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Schluß

Diese Nacht werde ich sobald nicht vergessen.

Am Sonntag war Nebel. Zwischen Feuer und Licht fiel Schnee. Tags darauf taute es.

Gegen Abend trat leichter Frost ein. Ich war am Nachmittag ein Stück Weges die Waldstraße hinaufgewandert und hatte den Schneepelz der Bäume bewundert. Sie hatten viel mehr Schnee geladen, als sonst je während des verflossenen Winters, sie waren richtig vollgestopft mit Schnee. Ich sah, daß trotz des Tauwetters kein Tropfen von den Bäumen fiel. Aber der Schnee war mit Licht gesättigt, es herrschte eine vollkommene Stille, und als ich in der Dämmerung die Straße nach Hause hinabging, glich der Wald einem weißen Abgrund. Dann setzte mit der zunehmenden Kälte ein leises Knistern ein. Ich dachte noch: »Der Wald spinnt Glas ...« Jeder Zweig, jedes Blatt war über und über besetzt mit Kristallen, der Schnee auf den breiteren Ästen in Klumpen gefroren – eine ungeheure Last, die ständig wuchs.

In der Nacht wurde das Dach meines Hauses durch einen Stoß erschüttert, gleichzeitig zuckte das elektrische Licht, erlosch, brannte wieder, so, als wenn jemand am Kontakt schnell ein paarmal herumgeknipst hätte. Ich nahm an, daß es draußen wieder taute, daß unversehens Schnee vom Dach gerutscht und der Lichtmast auf dem First darob erschrocken aus dem Schlafe gefahren sei.

Und plötzlich fiel hinterm Haus ein Schuß. Und gleich darauf noch einer. Ich eilte aus dem Zimmer, stand einen Augenblick starr unter der Haustür, stürzte, wie von einer fremden Gewalt gezogen, über den Hof an das Gartentor. Ich wollte, ich mußte in den Wald. Es war wie ein Hilferuf, dem ich folgen, wie eine Drohung, der ich mich stellen mußte. Es war, wie wenn im Bereiche meiner Arme ein Mord geschähe ...

Als ich die Hand nach der Klinke des Gartentors ausstreckte, krachte es über mir, ein Stoß warf mich in die Buschrosen, und Schnee rauschte hinterher. Naß und kalt erhob ich mich. Neben mir lag ein mannsdicker Ast, der war von der hundertjährigen Eiche gebrochen.

»Claus!« hörte ich rufen. Ja, ich glaubte zu hören, wie jemand meinen Namen rief.

Weiter krachte der Wald, und die jungen Obstbäume im Garten brachen, als erreichte der Befehl zu sterben durch das Dunkel nun auch sie. Wieder unter der Haustüre, lauschend, sah ich hochstämmige Rosen in der Mitte durchbrechen, ein letztes, zartes Echo, dicht am Hause, der tönenden Brüche im Wald. Es war der Tod wie eines Singvogels in meiner Hand ... Das alles geschah schattenhaft, in einem Dunkel, das vom Licht der Hauslaterne schwach überhaucht war. Ich hörte viel mehr, als ich sah, aber Gesicht und Gehör vermischten sich, weil ich jede Stelle des Gartens im Dunkel kannte. Ein leiser Laut zeigte mir den Schatten des jungen Obstbaumes, den eine unsichtbare Hand brach, ich sah in einem Streifen Lichts die völlig kristallisierte Krone eines Rosenstocks – plötzlich war sie nicht mehr da. Hinter dem Gartentor aber stand der Hochwald starr und schwarz wie eine Mauer. Was hinter der Mauer vorging, türmte Schlag um Schlag das Entsetzen vor dem Unbekannten, dem Überlebensgroßen, dem Unmenschlichen, bis zum panischen Schrecken.

In diesem Augenblick erhellte sich die Nacht. Die Sirene eines Autos schrillte. Und wie ich zögerte, noch einmal in das Unwetter hinauszutreten, ging die Gartentür auf, und eine Dame in langem Pelzmantel, den Kopf in einen Schleier gehüllt, trat auf den Weg:

»Wer wohnt hier?« rief sie.

Viviane!

Hinaus stürzte ich, sie lief mir entgegen, und in der Mitte des Weges begegneten wir einander. Wir standen und drückten uns die Hände.

»Ihre Mutter schickt mich,« sagte sie schwer atmend, »ich soll Sie sofort heim bringen.«

»Ich komme bald, Viviane. Sicher.«

»Sofort, Claus! Ihre Mutter war heute nachmittag bei mir. Sie stirbt vor Angst.«

»Ich erwarte nur noch eine Nachricht aus Rom ...«

Sie antwortete nicht, aber mir schien es, als hätte sie, während wir nebeneinander zum Haus gingen, erschrocken einen zu kurzen Schritt getan.

»Was wissen Sie von Strata?« fragte ich schnell. »Ich habe etwas in der Zeitung gelesen.«

»Natürlich. Er hat sich mit Camilla Capponi verlobt.«

»Und Maria?«

»Von Maria,« sagte sie zögernd, »von Maria weiß ich eigentlich nichts.«

»Ich habe ihr telegraphiert. Ich habe sie gebeten zu kommen.«

»Ach?« sagte sie ...

Ich schloß die Türe, komische Vorsicht, wie vor einem Bergrutsch. Da krachte es wieder, daß das Haus erbebte, und alle Lichter erloschen. Kaum hatte ich die zitternde Viviane in mein Zimmer geführt und auf die Ofenbank gebettet, als Jacquot hereinstürmte.

»Vater!« schrie er. Da wurde es wieder hell, und ich sah ihn zwischen Viviane und mir auf dem Teppich sitzen, schlotternd vor Angst in seinem weißen Nachtkleid.

»Was ist denn los?« rief er mürrisch und blinzelte erst zu mir, dann zur Ofenbank hinüber. Und dann, nachdem er eine kurze Weile gestutzt hatte, warf er sich stumm über Viviane, die im Schatten lag. Es war ein Sturz wie von einem Turm.

Auch sie sagte nichts, sondern drückte ihn an sich und streifte mit kurzen Küssen über sein Haar. Aber schon saß er wieder auf dem Boden zwischen ihr und mir, der ich bangen Herzens gewartet hatte, weinte und strampelte mit den Beinen. »Was ist denn los?« wiederholte er.

Doch der Schmerzenslaut war diesmal viel stärker, und ich wußte, warum. Viviane war von ähnlicher Gestalt wie Doris, nur schwarz, und Jacquot hatte seine Mutter oft so nachts im aufflammenden Lichte gesehn, wenn sie, spät heimgekehrt, noch in Pelz und Schleier an sein Bett getreten war. Nun war es ihm durch den Kopf gefahren, daß sie am Ende vielleicht doch noch lebte, und um dem grausamen Spaß ein Ende zu machen, war er auf sie losgestürzt, um sie festzuhalten, und hatte im nächsten Augenblick seinen Irrtum erkannt.

»Vielleicht stürzt die Welt ein?« rief er unter Tränen. »Mir soll es recht sein!«

Während ich ihn noch aufklärte, ging zum drittenmal das Licht aus, und Grether Fritz, der bald darauf Kerzen brachte, wußte zu berichten, daß eine der alten Riesenlärchen unsres Waldrandes entwurzelt worden sei und die Lichtleitung zerschlagen habe. Viviane begleitete Jacquot in sein Bett, Grether Fritz setzte sich zu ihm.

»Claus,« sagte Viviane, »ich bitte Sie, gehn wir. Das Auto wartet vorn auf der untern Straße, wo der Wald beginnt. Wir haben nicht gewagt weiterzufahren. Jacquot und die andern kommen nach, sobald sie Pässe haben. Sie, Claus, brauchen keinen Paß, ich habe einen Brief Léo Breuschheims, und die Deutschen lassen Sie natürlich hinaus. Bitte, nehmen Sie Mantel und Hut, sagen Sie Ihrem Diener ein Wort und – fort!«

»Hat es da nicht geklingelt?« fragte ich aufspringend. Ich stand lange Minuten und lauschte unbeweglich in die krachende Nacht. Das Licht der Kerzen brannte ganz ruhig. Endlich klopfte es. Grether Fritz überreichte mir ein Telegramm.

Ich wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte, und sagte unterdessen mit lauter Stimme, die zuversichtlich klingen sollte:

»Da sehn Sie, Viviane, was für ein leistungsfähiger Kurort dieses Römerbad ist! Elf Uhr nachts, die Welt stürzt ein, wie Jacquot sagt, von der Post zu mir ist ein weiter Weg, und trotzdem–«

Und ich öffnete langsam das Telegramm.

»Roma« las ich auf dem ersten Streifen.

»Der Bote wird unten über die Wiesen gekommen sein«, sagte ich aufblickend – und starrte in Vivianes Gesicht.

» No

Ich schlug den dritten Streifen auf. Kein Name, nichts. »No«, das war alles.

Als ich Viviane das Papier reichen wollte, warf sie einen Blick darauf, ohne es zu nehmen.

»Ich wußte es«, hauchte sie.

Wie wir einander reglos ansahn, kam es mir vor, als blickten wir mit genau den gleichen vier Augen in eine sich dröhnend vertiefende Leere ... Darauf saß sie mit lauschend geneigtem Kopf, die Hände im Schoß.

»Also: Nein«, sprach ich und schüttelte heftig den Kopf.

Ohne sich zu rühren, hob Viviane die Augen, ein Lächeln lief über die Lippen in die Mundwinkel, sie sagte mit wehmütiger Neckerei:

»Siehst du, Pulcinella, nun ist es zu Ende.«

Ich schlug die Hände vors Gesicht und sank in den Sessel. Fertig. Und: auch ich, so sprach es weiter in mir, auch ich habe es gewußt! Im tiefsten Innern habe ich es die ganze Zeit gewußt. Einmal mußte diese Antwort erfolgen: genug, fertig, Schluß. Auch diese einmal in meinem Leben. Gerade die – und natürlich im bittersten Augenblick der Geschichte. Das notwendige, das unvermeidliche Schlußwort:

» Nein

Draußen krachte es unaufhörlich weiter.

Ich hob den Kopf, suchte mit den Augen – Maria ...

Still, rosenfarbig brannten die Kerzen auf den drei Tischen.

»Claus!« flüsterte die Frau, indem sie sich heftig vorbeugte und eine Hand nach mir ausstreckte, – »was machen Sie für ein Gesicht?!« ...

»Wenn ich Sie bitten darf, Viviane,« sagte ich, »so lassen Sie sich jetzt von mir zu Ihrem Auto begleiten – wir gehn über die Wiesen. Und wenn ich Sie um ein weiteres bitten darf, so übernachten Sie heute im Hotel und fahren morgen früh mit Jacquot und den Dienstboten hinüber. Der Hotelier, Herr Muser, besorgt die nötigen Papiere telephonisch. Ich liquidiere hier und komme spätestens in drei Tagen nach.«

Sofort erhob sie sich.

»Ihre Hand darauf, Claus?«

»Aber gewiß doch, wenn ich dafür die Ihrige küssen darf!«

Ich begleitete sie bis zu ihrem Wagen, wartete, bis die Scheinwerfer hinter der Kurve verschwunden waren, und folgte dann langsam der Straße hinauf in den Wald.

Es war eine feuchte, dunkle Nacht.

Ich erschrak bis ins Mark, als es plötzlich dicht über mir, dicht neben mir zu krachen und an mir zu zerren begann. Immerfort schlug mir Schneestaub ins Gesicht.

Ich verließ die Straße und ging in die Finsternis des Waldes ein ...

In spätestens drei Tagen, dachte ich – ja, in drei Tagen kann ich gut daheim sein.

Es dauerte lange, bis ich getroffen wurde. Die Finsternis begann mich an der Kehle zu würgen, mir die Augen einzudrücken. Zuletzt ergriff mich eine wilde Angst, ich rannte, fiel, rannte weiter. Nach einer Ewigkeit tobsüchtigen Laufens, während dessen ich ebenso viel Stürze wie Schritte gemacht hatte, glaubte ich den Umriß meines geduckten Hauses zu erkennen. Im selben Augenblick sauste ich von einem Schlag gegen den Kopf – weit hin zur Seite ...

Barry hatte meinen Schrei gehört, er hatte mich gefunden, ein Stück Weges bis an das abgeschlossene Gartentor gezerrt, dann war er über den Zaun gesprungen und hatte das Haus geweckt. Ich blieb lange bewußtlos, aber das war wohl eine Folge meiner großen Erschöpfung, denn die Kopfwunde erwies sich als ungefährlich.

 

Am Nachmittag reisten Jacquot, Kathrin und Grether Fritz nach Kehl mit der Anweisung, sich dort mit Hilfe Vetter Léos über die Grenze schaffen zu lassen. Ich schloß das Haus ab und machte mich mit Barry auf den Weg zum »Hotel Vogesenblick«. Es war gegen Abend. Im Garten sah es traurig aus. Alle größeren Obstbäume hatten einige ihrer schönsten Äste verloren, viele der jungen und auch die hochstämmigen Rosen waren oberhalb des Baumbandes glatt abgebrochen. Die Tulpen lagen ausgelöscht am Boden.

Durch den erstarrten Wald ging ein Schauer. Die Luft zitterte von einem lauen Atem. Während ich noch draußen im Hofe stand und überlegte, ob ich zwei große Lärchen, die mit ihrer Eislast bedrohlich über dem Stallgebäude hingen, nicht schleunigst sollte fällen lassen – richteten sich die beiden Riesen tropfend und prustend vor meinen Augen auf. Es taute! Ein Regen von Eisstücken fiel von den Bäumen. Der Wald klirrte und sang, so weit das Ohr reichte. Als der erste Stoß des jetzt plötzlich eintreffenden Südwindes die Bäume traf, waren die vereisten Zweige schon halb geschmolzen, der Rest ihrer tödlichen Last ging in Lawinen von Eis und Staubschnee nieder. Nur einige besonders verhärtete Exemplare empfingen vom Wind den Gnadenstoß und weckten mit ihrem Sturz die Erinnerung an den Schrecken der vergangenen Nacht.

In der nächsten Umgebung des Hauses lagen die großen Bäume zu Dutzenden umher, sie versperrten die mit Schnee und Eis bedeckten Straßen. Wir kamen nicht weit. Der Wald, sonst sauber gehalten, fast wie ein Park, war undurchdringlich geworden. Von den Telegraphenstangen war nicht eine einzige stehn geblieben. Die Last der Drähte, von denen jeder eine dreifingerdicke Hülse aus vereistem Schnee trug, hatte sie gebrochen oder zur Erde gebogen. Den Masten der Lichtleitung war es nicht besser ergangen. An manchen Stellen bildeten die auf der Straße liegenden Drähte dicke Knäuel, von denen wir uns fernhielten, als wären es Nester giftiger Schlangen, gleichzeitig mit einem Urwald hierher gezaubert.

Aber schon dröhnte es von Axthieben wie von stockenden Schlägen einer Uhr, die man versucht, wieder in Gang zu bringen. Man sah Männer in Gruppen sich an die Drähte hängen und schreiend im Takte ziehen, während an den aufgerichteten Masten Solisten emporkletterten und, oben angelangt, zu den andern hinuntersangen. Axt und Säge arbeiteten, es roch durchdringend nach frischem Holz. Ein köstlicher Geruch! Erfrischender Weihrauch! Dann wusch ein richtiger Regen den Wald vollends ab.

In der Halle des Hotels »Vogesenblick« stand Herr John Muser, ein vollendeter Edelmann, und empfing die liebsten, die ersten Gäste. Ich war erstaunt, so viel junge Frauen versammelt zu sehn – sie trugen kleine Hüte, kurze Röcke und einen roten Mund. Im Kurpark spielte die Musik. Ein junges, sehr hübsches Mädchen knixte, mit einem, erschrockenen Blick auf meinen Kopfverband. Ach, das war Jacquots Freundin, die kleine Anna Graeßlin, und fünf Schritte weiter stieß ich auf den Baron Breisach, der mich mit überschwenglichem Mitgefühl begrüßte. Ich fand ihn gar nicht so übel, wie die Leute hier ihn haben wollten, ich nahm seine Einladung zum Abendessen mit Freude an und hatte es nicht zu bereuen. Er unterhielt mich vortrefflich, ich erfuhr eine Menge wichtiger Dinge, die ich völlig vergessen hatte – zum Beispiel, daß Lord Berrick meine Schwägerin Pia geheiratet habe und ein glänzendes Haus in Paris führe, daß die deutschen Aktien wackelten, die Bayern darum aber doch ihren König wiederhaben wollten, daß der Adel sich »rücksichtslos« modernisieren müsse, sollte er nicht vor die Hunde gehn – und der Baron verschaffte mir geeignete Leute, die tags darauf in den Dachstock des Waldhauses einzogen.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit Barry über die Schiffbrücke bei Rheinweiler.

Ich sah mich um, ob ich nicht irgendwo an einem Fenster oder im Garten Donja entdeckte. Das Weiße, das meine Aufmerksamkeit fesselte, stellte sich jedoch als der Marmor von Liesel Rheinweilers Grab heraus, das verträumt durch das Parkgitter auf den breit und einsam strömenden Rhein hinabblinzelte. Das geraniumrote Dach des Schlößchens blühte an der Sonne, und seine Hüter, die Pappeln, standen in frischem Laub.

 

Ende


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