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Die Stadt voll Kreaturen

Und dann kam sie.

Lady Isabel stellte Bob das Auto zur Verfügung, um seine Schwester in Nizza abzuholen. Es gab eine rechte Lustfahrt durch die Frühlingsfrühe, in der alle Farben und der Himmel selbst noch frisch im Saft standen, sogar aus dem Straßenstaub der Tau herauszuschmecken war und von den Olivenbäumen eine herbduftende Frische ausging. Von allen Hügeln lachten die Straßen das Meer an.

Ingels (sprich: Ingols) durfte drauflosfahren, keine Herrin überwachte argwöhnisch den Schnelligkeitsmesser. In die Straßen Nizzas teilten sich die Milchkarren mit den Spritzwagen, Gardinen blähten sich im Wind, Staubwedel winkten, eine ungekämmte Frau warf zwischen halbgeöffneten Fensterläden einen Blick herab, den ein Polizist verstohlen beantwortete, indem er zugleich breitbrüstig die lustvolle Morgenluft einatmete.

Ich entdeckte Maria an einem Fenster des einfahrenden Zuges, und als sie mit einem Sprung ausstieg, fing ich sie, obwohl sie nicht gar so viel kleiner war, als ich, wie eine Puppe auf, so stark fühlte ich mich an diesem Morgen.

Während Bob sich entfernte, um das Gepäck zu beaufsichtigen, fragte sie mit scherzhaftem Vorwurf:

»Küßt man so eine verheiratete Dame?« Worauf ich nur zurückzufragen brauchte, ob so ein kleines Mädchen küssen dürfe? Ob man ein kleines Mädchen so küssen solle? Was sie natürlich entrüstet verneinte.

»Nun so hat ein gewisses kleines Mädchen mich nicht nur geküßt, sondern, es tut mir leid, Maria, daran erinnern zu müssen, mich armen kleinen Jungen ausdrücklich noch küssen gelehrt.«

Da geschah neben mir etwas wie das Aufflattern einer Elster und gleichzeitig eine selbst im hellen Sonnenschein des Bahnhofplatzes sichtbare Illumination. Maria lachte!

»Ach, damals in Venedig,« sagte sie.

Jawohl, damals in Venedig, und ihr Lachen hatte sich nicht im geringsten geändert.

»Aber groß bist du jetzt doch geworden«, sagte ich. Wir lachten uns die ganze Zeit töricht an, nicht ohne einander dabei sorgfältig zu mustern. Geradezu herausfordernd aber klang ihr Lachen, als ich die Frage hinwarf, wie lange wir uns eigentlich nicht gesehen hätten. Sie geruhte nicht einmal, der Form halber zu antworten, sie lachte, mit Sordine zwar, gurrend, wie ein lautes Gelächter sich nun einmal in ihrem Halse formte, doch immerhin laut genug, daß zwei vorübergehende Herren lächelnd das Gesicht herwandten, und auch Ingels, ohne aus seiner korrekten Haltung zu fallen, herzhaft mitlächelte. Jetzt erst fiel mir ihre Kleidung auf, ein langer Seidenmantel, der sie fast bis zu den Füßen einhüllte und ihr etwas elegant Nonnenhaftes verlieh, darüber ein kleiner Hut aus dem gleichen Stoff, grau wie auch die winzigen Schuhe darunter, die sie beim Gehen schnell und vorsichtig aufsetzte. Dies hurtig Zögernde des Ganges bemerkte ich zum erstenmal an ihr, es war vorläufig die einzige Neuigkeit, die sie mir verriet.

»Du bist nicht mehr so träge, wie früher«, lobte ich sie.

»Richtig«, sagte L'Amico, der mit den Gepäckträgern eingetroffen war. »Aber sie ist ja auch eine Exzellenz und muß repräsentieren.«

Die Bemerkung machte mich wider Willen verlegen. Ich mußte Maria daraufhin von neuem studieren, auf die Exzellenz hin, was militärisch klang oder doch zum mindesten knifflich, ein wenig streng, in Ehren gealtert ...

»Wir müssen uns«, sprach sie spitz, genau so, wie es zu meiner Vorstellung von einer Exzellenz paßte, »wir müssen uns alle daran gewöhnen, daß ich nunmehr verheiratet bin.«

Übrigens, bemerkte ich, war es ihr irgendwie ernst, wenn auch nicht mit ihrer scherzhaften Pose, so doch mit etwas anderem, was sich dahinter versteckte, und woraus ich deutlich einen Vorwurf, ja eine Art von Strafe und jedenfalls eine neue Maßgabe für unsere Beziehung herausfühlte.

»Oder hast du gemeint, Claus, ich würde bis zu meinem Tode unverehelicht durch deine Träume wandeln, als Angestellte sozusagen? Ja, hast du das wirklich gemeint?«

Das war unangenehm, wahrhaft bitter und es half nichts, daß sie ihre seidigen Katzenaugen machte und sich einladend in den Schultern duckte, nein, sie hatte mir wehtun wollen, und es war ihr leicht gelungen.

»Aber warum denn gleich Exzellenz?!« entfuhr es mir.

Es war echter Schmerz, der sich, komisch genug, in diesem Ruf entlud, und er hatte wohl auch unverkennbar dessen Farbe, denn Maria schlug die Augen nieder und Bob blickte mich mit ernster Freundlichkeit an. »Nämlich« fuhr ich erschrocken fort, »bei uns pflegen die Exzellenzen nicht weit von den Sechzig zu sein.«

So, da lächelten wir wenigstens wieder – alle drei. Wozu das Lächeln nicht alles gut war! Außerdem überholten wir gerade die letzten roten Sonnenschirme der Promenade, unter denen ein paar Exemplare jener die weißen Städte der himmlischen Küste durchblühenden Geschöpfe einher gingen, weiß gepudert mit knallrotem Mund, in weißen Kleidern unter knallrotem Hut, weiß von den Schuhen bis über die Augen, und schnell zeigte ich sie Maria. Sie kannte sie, auch in Rom trug man sich so. Ein gleiches Kostüm, aus leichtem Flanell, lag in ihrem Koffer, und von kleinen roten Hüten besaß sie eine sorgfältig getroffene Auswahl. Ob mir die Mode gefiel?

O gewiß, entzückend fand ich sie, gab sie doch den Frauen etwas von einer luftigen, nur durch zwei rote Punkte befestigten Erscheinung, einem soeben gerade materialisierten, sommerlichen Liebesgedanken ... Der Frühling hier war ja auch eigentlich schon Sommer und das gerade das Schöne an der Riviera!

Ich schwatzte nicht übel.

Maria beschloß, weil ich gar so sehr darauf brannte, als erstes ihr weißes Kostüm aus dem Koffer zu holen. Gleich nach Tisch wollte sie es anziehn, wenn wir mit Lady Isabel nach Monte Carlo führen. Es war Bettys Geburtstag, und die Kleine hatte sich gewünscht, »ein Spielchen zu wagen«. Dazu waren wir alle eingeladen. »O, ich spiele auch gern,« sagte Maria, »– besonders diesmal. Ich muß doch erfahren, ob Claus mich noch liebt ...«

Das scheinbar gutgelaunte Geschwätz brachte uns ohne weitere Störung bis zur Landstraße nach Cap d'Antibes, in die wir einbogen. Hängende Gärten eilten herbei, Städte aus Treibhäusern. In den Treibhäusern fiel die Sonne, wie durch ein Sieb, auf hunderttausende von Nelken. Unsre Augen haschten das saftige Grün des Laubes und die vielfarbigen Blüten, die gläsern brannten. Die Gärten gingen tief, die Villen wirkten wie Tempel im Grünen ...

Maria, hatten wir ausgemacht, sollte ihre Mutter begrüßen und am Nachmittag nachkommen, das Gepäck nahmen wir mit.

So folgte gleich nach dem Wiedersehn die Trennung. Wieviel näher war sie mir gestern abend gewesen! Die Tränen stiegen mir in die Augen. Warum? warum? fragte ich mich immer wieder, während der Wagen in rascher Fahrt dem Hügel St. Pauls zustrebte: warum? Was hinderte uns, als die alten zärtlichen Freunde miteinander zu leben? Sie war verheiratet, ich verlobt – hatten wir es uns nicht schon immer gesagt, daß es einmal so käme? Warum aber dann ihre Bosheit? Denn böse war sie gewesen, und mit Überlegung. Ich konnte nicht an Doris denken, ich wollte nicht, es schien mir unrein, peinlich, gefährlich. Ich trauerte über Maria, und dies öffnete einen Abgrund ...

Wohin mich wenden?

Bei diesem Hilferuf ertappte ich mich. Schämte mich. Seufzte einigemal tief auf, wie als Kind, wenn ich geweint hatte, und hob die Augen zur Landschaft, die viele wehende Arme öffnete, und betrachtete sie verliebt, mit heftig klopfendem Herzen, doch gefaßt.

 

Am frühen Nachmittag kam sie im Auto ihrer Mutter. Sie trug das weiße Kostüm, einen kleinen, roten Hut, das machte sie mir nun gleich wieder vertraut. Wie hundert andre blühte sie so im weißen Licht der Riviera, wenn auch als die Schönste und zu meiner alleinigen Freude bestimmt.

Lady Isabel begrüßte sie herzlich, erkundigte sich nach der Marchesa, die kränkelte, setzte mich zwischen sich und Maria in den Hintergrund des Wagens, und unter ihrem Befehl fuhren wir ab, über Gattières, St. Jeannet, hoch über dem Tal des Var, hinunter nach Monte Carlo. Wir waren fünf, Maria, die Führerin, die Tochter Betty, Kaspar und ich. Bob war mit Lord Berrick zum Golf gefahren.

Quer über die Hochebene führte ein Höhenweg, den legten wir zu Fuß zurück. Hurtig zögernden Schrittes liebäugelte Maria mit dem Baou, der hier, mit einem Stoß, aus dem tiefen Stromtal aufschoß und leuchtend von Kraftbewußtsein über uns im Himmel verharrte.

»Er trägt einen Stern«, bemerkte sie ruhig und deutete hinauf.

Kaspar riß die Augen auf: »Was er tragen?«

Es stimmte, in der siedenden Bläue über dem Felsen fütterte ein kleines, außerordentlich grelles Licht. »Der heilige Geist«, sagte ich. »Die Fahnenspitze«, brüllte Kaspar, er schlug sich an die Stirn, daß es klatschte. Sogar Lady Isabel versuchte zu lachen und zog den schönen, gefrorenen Mund in die Breite, ein Versuch, der, so freundlich er gemeint sein mochte, ihr gleichmäßiges Gesicht zu einer geradezu schmerzlichen Fratze verzog. Dort oben also, auf der Spitze des Baou, befand sich eine Fahnenstange, an der man allerdings nie ein Fahnentuch gesehn hatte – wie Kaspar vermutete, aus dem Grund, weil sich niemand hinauf bemühte, um ein solches zu hissen. Doch schwor er sogleich »beim Stern des Baou«, niemand, er wiederholte das Wort, wobei er die Führerin mit einem Blick wie einem Steinwurf streifte, niemand werde ihn hindern, an einem gewissen Tag dort hinaufzusteigen und über dem Land des Var, dem Varland, wiederholte er anzüglich, die Siegesfahne des Schönen und Guten zu entfalten.

Gern hätte ich gewußt, was das für ein Tag sein werde, aber das Dunkel seiner kriegerischen Anspielung war so absichtlich, daß eine Nachfrage sich von selbst verbot. Immerhin lag die Vermutung nahe, daß auf etwas gezielt sei, was mit Madam zusammenhing, und Maria bewegte sich offenbar im gleichen Gedankengang, fragte sie doch unvermittelt, ob Giuliettas Familienname, der Name Var, ihr vom Vater überkommen, oder ob er nicht bedeutungsvollerweise dem Fluß, dessen weitläufigen Weg im Tal wir verfolgen konnten, entlehnt und ein Nom de guerre sei.

»Taufschein«, protzte der Maler, so schroff, daß ich mich verpflichtet fühlte hinzuzufügen, ich fände es eigentlich imposanter, wenn Madam sich im Vollgefühl des eigenen Wertes den Namen des befruchtenden Stromes selbstherrlich zu eigen gemacht hätte. Zwar schien es erst, als ob das Argument bei Kaspar Anklang fände, er stutzte, spähte zu mir hinüber, doch riß er gleich darauf den Kopf zur Seite: »Taufschein« knurrte er.

So setzten wir belustigt unsern Weg fort. Zu unsrer Rechten streckte sich das Meer, schwer wie ein Raubtier, das gefressen hat, zu unsrer Linken wogten, dem Baou untertänig, leichte Höhen, unübersehbar. Der Schwede schüttelte die Faust gegen den Baou: »Ich ihm trotzen, Marchesa, dem Kaiser des Mistrals!« Dabei forschte er in Marias Blicken, und alle seine Muskeln, die Stirnadern schwollen. Wie er so neben ihr her wuchtete, fragte ich mich in der Tat, ob er nicht mit eins einen tierischen Schrei ausstieße und mit Maria auf den Schultern zwischen den Felsen des Abhangs verschwände.

Die Straße entlang verrieten verstümmelte Bäume, verkümmertes Gestrüpp, Felsen, vom Wind Verblasen, von der Sonne verbrannt, daß dies die Stelle war, wo der Baou seine luftigen Spießgesellen und Knechte und die Überläufer des Meeres zur Schlacht versammelte in den Nächten, da selbst der Leuchtturm von Antibes wie ein geringes Nachtlicht im Luftzug flackerte und in den Villen die zarten Frauen sich an ihre kranken Männer klammerten und in den Hotels von Vence ein Flüchten war von Zimmer in Zimmer ... Einer einzigen Hütte begegneten wir, vielmehr einem Dach, seitlich eingetreten wie zum Hohn. Ich mußte Betty aufheben und an der Hütte vorbeitragen, sie war, nachdem sie sich schon die ganze Zeit über ängstlich umgeschaut hatte, beim Anblick der Hütte in eine Art Starre verfallen. Erst viel später, im lachenden Monte Carlo, gestand sie, die schottische Nurse habe den Kindern erzählt, hier oben wohnten die armen Seelen von katholischen Irrlehrern und warteten um Erlösung wimmernd, auf das Erscheinen eines schottischen Heilsboten.

Nach einer Stunde vereinsamender Wanderung bestiegen wir wieder das Auto, es schaukelte uns surrend durch Schwaden Sonne von Gärten zu Gärten. Sie hingen an den Abhängen, wohin man sah. Viele, in denen Nelken gezogen wurden, glichen Kindergärten mit ihren langen Reihen gleichfarbiger Blumen zwischen Schnüren, andre gab es, wo von tausend Nelken eine jede einzeln an ihren kleinen Stecken gebunden war. Und überall harrten die Orangen der erntenden Frauen. Lady Isabel selbst gestand, sie würfe am liebsten ihr Kleid ab und träte mit nackten Beinen und Armen zwischen die frischen, dunkeln Bäume. Worauf Betty, die noch nie die nackten Beine ihrer Mutter gesehn hatte, erstaunt und ein wenig ungläubig zu den Orangenbäumen hinüber blickte ...

Wir überquerten den Var, die alte Grenze zwischen Savoyen und Frankreich. Der breite Strom, in dessen Bett winzige Wässerlein und Tümpel zwischen Kieselfeldern in die Luft sprangen, um ein Stück Himmelsbläue zu schnappen, bildete nicht mehr die Grenze, aber am linken Ufer bot das sonst unbefestigte Nizza den Fremden mit seinem Oktroihäuschen die Stirn. Erfreulicherweise war die Zigaretten rauchende Besatzung gerade unter sich in eine lebhafte Debatte geraten, so daß wir ungeschoren passierten.

Der Wagen drehte sich in spitzem Winkel, als schlitterte er auf nassem Asphalt, wir liefen in eine Eukalyptusallee und einem mächtigen, blauen Auge zu. Das also war sie, die Engelsbucht, das war sie, die weiße Stadt, vom blauesten Meer bespült! In einer hinstreifenden Umarmung lehnte ich an Marias Schulter. Langsam rollte der Wagen. Alle Spaziergänger schritten in Adel gekleidet. Auf den nackten Kieseln des Strandes schliefen Männer und ließen sich die zerlumpten Kleider von der Sonne flicken, dazu machte ihnen das Meer überdies noch Musik. Wir streiften lauter glückliche Häuser, wo die Sonne als Hausmeisterin vor dem Tor stand, und wenn ein Kind über die Straße lief, verlangsamten nicht nur die Wagen die Fahrt, auch die Brandung hielt eine Weile den Kopf hoch und paßte auf, daß kein Unglück geschah. Die Frauen blickten prüfend vom Meer in das Gesicht ihrer Begleiter. Die Paare schritten im Himmel.

Ein gräßliches Gebäude tauchte auf, ich hörte, es sei das Kasino von Nizza – sogar Ingels deutete achselzuckend mit dem Daumen darauf. Indes: »Schwamm drüber!« sagte die Brandung und: »Ich bin auch da!« der Himmel, die Sonne aber sagte nichts, sondern blendete mich gleich einem Feuerbusch, worin Maria erschien, nackt, wie ich sie einmal vor langer Zeit gesehn, braun und kühl, mit einem flimmernden Hof um die Augen.

Ihre Hände waren stark und klar.

Von Betty angestiftet, nahm Ingels den weiteren Weg über die Corniche. Bald eröffnete sich uns die herrliche Straße, einsam in ihrer Jugend, und nachdem das weiße Nizza uns himmelwärts Entschwebenden zwei-, dreimal nachgewinkt hatte, wogten wir, uns selbst überlassen, zwischen Meer und Himmel dahin. Das Meer warf eine Fata Morgana an den steilen Abhang: Abgründe, worin Gärten hingen, an einem Haus verankert, und alle diese Gärten und die Häuser schienen Meerfahrer, Küstenfahrer, ein luftiger Spuk. Vom Himmel sanken bleigraue Felsen und saßen in rostbrauner Erde fest. Auf einem von ihnen wehte die Trikolore, und Betty hatte voriges Jahr die Stange mit der Hand berührt.

Unterhalb eines steil im Himmel nistenden Häuserhaufens mit Namen Eze packte Ingels den Vesperkorb aus, denn da hinauf, in die Ortschaft, meinten wir, könnten nur Ziegen. Es war sehr heiß, selbst die Telegraphendrähte hatten schlapp gemacht auf dem Weg zu dem blendenden Felsennest und hingen tief herab. Alle übrigen Werke der Zivilisation, Hotels, Benzintanks, Autos und Wagen, ja die Maulesel samt den gröbstbesohlten Ausflüglern hielten hier auf dem sonnigen Platze an und begnügten sich damit, ein wenig den Hals zu verrenken nach jenem Horst. Nur Betty war oben gewesen, das verstand sich von selbst.

Maria, bist du da? fragten unablässig meine Augen, während wir vesperten (welch ein Salz, diese Sonne, für die Speise, welch ein Gewürz für das Getränk!), und unermüdlich antworteten die ihren. Ja, da bin ich, sagten sie mit samtenem Laut, schau' mich nur an, das bin ich: Maria ... Und je inniger unsre heimliche Unterhaltung wurde, umso lebhafter widmeten wir uns der Unterhaltung der andern. Sie sollten mithalten, da wir siegreich die Begegnung mit der mächtigen Welt bestanden!

 

Vom Augenblick an, wo wir das Fürstentum Monako befuhren, warf Maria mit grimmigen, ja meuterischen Ausrufen um sich. Das war ein Wintergarten, ein Kalthaus, Blumenetageren in einem Salon, kein Hauch von Natur. Die Rasenplätze erklärte sie für chemisch gereinigt, die Bäume für aufgebügelt. »Lady Berrick, Sie reden es mir nicht aus,« erklärte sie, »diese Bäume werden jeden Morgen mit dem Vakuumreiniger entstaubt. Dann kommt der Coiffeur.«

Im Kasino aber befiel sie die Angst.

»Setze du dich, Claus«, bat sie. »Spiel' du!«

»Aber, Maria, ich werde doch verlieren!«

Sie legte mir die Hand auf die Schulter.

»Ich passe auf«, sagte sie verwirrt.

Ich setzte mich, und sofort gab der Croupier mir sein Wohlwollen zu erkennen durch ein kurzes ermunterndes Wort, einen Augenwink, ein Kompliment. Einmal wies er höflich lächelnd einen Einsatz zurück, der erst beim »Rien ne va plus« ankam, während er einen andern, gleichzeitig erfolgten stehn ließ. Und siehe da: hätte er meinen Louis angenommen, so wäre er verloren gewesen. Wenn ich gewann, entrichtete ich, wie ich es den andern abgesehn, dem Chef der Croupiers über den Tisch hinweg meinen Obolus. Wofür, konnte ich in der Eile nicht erfahren, aber da sich bei der Darbietung des Opfers die Damen als die Eifrigsten und Gewissenhaftesten zeigten, schloß ich auf die Ausübung eines Aberglaubens. Jedenfalls war dieses Geld das einzige, das nicht, bald verloren, bald wiedergewonnen, auf und ab tanzend, mit einemmal in einem Abgrund verschwand. Nachdem ich genug verloren hatte, erhob ich mich, blieb aber, Marias Atem im Nacken, noch eine Weile auf meinem Platze und schaute zu.

»Herrlich!« hörte ich sie flüstern. »Unglück im Spiel –«

Ich drehte mich um:

»Es hat einige Zeit gedauert, bis es feststand,« sprach ich, »es gab da allerhand Gegenströmungen, jetzt aber wissen es alle mit mir am Tisch: du liebst mich, Maria!«

»Und du?« gab sie ernst zurück. »Liebst du mich? Laß sehn!«

Sie machte Anstalt, sich auf meinen Stuhl niederzulassen, den ich noch in der Hand hielt.

Er wurde mir entrissen, um uns entstand ein leises Beben, das sich durch den menschengefüllten Saal fortpflanzte, es wurde noch stiller, als es schon gewesen, eine Gasse entstand, und durch sie bewegte sich ein rundlicher Herr auf meinen Stuhl zu, den ein Diener ihm unterschieben wollte, aber er trat nur an den Tisch, der rundliche Herr setzte sich nicht. Er stand, jedermann wurde es sichtbar, daß er das Befehlen gewohnt war, und ich erkannte Herrn Charles Hartmann aus Mülhausen im Elsaß.

Eingekeilt in der Menge, die sich um den sieghaften Mann geschlossen hatte, flüsterte ich:

»Schau', Maria, das ist der Erzeuger von meines Bruders Flamme, wie du siehst, ein Prometheus, der Vater der kleinen Hartmann, und wahrscheinlich mein zukünftiger – ja, wie nennt man ein so unvorhergesehenes Familienmitglied? Gefällt er dir?«

Sie meinte, so sähen in Rom die frisch geadelten Kohlenimporteure aus, die zu Hofe gingen, und jetzt werde sie nie erfahren, ob ich sie liebte, der Kohlenimporteur habe sie bestohlen ...

Stehlen? dachte ich, nein, das hatte er nicht nötig, ich sah ihn mir an, den demokratischen Höfling. Ja, das war er, ein demokratischer Höfling, in vollendeter Form. Rundlich wie die Kieselsteine eines Stromes, die einen langen Weg gemacht haben. Wo ein Parkett war, brauchte man ihn nur anzustoßen, geradeswegs rollte er bis vor den Thron – ob darauf nun ein Kaiser saß oder der Präsident einer Republik. Ich vermutete, vor dem Kaiser, mit dem er einigemal zusammengetroffen war, fürchtete er sich ein wenig, weil Wilhelm II. einen lahmen Arm besaß, was ihn launisch und bösartig machte, und dann wegen des Firlefanzes, mit dem so ein Monarch sich umgab, und dem ein Biedermann im Grunde seines Herzens in Ewigkeit abgeneigt blieb. Ein Präsident der Republik dagegen wußte, ohne viel Hokuspokus, einen guten Tisch zu schätzen, man stammte gewissermaßen aus benachbarten Dörfern, mit ihm trat man auf festen Grund. Zwar war Charles Hartmann Ritter eines preußischen Ordens, doch rühmte er sich, ihn niemals angelegt zu haben, nicht einmal vor dem Kaiser. Ebenso liebte er den Adel, weil der Adel ihm mit Rücksicht auf seinen Reichtum gestattete, auf mehr oder minder närrische Weise als Republikaner großzutun. Das Volk hieß ihn den »König von Mülhausen«, und er herrschte, eine Art von Louis-Philippe, mit bürgerlichem Anstand von der pfälzischen bis zur lothringischen Grenze. Er machte politische Wahlen, ohne zu erlauben, daß man ihn selbst wählte. Überhaupt schien er in seiner Heimat, außerhalb des Geschäftes, nur mit den Dingen zu spielen, vermutlich weil er sich eines höheren Ruhmes bewußt war, und in der Tat las man seinen Namen auf den meisten Knöpfen der Welt. Doch »drüben«, in Paris, da galt er für einen mondänen Bourgeois mit einem leidenschaftlichen Herzen, das für die schönen Frauen aller Völker, unter den Völkern indes einzig für Frankreich schlug. Kurz, ein großer Mann ...

Inzwischen ließ der Professionelle des Rings, der Hartschläger, unter dessen Hieb Goldquellen aufsprangen, und Gladiator der Kalkulation die hellgrauen Rundaugen um den Tisch laufen. Die Croupiers lächelten untertänig vor sich hin, während der Mann, der den Ball warf, diesem eine leichte Verbeugung nachsandte, die Charles Hartmann galt, und das Publikum, wie im Theater beim Auftreten des Stars, sich zusammenriß, um ja nichts zu versäumen.

Ein einziger machte eine Ausnahme, ein junger Mann mit dem gramzerfressenen Gesicht eines Charakterspielers, den das Leben plötzlich beim Wort genommen. Er saß Hartmann gegenüber. Nachdem er auf den Monsieur, der mit biederer Artigkeit den angebotenen Stuhl abgelehnt, einen Blick geworfen hatte, der das ganze Wissen Hamlets um die Nichtigkeit der irdischen Dinge enthielt, beugte er sich über den Stapel von Fünffrankenstücken und stierte daran vorbei auf das grüne Tuch. Zitternd glitten die mageren, langen Finger der Rechten an dem kleinen Stapel entlang, und ich fragte mich, ob sie nicht in den Nerven, wie ein Zentimetermaß mit Strichen, in Millimeter geteilt und also imstande wären, durch die bloße Berührung die Anzahl der gehäuften Fünffrankenstücke zu ermitteln. Tagtäglich, ahnte ich, saß er hier, morgens und mittags und briet in der Hölle, um abends mit den zwanzig gewonnenen Franken in die entlegene kleine Pension zu wanken – Gott allein wußte, welchen Monolog eines Menschenanführers oder eines großen Opfers in der vertrockneten Kehle! Hätte er mich beachtet, ich wäre vielleicht sein Freund geworden. Er beachtete mich nicht. Er kannte das Geheimnis, wie man plötzlich mitten unter Menschen in die Ferne reist, unbekannt, wohin ... Charles Hartmann imponierte ihm nicht.

Erst jetzt fiel mir auf, daß die älteren Damen, die am Tisch Tabellen führten, um dem Glück hinter die Schliche zu kommen, ein neues Blatt aufgelegt hatten, einzig und allein für Charles Hartmann. Dieser drehte sich, immer noch um sich schauend, gemächlich eine Zigarette, die er aber natürlich nicht anzündete. War er doch im Begriff, das Kasino zu verlassen und hatte nur auf dem Weg von den Bakkaratsälen, galant, wie er war, und Demokrat, Station beim Spieltisch der kleinen Leute, der Roulette, gemacht! So, jetzt war die Zigarette gedreht und geklebt, er klemmte sie in den Mundwinkel und setzte je zweitausend Franken auf zwei Dutzende von den dreien. Gehorsam schlüpfte der Ball in eines der besetzten Felder. Die Bank legte ihm einen Tausendfrankenschein auf seine zwei, die da als doppeltes Leimpflaster für den heranhuschenden Glücksvogel gelegen hatten. »Croupiers«, murmelte er und warf einige Goldstücke, die er seiner Hosentasche entnommen, über den Tisch und vollführte eine Bewegung mit dem Oberkörper, die allen Staatsoberhäuptern eigentümlich ist, wenn sie sich vom herzklopfenden Volke verabschieden, und war verschwunden, wie eine Vision.

Die Damen schoben das mit einer einzigen Ziffer beschriebene Blatt unter den Stoß der bekritzelten Tabellen, dieser Schatzgräberakten. Ohne aufzublicken, drehte der arme Spieler mit dem gramgrauen Gesicht den Stapel in den Fingern langsam um, bis das unterste Fünffrankenstück nach oben zu liegen kam, und senkte ihn auf den Tisch, als pflanzte er eine Gedankenblume in mystische Erde.

Der Ballwerfer, die zwei Herren der Bank, die sechs Croupiers atmeten dem Gewaltigen nach, das Publikum fieberte, ein Greis, der mit flatternden Händen Goldstücke zählte, stöhnte auf. Da das Glück eine Dirne war, so machten sie sich alle auf, es zu erringen, billig oder teuer, und warfen sich in die Bresche, die Charles Hartmann gelegt. Sie setzten, zögerten, mit Angstschweiß auf der Stirn, verdoppelten, und die Adern ihrer Schläfen glichen Würmern, die sich krümmten. Auf den vier Seiten des Tisches erhob sich eine ekstatische Menschenmauer, rot und blau gefleckt, mit brennenden Augen. Die Luft zitterte von unhörbaren Atemstößen, und einzig ein unruhig dumpfes Rollen war vernehmbar, das die auf der Stelle galoppierenden Herzen hervorriefen. »Rien ne va plus«, da kam der Zusammenbruch – auch das war Lust.

»Douze!«

Die eine von den hundertfünfzig, die auf die Zwölf verfallen war, wie in ein Loch, weil die Nummer leer gewesen, rannte mit den Händen voll Scheinen in die Arme Lady Isabels, es war Betty. Sie wollte ein Auto kaufen, eins, das ihr allein gehörte, sofort, und stammelnd vor Erregung stopfte sie die Scheine in ihre Strümpfe. Darüber wäre nun Lady Berrick fast in Ohnmacht gefallen, jedoch, da packte Betty sie mit beiden Händen am Arm und zog sie ins Freie ..

Bettys Gebärde hatte mich an eine ähnliche Marias erinnert ... Vergeblich suchte ich mir auszumalen, wie Doris Geldscheine oder Orangenblüten in ihren Strümpfen verwahrte. Es war undenkbar. Und von diesem geriet ich auf anderes, was, bei vielen Frauen möglich, erlaubt, ja lockend, da ich es mir jetzt vorstellen wollte, bei Doris unerlaubt, abstoßend, ja beleidigend gewesen wäre ... Welch ein Urwald war doch die Welt! Welch ein Glück, daß sie dennoch umhegte Siedelungen enthielt, mit Häusern, die gegen Unwetter und Überfälle von Grund auf befestigt waren! »Doris,« betete ich voller Angst, »o du meine sichere Doris!« Und zugleich fühlte ich, wie mächtig die flüchtige Erscheinung mir zur Seite mit ihrer Hand die meine streifte ...

Kaspar öffnete die Tür des Café de Paris:

»Bitte Sie, Baron, Mädchen in Auge fassen«, gebot er. »Reizend. Sprechen alle Weltsprachen mit Hüften. Haufenweise reizend. Lachen und haben Angst vor Zimmerwirtin. Beine wie Rehe. Schultern wie Meerschwein. Prächtig. Keine Menschen.«

»Sagen Sie das nicht!« Maria machte kehrt und blieb vor ihm stehen: »Wäre ich ein Künstler, ich malte nur sie, ich würde nicht satt, ich malte nur sie. Und wäre ich ein Mann –«

Der Schwede schüttelte heftig den Kopf:

»Sein süffig wie Moselwein«, sagte er. »Wenn sie aufwachen – nichts! Gar nichts zu malen. Zu flüssig. Nichts. Höschen. Fast aus Luft mit rotem Band, zu Hut passend. Vielleicht etwas für Lord Berrick, nichts für mich ... Ich meinen, für Malen.«

An einem Tisch bei der Musik bildete Frau Hartmann einen dunkeln Fleck, und einen Schritt abseits markierte ein aufmerksamer Kellner die Weite des Kreises, der ihre Wohlanständigkeit umgab. Sie ließ ihr Schnupftuch in der Hand als ein Blinkfeuer spielen, um uns den Weg zu weisen, und neben ihr, aufrecht, den Daumen der Rechten in der Hosentasche, wie Eduard VII. die Großen der Erde zu stehn gelehrt, machte sich mit runden, blanken Augen ihr Gatte bereit, uns zu empfangen. Er trug eine weiße, gefranste Nelke im Knopfloch, in der Entfernung wirkte sie wie ein abgerissenes Stück des Spitzentuchs, das seine Gattin, dem Geist des Ortes nachgebend, neckisch in der Luft hielt.

»Au, Missis Perkins«, hörte ich da Lady Isabel ausrufen, gleichzeitig stieß Betty mich an: »My friend, we must part«, rief sie klagend.

Ich sah, wie Charles Hartmann sich gehorsam gegen den Tisch verbeugte, auf den Lady Berrick, von der mürrischen Betty zögernd gefolgt, mit eins losstürzte, indes ein leicht ergrauter Sportsmann dort eine entschuldigende Gebärde gleich einer Brieftaube in die Richtung des Ehepaars Hartmann entließ.

»Herr Baron von Breuschheim, Claus, sehr erfreut, einen Landsmann zu treffen, und das dort drüben ist der Herzog von Wight«, flüsterte Herr Hartmann mir in zwei verschiedenen Tonlagen, einer höheren und einer tieferen, zu, und Madame, die mich neben sich auf den Stuhl zog: »Lady Perkins ... Die Herrschaften dinieren.« Sie vergaß ganz, mich zu begrüßen, und auch, daß Missis Perkins keine Lady war.

Da hatte Charles Hartmann sich wiedergefunden:

»Wir auch«, sagte er trocken, Maria und mich mit einem freimütigen Lachen als Verbündete werbend, und er winkte dem Kellner. Nun überließ sich auch Frau Hartmann laut der Freude über das unerwartete Wiedersehn, das übrigens, wenn sie ihrem kleinen Finger hätte glauben wollen, so unerwartet nicht gewesen wäre. »Unsre kleine Anne-Marie hatte mich benachrichtigt«, hauchte sie mir ins Ohr.

Leichtfüßig durchwandelten die weißen Mädchen den Raum, die kleinen, roten, in den Kopf gestülpten Hüte riefen zur Schlacht, und die geschminkten Münder zitterten vor Hunger, sanken doch Hunderte von Hors d'œuvres, auf Silberschüsseln geordnet, wie himmlische Speise um die Blumengläser auf den Tischen. Und das alles hing in einer Wolke von Musik.

Hier und da thronte eine alternde Schönheit einsam an einem Tisch und fraß. Ich zählte sie: es waren drei. Sie trugen dicke Perlenschnüre um den Hals, die fütternden Hände blitzten von Edelsteinen. Jede hatte neben sich auf dem Sofa einen King-Charles, den sie mit ihrer Gabel speiste, aus ihrem Kelchglas tränkte und zwischendurch mit zärtlichem Gemurmel an einer kostbaren Nelke riechen ließ. Alle drei verfolgten argwöhnischen Blickes den Maître d'hôtel der sie mit den erpreßten Beweisen seiner Hochachtung überschüttete. Musik schwebte herab, der gelockte Primgeiger überschritt aufjubelnd die Schwelle der Wolke, wo die Vergessen spendenden Blumen wuchsen, und trug die beseligende Botschaft an den Tisch des Herzogs von Wight.

Maria beugte sich zu mir:

»Claus, welcher gäbst du den Vorzug?« fragte sie, das junge Antlitz üppig entfaltet, die Musik in den Gliedern, mit schweren Lippen ...

Ich deutete mit dem Kopf nach der Tür ...

Dort sang ein von Schnee ein gebröseltes Vögelchen, von niemand beachtet, gegen die heimtückischen Schnabelhiebe eines Geiers an, der sich mit beiden Händen an den Aufschlägen seines schwarzen Rockes festhielt, vermutlich, um das widerstrebende Tierchen nicht einfach zu erwürgen.

»Die da, die der Kerl beschimpft!«

»Poveretta!«

Schnell erhob sich Maria und schritt durch die Tische bis zur Tür, ich sah, wie sie ihre Tasche öffnete, der Geier entfernte sich rücklings unter Verbeugungen, und das Mädchen hielt, ohne Maria weiter zu beachten, ihren Einzug zu den tausend Speisen, wobei sie einem Musiker auf dem Podium blitzschnell mit dem Geldschein zuwinkte. Noch einen Schritt, und sie saß, die Speisekarte in der Hand, und erteilte dem Maître d'hôtel Befehle. Hilflos vor Erstaunen verweilte Maria an der Tür ... Ich erhob mich, um sie zurückzuholen, da sprang der Herzog von seinem Tisch auf, Herr Hartmann überholte ihn, doch mir lief sie entgegen und schier in die Arme, mir! »Hast du das gesehen, Claus?« eiferte sie. »Nicht einmal gedankt. So sind deine Erwählten.«

Wir waren beinah aneinandergeprallt, die drei einsamen Damen lachten alle drei laut auf, und Kaspar erklärte: »Essen abgezogen, kriegen große Trommel Hälfte, andre Hälfte junger Mann im Cut.« Der Herzog von Wight stand noch immer und blickte zu Maria hinüber, mit einem Blick, der die Beute festhielt und sie an sich ziehen wollte. »Na, na«, murmelte Hartmann mißbilligend. Da raunte Lady Berrick dem Herzog einige Worte zu, und er setzte sich, wie auf Befehl.

»Was?« fragte Maria, »Meister Kaspar! Was erzählten Sie soeben?«

Doch die Geigen liefen Hand in Hand über elysäische Felder, der Primgeiger kehrte in die Heimat zurück. Lady Berrick warf Maria eine Kußhand zu, Missis Perkins hob eine Rose und senkte sie wie einen Degen. Der Herzog machte ein auffallend ehrerbietiges Gesicht. »Man entschuldigt sich«, stellte Hartmann fest. Ein Waldhorn rief mit schmeichelnder, ein ganz klein wenig rauher Stimme ...

Ich ergriff die Vase, die in der Mitte des Tisches stand, entnahm ihr die Blumen, blindlings, wie Monsieur Hartmann in einem Anfall von Wahnsinn ein Bündel Tausender in seinem Kassenschrank ergriffen hätte, um es wegzuschenken, und reichte sie Maria.

Immer noch wandelten weiße Mädchen auf roten Schuhen, den roten Mund in der Luft, das Gesicht geöffnet wie unter einem zurückgeschlagenen Visier, von der Musik in den Hüften bewegt – armselig unter dem meerentstiegenen Unisono des Orchesters, die Augen voll frecher Angst ... Die Kellner setzten bunte Gebirge von Fruchteis auf die Tische, die Platten mit den Likörflaschen klingelten heran, es roch nach Mokka.

Der Herzog hatte die Rose der Missis Perkins genommen und neben seinen Teller gelegt. Frau Hartmann, die ihn demütig verschwärmt im Auge behielt, den Kopf wie lauschend geneigt, als wäre er ihr Beichtvater, der ihr zwischen ihren Gedankensünden mit Hilfe eines ausgezeichneten Orchesters von fernen Ländern erzählte, Frau Hartmann berührte den Boden wieder, der die Kraft der Bourgeoisie birgt. Sie seufzte:

»Schrecklich, all diese Kreaturen! Mir tut der Herzog leid. Da lachte Charles Hartmann. Er lachte, wie ein Hirsch röhrt, glücklich, daß der Tisch des Herzogs auf seinen zurückgeworfenen, geschwollenen Hals starrte und der ängstlich herbeigeeilte Maître d'Hôtel gerührten Lächelns den Kellermeister heranwinkte. Geduldig verharrten sie hinter dem Mann, der hier so lachen durfte. »Meinen Champagner!« warf er ihnen endlich über die Achsel zu. Betty schlief an der Hüfte der Mutter.

Auch der Schwede war nicht mehr von dieser Welt. Er trank und träumte. Zuweilen schaute er sich freundlich um, nickte bald mir, bald Maria zu und schloß wieder die Augen. Er saß wie ein Denkmal.

Jetzt stimmte die Kapelle »God save the king« an, zweihundert Nichtsnutze reckten die Hälse, ob der Herzog zur Ehrung seines Blutsverwandten aufstände, aber er blieb sitzen. Von soviel Kühnheit oder Leichtfertigkeit angesteckt, begannen die Mädchen zwischen den Tischen zu tanzen, auch hatte gerade ein geheimnisvoller Befehlshaber, der Herr mit dem übernächtigen Gesicht, der immer gleichsam blitzend aus dem dunkeln Schlamm geschossen kam, umständlich die Tür abgeschlossen und war, den Schlüssel in der Hand, langsam und scharf beobachtend durch den Saal geschritten. Darauf hatte sein Fischblick oberflächlich den Kellermeister gestreift, und einige Minuten darauf begann eine Prozession von Kellnern, die Sektkübel vor sich hertrugen: die »Spende des Hauses«. Ein Freudenschrei scholl durch den Saal. Endlich hatten auch die Chefs der monegassischen Sittenpolizei ihr Teil. Als die beiden Herren, die Charles Hartmann uns als solche bezeichnet, das erste Glas geleert hatten, ließen sich, wie gerufen, Engel mit kleinen, roten Hüten an ihrer Seite nieder, die mit weißen Zähnen abwechselnd in den Spiegel der geöffneten Handtasche und in die scharfen Augen der Polizeikommissäre hineinlachten.

Die Kapelle spielte nur mehr Tanzweisen, Musikern und Kellnern rann der Schweiß in den Hemdkragen, immer heftiger strichen die Mädchen, wenn sie zum Tanz antraten oder davon kamen, mit beiden Händen über Lenden und Hüften. Wie heiratsfähige Töchter die Ballmutter, so suchten sie, an ihren Platz zurückkehrend, mit dem Blick einen Spiegel.

Frau Hartmann, der bei ihrer Vermählung Amor auf der Tournüre gesessen hatte, erging sich halblaut über »die entblößende Tendenz der Mode«. Die Kreaturen stellten Busen, Hüften, Schenkel, ja die Knie dem Manne zur Schau. Was blieb ihnen darnach zu zeigen noch übrig?

»Mein Gott, Madame,« meinte Hartmann, »alles ändert sich, entwickelt sich, auch die Mode, sogar der Teufel.«

Madame fuhr ein wenig auf.

»Que dites – vous là? Der Teufel?!«

Nun hielten wir es alle für gewiß, Herr Hartmann spiele auf die Verführungskünste der Kreaturen an, aber nein, und dies war eben der Scherz, den er sich gestattet, er wollte von richtigen Teufeln sprechen, von den Teufeln im Straßburger Münster. Eines Tages, allerdings war es lange her, hatte er Madame die Teufel im Straßburger Münster gezeigt, zuerst die alten, grobschlächtigen, abstoßenden Teufel, von denen man nicht glauben konnte, daß jemand sich mit ihnen einließe, Teufel für Gesellen mit einem unmäßigen, unsauberen, mit einem elementaren Appetit. Wahrscheinlich hatte soviel unzweideutige Teufelei bei fortschreitender Verfeinerung der Sitten dann keinen rechten Zuspruch mehr erfahren, denn zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts tauchte eine neue Generation von Teufeln auf, und diese war mit wahren Liebreizen ausgestattet, wie sie vordem noch nie an Ausgeburten der Finsternis beobachtet worden waren. Erinnerte sich Madame nicht an die zwei Teufelinnen, von denen die eine über das ganze Gesicht lachte und die andre wonnig schlief? Wäre nicht der Pferdefuß oder die Kralle gewesen, man hätte ein Heiliger sein müssen, um ihre Herkunft zu erraten, ihren gesundheitsschädigenden Umgang zu meiden und sein Haus mit dem Zeichen des Kreuzes gegen so anmutig geartete Geschöpfe der Tiefe zu verriegeln.

Madame erinnerte sich an die Teufel, aber:

»Sie werden mir doch nicht einreden wollen,« sagte sie, »die Bildhauer oder Zeichner oder wer sonst sich damals mit der Darstellung der Teufel abgegeben, habe sich nun beflissen gezeigt, die Kreaturen des Höllenfürsten möglichst ansprechend zu gestalten?

»Selbstverständlich«, sagte Herr Hartmann. »Ich habe Sie sogar nur deshalb an unsern Wonnemond und unsern damaligen, so zeitgemäßen Besuch bei den Teufeln in Straßburg erinnert, um Sie davon zu überzeugen.«

Es war erstaunlich, welche Fülle von zweideutigen Gedanken er in seinem Gesicht zu sammeln verstand; die glatte runde Fläche funkelte feucht.

»Und was haben Ihre Teufel mit diesen Kreaturen hier gemein?« fragte Madame errötend.

»Alles.«

»Dann hätte nach Ihrer Auffassung die Kirche die Teufel protegiert?«

»Selbstverständlich. Die Teufel gehören in die Kirche wie ... wie Ihre Kreaturen hier zur guten Gesellschaft.«

Worauf Madame mit einem stolzen Lachen, das leise und doch klangvoll war, und das denn auch am Tisch des Herzogs nicht unbeachtet blieb, ausrief:

»Gewiß doch, Hartmann, indem man sie draußen vor der Tür läßt.«

Aber auch Herr Hartmann lachte hinüber, als er zur Antwort gab:

»Mir scheint, es sind nicht wenige hier drin. Alle natürlich kann man nicht hereinlassen.«

Und die Gatten, die ihren Erfolg gerecht geteilt fanden, wechselten einen zärtlichen Blick.

»Hätte ich nicht gedacht«, ließ Maria sich vernehmen. »Gar nicht schlecht.« Sie blickte, um über die Spur ihres Gedankenganges zu täuschen, auf den Maître d'Hôtel. »Möchte gern wissen, warum man den Kompagnon bemitleidet.«

Der Kompagnon, das war mein Bruder Ernst, und ich sollte keinen Grund haben, ihn wegen seiner Flamme, der jungen Hartmann, und der zukünftigen Anverwandten, die sich gemeinsam ihres Mutterwitzes freuten, zu bemitleiden. Auch ich fand, dieses Ehepaar passe nicht übel in unsre »letzten Salons, wo man plaudert«, wenn auch nicht gerade nach Breuschheim. Beide sprachen die Sprache, die bei gutem wie schlechtem Wetter fleißig zu üben an der Zeit war, und die sich übrigens ebenso leicht aneignen ließ wie das vorgeblich angeborene Talent, die »Schöpfung« eines »großen Schneiders« zu tragen. Schade, dachte ich, daß die neuen Herren, die Industriellen, immer seltener auf Adelstitel Wert legten und auf einen Salon nur dann, wenn ihre Frauen zu schwächlich waren für den Sport.

»Claus,« sagte Maria, den Blick immer noch auf den Maître d'Hôtel gerichtet, »ich könnte schwören, der Herzog von Wight selber betrachtet ihn mit Wohlgefallen. Man kann nicht ohne weiteres annehmen, daß Seine Hoheit ihn anpumpen will.«

Diese letzten Worte hatten zur Folge, daß Kaspar erwachte und seine ganze Aufmerksamkeit dem Maître d'Hôtel zuwandte, der ahnungslos am Serviertisch in der Saalmitte hielt und das Manövrieren seiner Kellner beaufsichtigte.

»Jaja,« rief der Maler mit lauter Stimme, »ihn sehr wohl anpumpen können! Maître d'Hôtel besitzen zwei Hotels und Zuneigung Guiliettas. Ich fürchte, sie ihn noch heiraten, statt groß, ganz groß werden.«

Da war drüben auch Betty aufgewacht. Während der Herzog ihr mit genäßter Fingerspitze die Schläfe bestrich, rieb sie sich, unwirsch von ihm abrückend, mit dicken Fäusten die Augen. Lady Isabel nickte uns zu, und wir brachen auf.

Von rasenden Autos überholt, von andern heulend im Rücken bedrängt, vor uns die geduckte Gestalt des Chauffeurs, die alle Minuten phantastisch aufleuchtete, um gleich wieder zu erlöschen, in ständiger Furcht vor einem Zusammenstoß, der tödlich gewesen wäre, blendend und geblendet und mit den Wölfen heulend, so gut es mit unsrer Sirene ging, so legten wir die schönste Meerpromenade der Erde zurück. Maria lehnte schwer an meiner Schulter.

Zu Hause angelangt, ging Maria sofort in ihr Zimmer. Im Saal wurde noch getanzt, und ich setzte mich mit ausgestreckten Beinen vor das Kaminfeuer, müde und unruhig wie nach der Jagd. Weil dann die Hirschkuh, die auch Agathe hieß, wenn man es genau wissen wollte, immerzu so freundlich an meinem Rücken vorbeischweifte und mir dabei jedesmal mit der Hand über die Haare strich, erhob ich mich und tanzte mit ihr. Noch nie hatte ich so beschwingten Fußes, gleichsam in einen ewig blauen Himmel hinein getanzt. Mit halbgeschlossenen Augen regte ich mich im Farbenatem des vergangenen Tages, dort, wo die Luft lind war, und höher, im bestürzenden Weißlicht über dem Meer, vom Spuk der starr glühenden Felsen, der schwimmenden Gärten, der zitternden Häuser umringt, und höher, noch höher. Dort flog ich, ruckweise oder schwebend auf ausgespannten Flügeln gleich einem großen Vogel, und die namenlose Ferne umgab mich mit ihrem prickelnden Gischt.

Manchmal brachen in den lichten Raum die Kreaturen ein, wir tanzten in Getöse, zwischen Spiegeln, in einem Menschenbrodem. Wir tanzten, wir tanzten! Wir sprachen kein Wort miteinander.

Der Kaspar war, die Toreroweise aus Carmen auf unwilligen Lippen und von einer Mannschaft gestützt, die der kalabresische Edelmann, Herr César-Marie Roux, anführte, nach einem Umzug im Saal, wobei alle sich vor ihm verneigt hatten, ebenfalls durch die Hintertür abgezogen. Agathe und ich tanzten. Wir allein tanzten noch, und wir tanzten, bis sowohl Herr Roux wie der angelsächsische Korse, die am Kamin die von Kaspar zurückgelassene Korbflasche mit Orvietowein geleert hatten, sich nicht nur weigerten, das Grammophon zu unserm alleinigen Vergnügen aufzuziehn, sondern auch gemeinsam auf das bestimmteste behaupteten, es wäre nun Zeit, die Gäste nicht länger durch Tanz und Musik in ihrem Schlummer zu stören. Auf der dunkeln Treppe huschte eine Gestalt an mir vorbei. Sie verweilte auf dem Treppenabsatz, ich herzklopfend einige Stufen unter ihr. Dann verschwand sie. Im Dunkel blieb ihr hergehauchtes: »Je vous aime« zurück wie ein Duft.

Ich schlief schlecht. Einmal übte ich ganz allein auf dem Straßburger Kasernenhof den Paradeschritt. Auf der Bank bei der Wache saß der Rittmeister Stulpnagel und rauchte eine Zigarre. Er winkte Maria ab, die in stolzer Haltung mit der Schildwache verhandelte, ob es ihr nicht möglich wäre, mir eine wichtige Nachricht zu überbringen. Wie ich, immer im Stechschritt vor mich hinstampfend, die Augen zum Fenster meines Wachtmeisters erhob in der Hoffnung, er werde mir behilflich sein und Maria durch eine Hintertür einlassen, erblickte ich Doris. Ihr Kopf stand in einer unteren Ecke des Fensterausschnitts und schwankte zwischen Licht und Schatten, denn der Fensterausschnitt lag nur zur Hälfte in der Sonne – sie stickte, und als ich plötzlich, mit einem stechenden Schmerz in der Brust, stehnblieb, hob sie das Gesicht und nickte mir zu .. Ich sprang aus dem Bett und machte Licht. Es war kalt im Zimmer. Ich entzündete das Feuer im Kamin, was geraume Zeit in Anspruch nahm, setzte mich mit einem Buch hinzu und las. Aber ich konnte nicht ruhig sitzen, schlotternd ging ich im Zimmer spazieren und legte mich schließlich wieder ins Bett, um weiterzulesen.

Endlich brach der Tag an, grau und kalt wie das Olivenland vor den Fenstern, über Orangenbäumen, deren Früchte sich im bereiften Laub verkrochen, in einer Stille wie nach dem letzten Atemzug eines Menschen, von nichts als dem ohnmächtigen Ticken des Leuchtturms am Horizont belebt. Da lief ich, auf bloßen Sohlen, unter denen der Gang und die Treppe knarrten, und ich tat es wohl nicht, doch hätte ich geglaubt: ich sang, so lief ich, ein Bote der Sonne, dem noch dumpf brausenden Meere entschlüpft, und ein großer Zug jubelnder Vögel geleitete mich ...

Agathe saß aufrecht im Bett, das Gesicht mit einer einzigen dünnen Schicht Rosenrot gemalt – ach, es ruhte in seinem blonden Haar das Madonnenantlitz wie in einem Schrein!

»Ich habe die ganze Nacht auf dich gewartet«, sagte sie. »Schau' mich nicht an, ich muß häßlich sein, und gar noch in diesem Licht ...«

Sie hatte mich, wie mein Lauf plötzlich weglos vor ihr hielt, in ihre Arme gezogen, jetzt öffnete sie das Bett. »O wie bist du kalt, mein armer Liebling«, murmelte sie, zog die Decke über unsre Köpfe, grub mich in eine Wärme, die mich verschlang. Fand ich irgendwelche Worte? Ich weiß es nicht. Dies war der Urwald, wo große Lianen zwischen den Bäumen schaukeln und unsichtbare Tiere schweifen, und die Pflanzen, die man berührt, einen mit dem Geruch ihrer Säfte betäuben. Einmal hörte ich sie kichern: »Du Kind, du, ach, du Kind, hab' ich mir's doch gedacht!«

Als sie das Grab öffnete und mich aufstehn hieß, war es lichter Tag. Ich eilte die Treppe hinauf und, plötzlich wie ein Dieb, an Marias Tür vorbei über den Gang. In meinem Zimmer wohnte säuberlich die Sonne, das weiße Leinen des Bettes blühte. Das aufgeschlagene Buch auf dem Nachttisch begrüßte mich.

Ich warf den Schlafanzug ab und betrachtete mich im Spiegel des Kleiderschrankes – erstaunt, daß meine Gestalt dieselbe geblieben war nach meiner ersten Liebesnacht, erstaunt über mein blasses, schmerzlich verklärtes Gesicht.

Und ich kniete nieder und sprach:

»Nie wieder. Ich danke dir, Agathe, ich küsse dir die Füße. Nie wieder!«

Mein Gewissen regte sich nicht. Ich bereute nicht. Freude durchströmte mich, ein lauer Atem.


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