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Guter Mond

Ich lege die Feder nieder und trete auf die Terrasse meines Waldhauses.

O, ich wohne schön hier oben. Und still – mein Gott, wie wunderlich still nach soviel Lärm!

Vom Gebirg wandert der Hochwald herab. Hinter dem Haus macht er halt und steht in gerader Linie: Eichen, Lärchen, hochgeschossene Akazien, Buchen und ein paar Edelkastanien, die in ihrer Üppigkeit wie gedrungene Eichen wirken – lauter alte Kerle, wie sie anderswo auf einem Platz, den man eigens gerodet, als Schaustücke gezeigt würden. Wir könnten Gedächtnis – und Weihebäume für ganze Fürstengeschlechter, für Generationen von Dichtern bereitstellen. Unten, von den Wiesen, sieht der Streifen aus wie ein hellerer Saum am aufsteigenden Wald. An dieser Waldseite hängt von morgens bis abends alles Licht des Himmels.

Durch den Wald kommt der Tag marschiert, er braucht lange, bis er bei uns anlangt, denn der Wald ist groß, man müßte gewiß zwei Wochen dransetzen, um ihn zu durchqueren. Dafür verweilt er dann an der Waldseite wie vor seinem Spiegel bis zum Abend, wo er zum Abschiedsruf, der die Erde überglutet, die Brust aufreißt und Flammenarme öffnet. Wir aber, hinterm Haus, sehn ihn dann nur in seinem himmlischen Purpur stehn, der langsam zu Asche verfällt.

Durch den Wald folgt ihm die Nacht auf dem Fuß. Eine Leere, weglos, eine Angst, eine Kluft ohne Brücke tut sich auf, indes die Sterne einer nach dem andern in den abgründigen Himmel rollen. Dann erhebt sich der Mond.

Ich fühle ihn, ich atme ihn, noch bleibt er verborgen. Von der Terrasse blicke ich auf die Ebene, die unter derselben Ahnung schauert. Der Himmel ist von einem beunruhigenden Blau, das immer die Farbe wechselt, als schaukelte er in einem Becken mit einem roten und einem gelben Band; bald ist er lila, bald grün.

Eine Nacht, die Herzklopfen macht, mir und den Sternen. Mein Herzklopfen spüre ich mit der Hand, das der Sterne mit den Augen. Suchend biege ich ums Haus.

Hinterm Wald steigt der Vollmond empor, man sieht ihn noch immer nicht, aber er hat den knospenden Wipfel einer Rieseneiche zum Blühen gebracht, der Baum ragt in goldgelber Pracht aus der Finsternis, der Himmel darüber ist wie ein Duft.

 

Komm, Barry, mein Hund, gehn wir ihm entgegen!

Ich werfe einen Blick zurück auf Haus und Hof. Still liegt die Arche da, im Schatten des Waldrands, nur vorn in der Küche brennt hinter den Läden Licht. Jacquot schläft schon; unbesorgt, daß vielleicht der große, wilde Wald in sein Zimmer einbräche, hat er, wie immer, der Nacht das Fenster geöffnet.

Im Wald ist es noch dunkel, aber ich weiß die Lichtung, wo wir dem Gestirn begegnen ...

Was für ein Menschenfreund ist doch der Mond! Kaum ist er zu einem verkehrten Komma eingeschrumpft und scheint vom grausigen Rachen des Himmels verschlungen, da kehrt er schon wieder zurück. Eines Abends kommt er unansehnlich den Wald herauf und hängt seine Angel aus, tief genug, daß wir anbeißen können. Von diesem Augenblick an sind wir der Bedrohung durch die Raubtiergestirne entzogen, die jenseits durch die Urnacht schweifen. Es ist nicht mehr unsre Nacht – da hinten! Sie verschlägt uns nichts. Das irdische Reich hat einen Hag erhalten, wir sind eingefriedet. Und der Hag beginnt zu blühn.

Da springt der brave Angler auf die Beine, die Botschaft an Heinrich den Vogler hat ihn erreicht, im Osten, hinter dem Wald ist ein Lichtgebäude entstanden von kunstvollster Arbeit. In Parade fährt er bald darauf aus dem schwach erleuchteten Hof seines Palastes. Ein Vivat dem neuen König! Die Erde tritt in hellen Traum.

So schwach und flüchtig wir sind und trunken im Begehren, der Mond schenkt jedem von uns seinen angemessenen Traum. Unser Traum wächst mit ihm, es ist eine richtige Ernte, die da gedeiht, und wenn sie reif ist, so schneiden wir sie mit der silbernen Sichel, und die Frucht des Bösen lesen wir aus und beladen ihn damit und schicken das menschliche Gestirn hinaus in den barbarischen Himmel, der plötzlich wiederum von Feinden leuchtet ...

 

Barry saust mit einem Satz davon, ich höre ihn anschlagen, dann steht er vor mir und legt mir einen Igel zu Füßen. Daraus ersehe ich, daß die Lichtung nahe ist, denn dort tummeln sich im Mondschein die Igel. Ich muß die stachelige Kugel in das Taschentuch rollen und aufheben, Barry wiche sonst nicht von der Stelle.

Wiederholt versuche ich, mich unauffällig des stachligen Gesellen zu entledigen. Jedesmal bringt Barry ihn zurück. Er weiß, das Tier gehört in die Scheune. Sobald es einmal dort untergebracht ist, kümmert er sich nicht mehr darum. Aber welcher Jäger wirft denn seine Beute weg?! Die Schnauze blutet, er läßt nicht locker.

Der Mond hält mitten über der Lichtung. Jetzt erst wird mir bewußt: der Wald rieselt in einem unfühlbaren Wind. Doch kein Grashalm rührt sich, auch die Äste, die in die Helligkeit hineinragen, und ihr Schatten am Boden bleiben reglos. Vielleicht, denke ich, sind jetzt zahllose Tierchen in Anbetung des Gestirnes befangen, vielleicht leben andre erbebend ihren hohen Tag ... Ich blicke der weißen Majestät voll ins Gesicht, der Glanz des Hauptes fließt über, bildet einen Schein, der lange, spitze Strahlen schießt – ich spüre den erhobenen Kopf des Hundes an meinem Knie. Erst erkenne ich noch Streifen, wie vom Reif, an den Stämmen, an den Ästen, darauf ist der Wald versunken, ich sehe nur noch den Mond, das Rieseln in den unsichtbaren Wipfeln schwillt an, ich höre die Stimme des Meeres ...

 

Bei unsrer Heimkehr steht der Mond bereits hinter dem Haus. Ich muß auf die Terrasse gehn, um seiner ansichtig zu werden. Und da fällt mir ein Abend ein, wo Maria uns hier besuchte.

Zum erstenmal seit Kriegsbeginn war ich daheim Ich wurde gefeiert ... Aus Breuschheim, Straßburg, Köln hatten sich Verwandte eingestellt. Mein Schwiegervater, der Fabrikant Kurt von Kieper, war mit dem Eisernen Kreuz des Feldzuges von 1870 bei uns erschienen, hatte es aber wortlos abgelegt, als er bemerkte, daß mein Vater, der damals auf französischer Seite gefochten, wohlweislich kein Abzeichen seiner Orden trug. Beim Frühstück unterhielt er sich über den Krieg von 1914 mit der Sachlichkeit eines pensionierten Feldherrn, abends nicht ganz so selbstsicher und deshalb ein wenig zu eifrig über den rheinischen Adel. Die Standeserhöhung der Kieper datierte vom Vater.

Kurt hatte ganz den Kopf der Deutschen von 1870: rosige Gesichtsfarbe, kurzen Vollbart, starke Augenbrauen, den Blick des rechtschaffenen Mannes, hinter dem der Humor gern seine Lichter aufzog. Die beiden Söhne waren gefallen, die Frau an einem Herzschlag gestorben, ungebeugt trug er den ersten großen Schmerz seines Lebens, den ihm Gott also aufgehäuft auf die breiten Schultern gelegt. Frau und Söhne erwarteten ihn auf einer jener Morgenwolken, wie er sie zärtlich liebte, hunderte von Malen gezeichnet und darnach zu Hause koloriert hatte. Sein Reichtum war gewaltig gewachsen, auch dies nach Gottes Ratschluß, der die Deutschen ausersehen hatte, die Rolle seines Weltvolks zu übernehmen. Deshalb machte er Riesen aus ihnen – natürlich ging es nicht ohne persönliches Leid ab.

An dieser wachsenden Bedeutung der Deutschen zweifelte mein Vater nicht, wenn er sich auch weigerte, Gottes Hand im Spiele zu sehn. Nur, meinte er, habe der Krieg die Deutschen auf ihrer Sonnenbahn um fünfzig Jahre zurückgeworfen, was immerhin soviel gewonnen sei für die andern. Seine Gedankengänge waren betontermaßen wirtschaftlicher Art, statt von den Armeen Soldaten sprach er vom Aufmarsch der Getreide- und Baumwollernten, von Eisen, Kupfer, Stahl, Kohlen, Petroleum und den Arbeitskräften, die die großen Industrieverbände mobilisieren könnten. Die Generäle hielt er, ohne Unterschied der Rassen, für alte Esel, die, ohne Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse, blutige Manöver nach untauglichen Vorlagen abhielten. »Da sie auf beiden Seiten so sind, wird zum Schluß einfach die intensivere Fabrikation siegen.«

»Ganz recht,« pflichtete Kurt von Kieper bei, »und die haben wir.« Durch seinen gütigen, fast sentimentalen Blick glitt eine listige Bosheit, verlegen schlug mein Vater die Augen nieder. Nach einer Pause begann Kurt Erlebnisse aus dem siebziger Krieg aufzufrischen, oder er wandte sich an meine Mutter, um ihr von den deutschen Künstlern vorzuschwärmen, unter denen er die Nazarener besonders hochschätzte.

Von den abendlichen Gesprächen wurde mein Vater nur gefesselt, wenn in der Erzählung Frauen auftauchten, die unstandesgemäße Dinge anstellten. Von vornherein ergriff er die Partei der Sünderin, und nur die Anwesenheit der Damen hinderte ihn, seine Gedanken noch lebhafter auszudrücken. Seitdem es diesen Krieg gab, trotzte er. Vielleicht im geheimen sogar Gott, jedenfalls aber unbändig den Menschen.

Auch Tante Sidonia sprach einmal vor, um mich als »Feldgrauen« zu begrüßen. Sie hatte das Rheinweilener Schlößchen als Lazarett für Seuchenkranke eingerichtet und pflegte selbst; sie hatte wenig freie Zeit, ich war stolz auf ihren Besuch. Jedoch sie schloß sich sofort mit meiner Mutter ein, und als ich endlich nach ihr fragte, war sie schon wieder fortgefahren.

Mein Vater war ihr im Garten begegnet, ohne sie zu erkennen. »Wer war der lebende Leichnam?« erkundigte er sich, und wurde aschfahl, als man ihm erwiderte: »Sidonia ...« Er sprang auf und schritt erregt über den Teppich.

»Was haben sie aus dieser Frau gemacht? Seit Jahren läßt sie sich nicht mehr blicken – was um Himmels willen ist mit ihr geschehn?!« Er machte vor meiner Mutter halt, als erwartete er eine Antwort. Sie hob nur die Schultern.

Plötzlich sagte er: »Ich weiß Bescheid, auch wenn ihr euch ausschweigt, und verließ das Zimmer.«

 

An jenem Abend nun (Maria war am Spätnachmittag eingetroffen) saß Doris am Flügel und spielte Brahms. Langsam vergaß ich, auf Blicke und Gedanken Marias zu antworten, die den verhaltenen, ein wenig rauhen Ton ihrer Stimme hatten. Langsam wurde sie zu einem Bildnis von Bronzino, das man in einem deutschen Museum betrachtet, wenn durch die offenen Fenster die Vögel singen und im Grünen helle Frauenkleider segeln. Wie wir, erst jeder allein, dann alle zusammen und mit dem ganzen Salon, der sich in seinen üppig entfalteten Farben weitete, hinter dem schwarzen Schwan des Instrumentes davonflogen, blickte ich einmal zur Seite. Da stand in der offenen Tür der Mond und hörte zu. Wir waren also richtig im Himmel!

Nach der Beendigung des Musikstückes öffnete sich die andre Tür, und meine Schwägerin Pia trat herein. Weil sie gekommen war, als Doris gerade zu spielen begann, hatte sie im Gang gewartet. Sie trug eine silbergraue Robe und eine lange, goldene Kette von Mondsteinen, die, paarmal um den Hals geschlungen, ihr bis unters Herz reichte. Ich hatte sie ihr aus Ceylon mitgebracht. Ich trat hinzu und hob die Kette mit der hohlen Hand auf, denn das in die Hand rieselnde Wasser der Steine schmeichelte Haut und Augen, und ich konnte die Kette nicht sehn, ohne sie so in die Hand zu nehmen. Durch Doris hatte ich erfahren, daß ich dabei ein verliebtes Gesicht machte, aber sie wußte, daß es mehr der Kette galt als dem verspielten Knaben von einer Schwägerin. Sechzehn Jahre war sie alt, hieß Pia und war dreimal so gewitzigt wie ihre Schwester Doris.

»Frechdachs«, sagte ich leise, als sie mich über die Kette hinweg erwartungsvoll und zugleich spöttisch anblinzelte.

Wir traten alle auf die Terrasse hinaus, da stand der Mond in gleicher Höhe mit uns über der Ebene. Es war eine große Sichel, aber man erkannte deutlich den beschatteten Teil des Balles.

»Wo haben Sie Ihr Messingputzzeug?« fragte ich Maria.

Es antwortete Pia mit Eifer:

»Ja, denke, ich war gerade beim Putzen des Buddha dort oben (morgen ist doch Feiertag), da hörte ich Klavierspielen. Ich spitzte die Ohren. Das muß Doris sein, sagte ich mir, und fort war ich und bei euch im Zimmer. Er blickt noch immer erstaunt hinter mir her, das merkst du doch deutlich?«

Doris rief:

»Tatsächlich! Er erinnert an Papa, wenn wir das Spiel trieben, ihm einen Knopf festzunähn, um nach einigen Stichen davonzulaufen.«

Maria dagegen behauptete, den runden Messingteller des Barbierladens an der Piazza Vittore Emanuele wiederzuerkennen, auf den das Hinterteil von Vittore Emanueles Roß einen Schatten warf.

Wir stritten eine Weile unter Lachen hin und her, ich hielt mich zu Pia, vielleicht nur, um Maria zu necken. Einmal meinte Doris, es sei eine Auseinandersetzung zwischen zwei Rassen ... Da war ich wiederum mit Maria einig, die Bemerkung, die weit hätte führen können, zu überhören. Wir hielten im ersten Kriegsjahr, Maria war Italienerin, und ich mußte in drei Tagen wieder an die Front.

Als die Gesellschaft zu Tisch gebeten wurde, verabschiedete sich Maria. Niemand wußte, wie man den unerwarteten Aufbruch erklären sollte. Während Doris sich im Verein mit den andern laut wunderte, führte Pia die Mondsteinkette an den Mund, unsere Blicke begegneten sich, sie nickte mir spöttisch zu. Und da schüttelte ich, wie vor einer erwachsenen Person, die völlig im Bilde gewesen wäre, bedeutungsvoll den Kopf. »Nein, kleine Tedesca,« wollte ich sagen, »du irrst. Maria Capponi kennt keine Eifersucht.«

Sie aber nickte heftig. »Doch, Monsieur, doch!«

Dann wandten wir uns gleichzeitig unsern Tischnachbarn zu.

Am andern Tag holte ich Maria in ihrem Hotel ab. Ich fragte sie, warum sie nicht den Abend mit uns verbracht habe:

»Die Bemerkung über die feindlichen Rassen?«

Sie dachte nach. Ach so? Du lieber Himmel! Ob ich je bemerkt hätte, daß ihre gute Laune über diesen oder jenen Purzelbaum einer Unterhaltung zu Fall gekommen wäre? »Vergiß doch, bitte, nicht, daß ich eine zwanzigstündige Eisenbahnfahrt hinter mir hatte. Ich gebe zu, wenn ihr allein gewesen wäret, so hätte ich den Wagen warten lassen und wäre geblieben. Ich hätte ja nicht zu schwatzen brauchen. So aber schien es mir billig, euch en famille zu lassen.«

Der Mond war mein Zeuge, daß ich mir genau das gestern selbst gesagt hatte! ...

Während ihr Wagen langsam die Schleifen der Landstraße hinauffuhr, strichen wir durch Wiesen und die kleinen Wälder, die vereinzelt gleich Naturparken am Hang zwischen Hochwald und Ebene liegen – von meinem Tisch hier sehe ich auf sie. Es war Frühling, Buchen und Birken klangen von Vogelsang, wir wandelten in einer Helligkeit, als leuchteten die Stämme und das Laub aus ihrem Saft, oder als wäre der Wald eine Wolke, die sich auf die Erde niedergelassen. Und die Blumen schienen blühend der Erde entsprungen. Ein Wasser spielte seine kleine Tonleiter ab, und hundert Schritte weiter ein andres, und wo ein Sonnenstrahl das Moos traf, schien es ein Beet von Edelsteinen, und die Himmelblaue fiel als ein dünner Regen in den Wonnehain, wo die Freude in endlosem Überschwänge und wie bis zur Selbstvernichtung sang. Und keines wußte vom Tod.

Taumelnd, der Erde halb entrissen und doch köstlich an sie gefesselt, in göttlicher Heimatlosigkeit betraten wir die Landstraße, an der letzten Kehre wartete der Wagen. Maria fuhr nach Römerbad zurück.

»Nun, hat sie gestanden?« empfing mich Pia im Hausflur.

Ich tat erstaunt.

»Wer?«

»Die Marchesa.«

Ich wollte, ohne zu antworten, an ihr vorbeigehn, sie hielt mich am Ärmel fest.

»Wer A gesagt hat; muß auch B sagen. Ich habe gestern genickt, und du hast den Kopf geschüttelt. Wer von uns beiden hat recht?«

Ich machte mich groß und sie sehr klein:

»Bedenke, Kind, daß Maria zwanzig Stunden auf der Eisenbahn gesessen hatte.«

»Die?! Sie sitzt doch auch zehn Stunden im Sattel und geht dann noch zum Ball. Doris hat mir's erzählt.«

Sie trat zwei Schritte zurück: »Eifersüchtig ist sie! Ich hatte recht!«

Sie sprach mit solch einem fiebernden Ernst, daß ich laut hinauslachte, und damit hatte ich auch das einzige Mittel gefunden, sie loszuwerden. Im Nu war sie die Treppe hinauf.

Ich schloß mich in mein Zimmer ein und entschlief.

 

Nachts gingen Doris und ich in den Mond bis zu einer Bank, von der man über ein kleines, vielfach bewegtes und in sich geschlossenes Tal schaut. Sie steht neben einem niedrigen Steinkreuz am Waldrand gen Rheinweiler. Es ist ein wunderbarer Platz zum Alleinsein, Schauen, Horchen, Lieben. Wir sahn den Mond nicht, er stand hinter dem Wald und beschien das Tal. Zwei Käuzchen riefen einander, das eine schluchzend: »Huhuhu!« das andre aufstachelnd: »Kiwitt, kiwitt!«

Das Tal war braun und violett, ohne ein einziges helles Lichtchen, tief um die Bäume gesammelt hingen die Wiesen.

Wir wanderten weiter durch den Wald, der mit langen, mondweißen Stämmen enteilte, dem Himmel, dem Mond zu – in einem Sturm von Farben, die aufleuchteten und erloschen. Ja, es war ein Sturm, doch einer, den der Mondstab in seiner rasenden Bewegung gebannt hatte. Die Lautlosigkeit erhöhte noch den Ausdruck der Gewalt. Welch ein Jubel!

Drunten in der Ebene pickten die Lichter der Dörfer, scharf und hastig, wie die Hühner.

Im Hof kam der Hund uns entgegen und geleitete uns stumm wedelnd bis zur Haustür.

Wir schlichen die Treppe hinauf. Der kleine Jacquot schlief in meinem Zimmer. Es war mondweiß. Durch die offene Balkontür schlug manchmal eine schwere Duftwelle von den Fliederbüschen, das andre Mal waren es Rosen, die uns mit ihrem Duft wie mit einem feinen Gewebe überzogen ...

Zweimal noch, bevor ich wieder in die tollste aller Höllen tauchte, fuhr über die Ebene zwischen Schwarzwald und Vogesen (sie gehörte mir, sie war mein Garten, meine ewige Kindheit) einer berauschenden Sonne ein nicht minder mächtiger Mond nach und folgten einander Tag und Nacht wie zwei Schwestern, deren jede nur die Verwandlung der andern war ...

Ich glaubte nicht an den Tod.

 

Ich höre die Kirche in Rheinweiler Mitternacht schlagen. Der Wind hat nach Südwesten gedreht. Morgen gibt es Regen.

Merkwürdig, Barry kommt und geht. Was ist los? Schließlich folge ich ihm. In der Vorküche brennt noch immer Licht, das ist allerdings ungewöhnlich.

Ich öffne mit einigem Geräusch die Tür, und im Flur tritt mir Kathrin entgegen. Sie hat einen wichtigen Auftrag, sie hat versprochen, nicht schlafen zu gehn, bevor sie ihn ausgerichtet, sie bittet vielmals um Entschuldigung: Jacquot läßt dem Herrn Baron sagen – Ich bitte sie ins Zimmer, und nachdem ich damit die Wichtigkeit ihrer Mission anerkannt, bringt sie die Angelegenheit vor, in einer Haltung, als hielte sie den Zweispitz des Diplomaten unterm Arm.

Grether Fritz ist heute nach Rheinweiler gegangen, um an einem Begräbnis teilzunehmen, und Jacquot hat ihn begleitet ... Das weiß ich. Jacquot ist nachdenklich, aber fröhlich heimgekehrt ... Ja, beim Abendessen ist mir sein stiller Übermut aufgefallen, und beim Gutenacht hat er mich umarmt und geküßt, wo wir einander sonst nur wie Kameraden die Hand drücken. Im Bett aber, Kathrin hatte schon das Licht gelöscht und das Zimmer verlassen, hat er sie zurückgerufen und sie beauftragt, mir auszurichten, er wisse jetzt, wie die Mutter in Breuschheim begraben worden sei, gerade so gut, als ob er dabei gewesen. Die Mutter habe Ruhe und er jetzt auch. Und Kathrin solle mir sagen, daß er mich so lieb habe, wie wenn ich außer dem Vater auch noch die Mutter wäre ...

Kathrin, die als Mädchen ein Kind gehabt hat, das an ihrer Armut gestorben ist, spricht als jemand, der Bescheid weiß. Großmächtig blickt sie mich aus ihren dicken, runden Augen an. O gewiß, das war ein wichtiger Auftrag! Ich danke ihr, danke ihr sehr. Wie eine Standesperson führe ich sie bis in die Vorküche zurück, wo auf dem blankgescheuerten Tisch das Gebetbuch aufgeschlagen liegt.

 

Wieder schweife ich durch den mondhellen Garten. Überall stoßen und sprudeln die Stauden aus dem Boden, ich nenne sie bei Namen: Fliegendes Herz, Akelei, Lupinen, die frühen Flammenblumen, Nelkenwurz, Gartenwolfsmilch, Fingerkraut, Venusschuh, Frühlingsmargerite, Rittersporn, brennender Busch – ich weiß von allen, wo sie stehn. Diesen gebe ich ein Stelldichein zum Neumond, diesen zum nächsten Vollmond, jenen zum übernächsten, und da, zwischen den Buschrosen, knospen die Tulpen.

Wenn sie blühen, soll Maria bei mir sein!

Ich nehme den Brief an sie aus der Schublade, gehe durch den Wald bis zum ersten Briefkasten des Kurorts und werfe ihn ein.


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