüttelnd weiter.

Da bemerkten wir die alten Stadttürme, deren einen wir als Studenten gegen Zahlung einer geringen Summe von der Stadt »auf Lebenszeit« gemietet hatten. Er gehörte uns noch immer, und Hubert Adam behielt ein Auge darauf. Man stieg auf Leitern ins Dunkel, dann öffnete sich ein einziger großer Raum, den wir mit Möbeln, Bildern, Büchern hübsch wohnlich gemacht hatten. Durch die Schießscharten schien der Himmel herein, Mittag, Abendlicht, Sternenhimmel, Morgengrauen.

»Ja, willst du wirklich weggehn?« rief Doris lachend aus, als spotte sie unser und aller Welt, und ihre Hand griff nach der meinen, und sie wandte mir ein Antlitz zu, auf dem im Augenblick, da unsere Blicke sich berührten, mädchenhafter Übermut fiebernd in frauliche Verheißung umschlug ... »Was meinst du, Claus? Klettern wir in den Turm?«

Wir drehten uns die enge Stiege hinauf, und in der Dunkelheit war es, als ob Doris vor mir flöhe und ich sie verfolgte. Der Turm erdröhnte von unserm Tumult. Sooft der Lichtstreifen einer Guckscharte durch die Finsternis geisterte, hob ich die Augen, um nicht den Anblick der Turnerin zu versäumen, wie sie sich von Trapez zu Trapez durch das Dunkel emporschwang. Dann kam die Leiter. Wir tasteten nach dem versteckten Schlüssel, hurra, wir fanden ihn. Der Raum war unverändert, der mächtige Diwan stand wie nie berührt.

»Noch eine ›Stunde‹ gewonnen!« stammelte sie an meinem Hals, und später schlug sie allen Ernstes vor, wir sollten uns die paar Monate im Turm versteckt halten, das wäre ebenso gut wie über die Grenze abzuziehn; niemand brauchte es zu wissen, mit Ausnahme der treuen Viviane, die uns manchmal den Jacquot brächte. »Mein Claus, ein Spirituskocher! Denk mal! Das ist alles, was wir brauchen. Mein Ehrenwort! Was soll ich im Schwarzwald? ...und es ist gar nicht wahr, daß ich die Schweiz liebe, mit ihren langweiligen Gletschern! Dieses Turmzimmer liebe ich. Großartig wird es, und endlich habe ich dich einmal für mich allein!«

»Doris, in acht Tagen stände es in den Zeitungen«.

»So bleiben wir wenigstens diese acht Tage«, trotzte sie.

»Wir würden uns lächerlich machen.«

»Uns lächerlich machen? Was ist das?«

So ging es noch eine Weile hin und her, bis sie auf einmal schwieg und vor sich ins Leere starrte ...

»Doch,« sprach sie dann entschlossen, »doch! Ich freue mich auf unser Waldhaus. Und Hochgebirgstouren liebe ich über alles. Wirklich!« ...

In früher Nacht trafen wir in Römerbad ein.


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