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1.

An allen Enden erblühte
Die ewige Musenstadt,
Ein rosiger Zauber sprühte
Vom Garten am Wyschehrad.
Es klangen die Lüfte, die blauen,
Die Moldau rauschte durch's Tal –
Alt Prag, da durft' ich die schauen,
Da war ich Student einmal.

Wilh. Kosch


Im Umkreise der ältesten deutschen Universitätsstadt meldet sich der Herbst an.

Fahlgrün liegt das Tal der Moladau. Abgedeckt ist der üppige Sommertisch der Natur. Aber neues Leben wird in der Stadt der Alma mater.

In die letzten Tage vor Beginn der Einschreibungen schwanken die überfüllten Eisenbahnzüge.

Nährmütter erwarten ihre »Herren« oder tragen sich mit der Absicht, sich einen Ersatz für die im verlaufenen Semester abgegangenen zu suchen, und ab und zu schreitet ein diensthabender »Polyp« mit wichtiger Amtsmiene durch das Gedränge …

Der Zug pustet in den Bahnhof.

Ein plötzlicher Ruck, ein schrilles Pfauchen, die Puffer prallen klirrend und klingend aneinander. Die Schaffner schreien ihre gewohnten Rufe in die Wagen: »Praha – Prag! Aussteigen!« Tschechische Rufe und Reden hallen in den Trubel hinein, werden erwidert. Wer dies Idiom noch nie vernommen, muss die Elastizität und Biegsamkeit der menschlichen Zunge bewundern, die bei solcher Sprache nicht entzwei bricht oder sich zumindest in allerhand Ecken verbiegt.

In hellen Haufen drängen die Reisenden aus den Wagen auf den Bahnsteig und nach dem Ausgange. Ein Drängen und Eilen von Leuten, welche Geschäfte und sonstige Anlässe nach der Landeshauptstadt führen; zwischen ihnen mit freudestrahlenden Gesichtern die jungen Männer, die der Born der Wissenschaften herbeigelockt.

Vor dem Bahnhofe stehen Studenten in größeren und kleineren Gruppen und nehmen ab und zu einen der Ankömmlinge in Empfang. Ihre Zurufe hallen:

»Grüß Gott, altes Haus! … Heil Dir, Heidenbrand! … Heil, Roller! … Mehercule! Na, wenn man Dich aber auf den ersten Blick erkennen sollte! Du hast Dich mal anständig verändert … Ja, man hat's eben nicht leicht … Du hast Dir die Basis für einen Spitzbart angeschafft, Moor? … Gelt, da schaust! … Ist der Schmidt schon hier oder der Schulze? … Du, der rote Hans soll nach Innsbruck gegangen sein, hat man gehört. … Ja, was treibt denn diesen …?«

So fragt, redet, schwatzt alle in wirrem Durcheinander. Fröhliches, übermütiges Lachen schallt dazwischen.

»Ah!« lacht einer hell auf und deutet nach einem Einjährig-Freiwilligen, der der Gruppe zustrebt. »Da schau mal! Sokrates in Waffen! … Na, hör' mal: Du bist wirklich ein ganz lieber Schneck in dieser Kluft, wahrhaftig so eine Art Kriegsgötze …«

»Du, Brandner will als Dissertation eine Untersuchung über den Einfluss der Kasernenhofblüten auf die Kultur der Gegenwart schreiben«, scherzt ein zweiter.

»Wacker! …«

Man schüttelt sich die Hände, und da und dort gibt's einen schmatzenden Willkommkuss. Einige Nährmütter drängen sich dazwischen, die ihren »Herrn« dienstbeflissen das Gepäck aus der Hand winden und andere, welche die Besorgung desselben den auf Verdienst wartenden Dienstmännern auftragen.

»Ich zog, ich zog zur Musenstadt
Mit manchem Lied, valdri, valdra!
Und trank manch' Gläschen zum Vivat.
O Akademia!«

So trällert ein pausbackiger Fuchs in das Gedränge hinein, da er einer Gruppe eben abziehender weißbemützter Ghibellinen zuhastet.

Alles lauter Leben und Hasten, wie es eben die Großstadt mit sich bringt.

Und durch dieses Getriebe und Gedränge zwängt sich ein junger Mann, den breitkrämpigen Filzhut tief ins Gesicht gedrückt und in der Linken ein anscheinend nicht gar schweres Reisekofferchen tragend. Ihn grüßt keiner, ihm bietet niemand die Hand, und keine Frage wird an ihn gerichtet. Nur ein paar dienstbeflissene Hände langen nach seinem Kofferchen, aber er hält es fest und lehnt solche überflüssige Dienstbereitschaft schweigend ab.

Eine wohlgepflegte Anlage dehnt sich vor dem Bahnhofe aus. Das Blattwerk der Hecken schillert schon gelb und rötlich, der kurz geschnittene Rasen, die Blumenbeete und die Bänkchen sind mit einer dicken Staubschicht überzogen, und auf den gelbsandigen Pfaden wandeln Herren und Damen, die augenscheinlich sonst nichts zu tun haben, dahin.

Lässig schlendert er an ihnen vorbei, bis eine ältliche, dickliche Frau ihm entgegentritt und ihn in unverständlichen Worten anredet.

»Das versteh' ich nicht«, brummt er gleichmütig vor sich hin und schlendert weiter, aber die Frau weicht nicht von seiner Seite.

»Sind der Herr vielleicht Student?« fragt sie nachher.

»Ja.«

»Haben Sie schon Wohnung bestellt?«

»Nein.«

»Dann bin ich so frei, Ihnen eine solche anzubieten, wenn … Nun, ansehen können Sie sich die Wohnung ja. Darf ich um den Koffer bitten?«

»Ich danke«, lehnt er ab. »Das Ding ist durchaus nicht schwer, und ich kann es schon selbst tragen … Nein, durchaus nicht schwer.«

»Eine schöne, lichte Wohnung«, redet sie in währendem Gehen. »Wohl etwas weiter draußen, in den Weinbergen, aber schön. In dem Zimmer, das Sie bekommen werden, habe ich durch acht Semester einen feinen Herrn gehabt, und er war sehr zufrieden, sehr zufrieden, bitte. Sein Vater war Direktor eines großen Werkes; aber wie es eben schon geht: die Herren können nicht ewig studieren und müssen einmal fort. … Im andern Zimmer nebenan ist auch ein Student, ein Jurist, ein sehr braver und gemütlicher Herr … Sie, was Ihnen der oft für Dummheiten macht! Tränen muss man lachen. Und ein Zimmer hätte ich noch zu vergeben. Wenn Sie einen Herrn Kollegen hätten … Studieren Sie vielleicht auch Jus?«

»Nein, ich bin Mediziner.«

»Ich habe auch schon Mediziner als Zimmerherren gehabt«, erzählt sie in ihrer Gesprächigkeit weiter. » … Hierher, bitte! … Mein Gott, wenn man schon so lange Witwe ist! Wissen Sie: Mein Seliger war Kanzlist beim Bezirksgerichte. Da ist halt die Pension etwas schmal, und deshalb nehme ich Studenten ins Quartier. Die Herren müssen doch irgendwo Wohnung und auch Kost haben, und bei mir sind Sie sehr gut aufgehoben, sehr gut, bitte. Sie werden wohl auch im Hause essen? Wissen Sie: gut bürgerliche Küche … ein Saufressen, sagt Herr Köhler immer, wenn es ihm recht geschmeckt hat …«

Sie kommen durch einige belebte Gassen, und sie muss ihrem Redebedürfnis Abbruch tun, bis es wieder etwas stiller wird um sie her.

»Es hat noch jeder der Herren gesagt, dass es ihm hier draußen lieber ist als in den Gesäuse und Gepolter weiter drinnen«, lobt sie die Gegend, wo sie der größeren Billigkeit wegen wohnt. »Es ist viel ruhiger, und es kann einer lernen und studieren, so viel ihm gefällt, und er wird nicht gestört. Und gar so weit ist es ja doch nicht zur Universität, zumal eins mit der Tramway in ein paar Augenblicken durch die ganze Stadt fährt. … So, bitte, hier!« Sie deutet nach einem einfachen, einstöckigen Hause mit breitem Tore und niedrigen Fenstern. »Gehen Sie nur immer voraus! Die Stiege rechts hinauf!«

Und er geht voraus und tappt die enge, düstere Stiege hinauf.

Nahezu am Ende des Verbindungsganges im ersten Stocke fliegt plötzlich eine Tür sperrangelweit auf, und ein untersetzter, stark zur Dicklichkeit neigender junger Mann in Hemdsärmeln, die schwarze Mütze weit ins Genick zurückgeschoben und eine lange, qualmende Spießpfeife in Mund und Hand, tritt heraus.

»Doch einen geangelt, Frau Wawerl?« fragt er, behaglich lächelnd, und musterte den Ankömmling mit kundigem Blicke. Sie heißt eigentlich Wawra, Frau Wawra oder auch Frau Kanzlist Wawra, aber seit langen, langen Jahren nennen sie »ihre Herrin« immer Frau Wawerl. Wer weiß, wer den Namen zuerst aufgebracht, aber er hat sich von einer »Generation« auf die andere vererbt, und heute steht er so fest, als wäre er Gott weiß wo amtlich festgelegt worden. »Na, schön«, fährt der Dickliche nach kurzer Pause fort, »freut mich massenhaft, dass ich für diesmal doch nicht so ganz solo hausen muss in dieser Höhle. … Wissen Sie, ich habe schon gefürchtet, Sie spürten gar keinen mehr auf. … Aber nur nicht locker gelassen! Es muss der Dritte auch schon noch herbei. Sie wissen ja: Tres faciunt erst ein collegium. … Edurard Köhler, Jurist«, stellt er sich darauf dem Neueinrückenden vor und bietet ihm etwas förmlich die Hand zum Gruße.

»Melcher Maier, Mediziner.«

»Melcher – Maier – Mediziner«, wiederholt der Dickliche bedächtig und sinnend, und dann gleitet plötzlich ein schalkhaftes Lächeln über sein Gesicht. »Das ist gut: M, M, M. Wirklich gelungen. Wohl geradewegs vom Gymnasium her?« forscht er darauf weiter. »Ein bisschen später angefangen oder ein Weniges gründlicher gekümmelt, als dies sonst unter gemeinem, nur auf möglichst rasches Emporkommen bedachtem Packe üblich ist? Was?« fragt er so nebenbei, das der Mensch nicht gerade mehr sehr jung aussieht.

»Durchaus nicht. Habe bereits acht Semester in Wien.«

»Acht Semester? Heil! … Na, ein verzweifelt vernünftiger Gedanke, sich einmal Praha von in- und auswendig zu besehen, ehe man den Ribikon überschreitet. Das Nest ist nämlich in gar mancher Beziehung einzig. …«

Frau Wawerl hat derweilen das Zimmerchen nebenan aufgesperrt und das Handkofferchen hineingetragen. Über die Miete sind beide Teile bald im Reinen, besonders da der Dickliche beide Teile eindringlichst zur Vernunft mahnt. Und dazwischen ordnet er, was seiner Ansicht nach hier oder dort fehlt oder nicht nach seinem Geschmacke geordnet ist.

»Bücher und ähnliches Zeug haben Sie nicht?« fragt er nachher einmal, da ihm das Gepäck doch etwas zu dürftig vorkommt.

»Dies alles ist in einem Holzkoffer verpackt, der aller Wahrscheinlichkeit nach schon auf der Bahn zu kriegen sein dürfte.«

»Dann besorgen Sie rasch einen Menschen, der das Ding herschleift!« trägt der Dickliche Frau Wawerl auf und lässt sich behäbig auf das ächzende und in allen Fugen und Federn knackende Sofa nieder. »Derweilen plaudern wir ein Weilchen … Was macht der Herr Papa? … Was treibt die Frau Mama?« lacht er heraus und bläst einige dicke Rauchwolken gen die schon ziemlich angeräucherte Zimmerdecke.

Und sie plauschen und plaudern von dem und jenem, bis der Dienstmann die Holzkiste bringt, in der all die Habseligkeiten verpackt, die ein von Haus aus blutarmer Student mit sich führt. Dann wird. Dann wird alles so rasch und gut als möglich zurecht gerichtet und geordnet, und des Dicken fast nie versiegender und versagender Humor schafft sich Raum nach Lust und Gefallen.

»Und jetzt sehen Sie sich man die Bude an!« fordert er auf, als das letzte Stück an seine Stelle gebracht. »Ach was! Wozu sollen wir uns lange mit diesem ledernen Sie und mit allem möglichen Förmlichkeitskrame herum schinden? Ein Spezielles, wenn es Dir recht und angenehm ist … Das heißt: das Spezielle wird gelegentlich nachgetragen … Nur keine Komplimente, Zeremonien und Förmlichkeiten! Die feierliche Weise dieses Freundschaftsbundes erfolgt selbstverständlich in tunlichst nächster Zeit, in unserem geliebten Amtsdeutsch gesprochen … Ja, von der Bude war die Rede. Ein Ideal einer Bude, sage ich Dir. Pfeifengestell, Bücherbrett, im Hofe hinten ein Kehrichthaufen und die Eingangspforte zum Lokus, daneben die Wohnung eines täglich nur einmal besoffenen Werkelspielers, sonst aber Ruh' und Frieden … Mensch, was verlangst Du noch mehr? Wo fändest Du im ganzen Neste auch nur ein annähernd gemütliches Loch? Und Frau Wawerl ist überhaupt die beste und fürsorglichste Kostschachtel der ganzen Stadt, das kann ich Dir versichern, sooft Du es begehrst … Aber jetzt rüste Dich zum Ausgehen! Wir machen so eine Art Orientierungsflug durch das Nest. Vor allem werde ich Dir den heiligen Born zeigen, daraus der Weisheit Quell fleußet in armsdickem Strahle, die Amtsräume, darin die nach Wissen durstenden Jünglinge verzeichnet werden nach Fakultät, Namen und so weiter und dies und jenes, und – last not least – Germania, Studentenheim, Mensa akademia und unsere Bude. Du wirst doch auch Asgarde, was?«

»Ich weiß nicht«, flüchtet Maier aus, und sein Gesicht wird einen Schein röter. »Ich habe bislang noch keiner Verbindung angehört …«

»Mensch! Und bei diesem Geständnisse schlägst Du nicht tief zerknirscht an Deine Brust? Acht Semester … acht Semester und … keiner Verbindung angehört, sagst Du!«

»Meine Mittel … sind … recht karg«, erklärt Maier. »Das heißt, ich muss mich sogar mit Stundengeben durchschlagen.«

»Das müssen mehr tun«, tröstet und beruhigt Köhler, aber sein Gesicht ist viel ernster als vorhin. Bedauerliche Kerle, die auf solches angewiesen sind und ihre schönste Zeit mit anderer Leute Kindern verärgern müssen. »Hast Du schon irgendwo …?«

»Nein. Vielleicht aber kann mir einer der Professoren …«

»Unsinn! Die Herren thronen in der Regel hoch im Olymp und … und wozu hätten wir überhaupt Studentenheim, Germania und so weiter? Sorge Dich nur nicht: Es wird sich schon etwas finden … Warum aber bist Du nicht in Wien geblieben? Dort hättet Du vielleicht früher …«

»Dort stand ich genau vor derselben Türe. Die Herrschaft, bei der ich Stunden gab, ist nach Brünn verzogen, und ich hätte ebenso nach einer neuen Stunde suchen müssen wie hier.«

»Dann ist die Geschichte eigentlich egal gleich«, meint Köhler in der Sprechweise der Sachsen. »Na, es wird sich schon etwas finden lassen. Und dann wirst Du aber Asgarde? … Die paar Semester, wo sich eine von Rechtswegen als freier Mensch fühlen darf, sind im Nu dahin, und das Philstertum mit seinen Rücksichten und Einschränkungen und mit seinem Mustermenschentume ist noch immer gewiss. … Also: Wenn wir etwas Passendes finden …«

»Wenn ich so viel verdiene, um …«

»Unsinn! Du hast entschieden keine Ahnung von der ganzen Sache. Es gibt genug Leute bei Verbindungen, die durchaus keine Nabobs zu Vätern haben … Also wir kommen noch darauf zurück. Streusand drüber! … Jetzt gehen wir.«

Er nimmt in seiner Bude das Band über die Brust, zieht die Joppe an und rückt die Mütze zurecht, und dann gehen sie.

Sie schlendern gen den ehemaligen Rossmarkt herab, der heute Wenzelsplatz heißt, und Köhler macht Maier auf den Prachtbau des Landesmuseums aufmerksam, von dessen Freitreppe man links und rechts je einen Morgenstern aufgepflanzt, wohl um den Einfluss derselben auf die »böhmische Kultur« zu versinnbildlichen, und an dem höchst wahrscheinlich zum Zeichen der Zweisprachigkeit eine lateinische Überschrift prangt: Museum regni bohemiae.

Der Wenzelsplatz ist vielmehr der schönste Platz der ganzen Pragerstadt, und trotzdem alles und jegliches tschechisch redet, schwatzt und schreit: die deutsche Vergangenheit der Stadt drängt sich bei jedem Schritte dem Beschauer zur Wahrnehmung auf. Prag war einmal zum großen Teile deutsch, und dieses War ist nicht mit Meißeln wegzubringen, so sehr sich auch tschechischer Größenwahn und ekliges, anwiderndes Renegantentum breiten und spreiten. Auf jedem zweiten oder dritten Auslagenschilde prangt ein ehemals deutscher Name oder vielmehr der Name einer ehemals deutschen Familie, aber »man« ist jetzt überall tschechisch, und nur wenn es Geld gibt, kann man deutsch.

Am »Graben« aber vergisst man am frühesten, dass man sich in der Hauptstadt der »Länder der heiligen Wenzelskrone« befindet. Hier wird zumeist deutsch geredet, und hier sammelt sich alles, was deutsch ist in Prag zum Stelldichein und zu gemütlicher Schlenderstunde.

Auf dem Obstmarkte steht das alte deutsche Theater und daneben der interessante Bau des sogenannten Karolinums mit schöner Erkerkapelle, und alles und jegliches gemahnt der Zeiten, wo dieses Prag einmal der Sitz der deutschen Kaiser war.

Wie Schatten aus längst entschwundenen Zeiten ragen herüber in die Gegenwart das alte Rathaus am Altstädter Ring mit seiner von deutscher Hand gefertigten Kunstuhr, die Gegend »am Teyn«, der Riesenbau des Klementinums, die Brückentürme und dies und jenes.

Maier schaut und staunt an der eigentümlichen, altehrwürdigen Schöne dieser Stadt, und als sie später oben stehen am Hradschin, vor dem ehemaligen Königsschlosse, und das hundertjährige Prag, das böhmische Nürnberg, zu ihren Füßen ausgebreitet liegt, entringt sich dem Neulinge, dem Fremdlinge, ein sonderbarer Ausruf: Wie schön, wie herrlich wäre diese alte, deutsche Stadt, wenn … sie noch deutsch wäre!«

Ja, wenn!

Sie steigen wieder hinab zur Kleinseite und schlendern hinüber in die Neustadt, zurück zum Wenzelsplatz und in die Krakauergasse, wo die »Germania«, der Lese- und Redeverein deutscher Hochschüler in Prag, ihren Sitz hat. Es sind nur wenige Studenten vertieft oder in die Lektüre dieses oder jenes Buches, und solches macht auf Maier unwillkürlich einen günstigen Eindruck.

»Ursprünglich war die ganze deutsche Studentenschaft in der »Rede- und Lesehalle« vereinigt«, erklärt Köhler. »Nachdem aber dort die Hebräer zu üppig geworden, hat sich die nationale Studentenschaft weggezogen. In exitu Israel de Egypto … Hier war es aber gerade umgekehrt. Israel ist geblieben, und die Arier sind ausgezogen und haben die Germania gegründet. Hier findet jedweder sein Leibblatt, hier hat einer Meinungsaustausch mit Gleichgesinnten oder Ansichtsgegnern, unsere Bücherei zählt schon über zehntausend Bände, und mancher kommt daher zur Winterszeit, um daheim Feuerung zu sparen. Ein wahrer Segen, sage ich Dir … Warte! Dort seh' ich gerade einen, der vielleicht von irgendetwas wissen dürfte, was Du suchst … Einen Augenblick!«

Und er steuert auf einen los, der an einem Ecktischchen sitzt und in einem Hefte schreibt. Ein Weilchen reden alle beide, einige Blicke gleiten zurück zu dem fremden Neulinge, und dann schneidet der am Ecktischchen Sitzende ein Zettelchen zurecht und wirft ein paar Zeilen darauf.

Als Köhler mit dem Zettelchen zurückkommt, nickt er ein paar Male langsam vor sich hin. »Etwas haben wir vorläufig«, sagt er, »wenn auch möglicherweise nicht gerade das Beste. Aber selbst der Teufel muss nach einem alten Sprichworte zu Zeiten Fliegen fressen … Es wird für einen ins schulpflichtige Alter kommenden Rangen einer gesucht, der ihm die Unterschiede zwischen i und n und so weiter beibringt. Die Besitzerin dieses Rangen ist die Witwe eines protzigen Großhändlers, und sie verlangt natürlich einen – Erzieher. Wie eben diese Protzen schon sind! Es mag vielleicht nicht gerade die verlockendste Stellung und Arbeit sein, aber – wie gesagt: In der Not und so weiter … Hier hast Du Namen und Wohnung verzeichnet, und es wird vielleicht gut sein, wenn Du Dich bald vorreitest, um die Stelle bittest und nach Erhalt derselben fußfällig dankst, dass Dir die Ehre zuteilgeworden, eine zukünftigen Schmierhändler oder dergleichen in die Grund …. Ah! Viel Glück!« bricht er dann kurz ab. »Wart! Da fährt mir wieder einer durch die Quere.«

Und er eilt, so behände er es vermag, einem in denselben Farben prangenden Kommilitonen nach, dessen linke Wange eine ziemlich derbe Narbe – ziert. Ein Weilchen reden die beiden mitsammen, und als er wieder zurückkommt, mutmaßt er, dass wahrscheinlich Frau Wawerl auch noch den vielbegehrten Dritten bekommen werde und dass sowohl auf die in Aussicht stehende »lukrative« und ehrenvolle Stellung als Erzieher eines zukünftigen Schmierhändlers als auch von wegen des zu erhoffenden Dritten, und Drittens und ganz besonders zur Einfeuchtung des noch ganz jungen Freundschaftsbundes eigentlich »eine« getrunken werden könnte.

Maier will für die ihm so gelegen gekommene Stellenvermittlung danken, aber Köhler wehrt fast barsch und rau ab.

»Unsinn! Wir sind doch keine Gefühlslappen«, stellt er vor. »So etwas ist ganz selbstverständlich.«

Sie gehen durch ein Durchhaus in die Smetschkagasse hinunter in das Heim des deutschen Handwerkervereins, in dessen Gastlokalitäten nur deutsche Gäste verkehren und wo eine Menge Burschenschaften und akademische Verbindungen ihre Buden haben, und trinken einen Frühschoppen.

An einem der vordersten Tische sammeln sich einige Ferdinanden zum Mittagessen, und in einer Nische sitzen ein paar blaukappige Arminen offenbar in derselben Absicht. Köhler kennt schier die meisten dem Namen, der Fakultät und der Heimat nach, und von manchem weiß er auch dies oder jenes schnurrige Stücklein zu erzählen, indem er Wahrheit und Dichtung recht wirkungsvoll abzustimmen versteht.

Noch ehe sie zum Mittagessen heimgehen, hat Maier von dem liebenswürdigen Zimmernachbar alles für ihn vorläufig Wissenswerte über die Universität, ihre Angehörigen und über die ihm bislang nur dem Namen nach bekannte Stadt erfahren, denn Köhler hat riesige Ortskenntnisse. Er hat aber auch gewissermaßen durch dessen Vermittlung die Anweisung auf eine Stelle als Hauslehrer in der Tasche, die ihm voraussichtlich doch so viel einbringen dürfte, sich dieses Jahr noch durchs Leben und durch die Zeit zu schlagen.

Was kann einer von einem einzigen Vormittag mehr verlangen?


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