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Es liegt eine Leier im grünen Rhein,
Gezaubert von Gold und von Elfenbein,
Und wer sie erhebt aus tiefem Grund,
Dem strömen die Lieder begeistert vom Mund.
Im Lesezimmer der »Germania« sitzen an allen Tischen und Tischchen Studierende der verschiedensten Couleurs und lesen, schreiben oder exzerpieren, und die Eifrigsten und Fleißigsten haben sich in irgendeinen stillen Winkel zurückgezogen, um ja recht ungestört zu sein.
An einem der vordersten Tischlein sitzen ein paar Asgarden. Einige lesen die Blätter der Heimat, andere vertiefen sich in Politik, und noch andere stöbern Fachartikeln nach; aber Hacker liest den »Hausfreund«, eine illustrierte Halbmonatsschrift, die schon lange sein Leibblatt ist.
Plötzlich aber fährt er ganz überrascht auf.
»Da soll doch schon das Mauserl dreinfahren! Es werd wahrhaftig immer zünftiger in diesem Sauneste …«
»Was … begeistert denn Dich zu solcher … Prosa?« fragt Träger über den Tisch und seine Zeitung hinüber.
»Hilarius von Kauffungen! Beim Tor! Wenn der nicht unser Kunzlein ist, dann soll ich fürder Esther heißen«, vermisst er sich.
»Was ist's mit dem?« fragt Werner vom andern Tische herüber.
»Der Kerl dichtert.«
»Kunz dichtert? … Steht es vielleicht in Deinem Hefte? … Zeig!«
Und nun stecken alle die Köpfe zusammen und schauen an dem Gedichte, das schwarz auf weiß in den Hefte steht und bei dem ein gewisser Hilarius von Kauffungen als Verfasser und Autor angegeben, und dann liest Hacker mit schwungvollem Pathos vor:
Gegen Himmel blickt Dein Auge,
Zu den Sternen licht und klar,
Will's verwinden und vergessen,
Was auf Erden trübe war.
Zu den Sternen schaut Dein Auge,
Wenn es hoffet, wenn es sehnt,
Wenn das Herz in seinem Drängen
Keinen Pfad zu finden wähnt.
Zu den Sternen schau' Dein Auge,
Wenn ein fest und sicher Ziel
Du dem Wollen vorgestrecket
Und – Du irrest nie recht viel.
»Ssst!« macht Werner. »Der sitzt … Ei, Du verzweifelter Duckmäser! Das ist wirklich gut.«
»Sehr gut«, urteilt auch ein morzlanger Albe, der zugehört. »Was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten.«
»Wo ist der Mensch, dass ich ihn umarme?«
»Gerade vorhinhat er sich noch dort hinten herumgetrieben …«
Doch Ritter hat sich bescheidentlich verfrachtet, als er Hackers Ausruf vernommen. Wozu diese Beifallskomödie, in die sich aller Voraussicht nach einige mehr oder minder gelungene Witze mengen dürften, die seiner mächtigen Freude gerade nur Abbruch tun würden. Er ist weder zum Anhören von Beifall noch von Kritiken aufgelegt; er ist einfach mit sich selbst zufrieden, soweit er es seiner Lage nach sein kann.
Durch all die Freude des Erfolges und des Sichgedrucktsehens ist's ihm doch immer und allzeit, als wäre in seiner Weise irgendein boshaft Getier, ein Hornis, ein Skorpion oder ein ähnliches, giftstacheliges Vieh eingenäht und verborgen, und dies steche und bohrte immerfort nach seinem Herzen und ließe ihm keine Rast und keine Ruhe Tag und Nacht …
Seit ihm Maier seine Neigung für Schröders blinde Schwester ins rechte Licht gerückt, hat sich Verschiedenes in seinem Denken und Sinnen verwandelt. Er ist seither nimmer zu Schröders gegangen, und die leicht genommene Zuneigung ist allmählich verblasst; an ihre Stelle ist aber eine mächtige Leidenschaft getreten, die er desto unangenehmer empfindet, je klarer er ihre Törichtheit einsieht, und je barscher das Gebot und die Notwenigkeit des Entsagens ihr entgegentreten … Das Ganze ist eine Jugendeselei erster Güte, und es ist höchste Zeit, sich mit ihr abzufinden und sich ihrer nach Kräften zu entledigen, aber … je klarer er dies sieht, desto schöner, strahlender und begehrenswerter stellt sich das Bild des unglücklichen, blinden Mädchens vor seine geistigen Augen, und desto heftiger flammt und lohet die Leidenschaft in seinem Herzen auf, und es beißt, zwickt und krabbelt in seiner Brust, als wären Tausende von Ameisen darinnen … Wenn sie nicht blind wäre! … Ja, wenn! Diese Bedingung ist aber einmal gegeben, und es ist zu rechnen mit ihr. Kein Wenn und kein Aber helfen über diese Tatsache hinaus, nicht ein kleines Teilchen eines lichten Strahles fällt in das Düster der vor ihm liegenden Aussichts- und Hoffnungslosigkeit, und es bleibt für ihn kein anderer Weg, als allmählich zu vergessen und zu entsagen, geht dies, wie es gehen möge … Es muss sein.
Und das Quälen der Leidenschaft, die ihn umgebende sternlose Nacht der Hoffnungslosigkeit und die zwingende Notwendigkeit des Entsagens und Vergessens lösen in seinem Sinnen und Sehnen eine Fähigkeit aus, an die er nie gedacht, die er nie gesucht in sich und der er noch keinen kurzen Augenblick Zeit gewidmet all sein ganzes Leben lang: Es zwingt und zwängt ihn gewissermaßen mit unheimlicher Gewalt, sein Sehen und Fühlen, sein Sinnen und Kämpfen in Verse und Reime zu schmieden und darin den Überdruck in seinem Herzen teilweise abzuleiten.
Ein winzig Steinchen mag oft der besten und stärksten Quelle den Austritt ins Tageslicht verstopfen, und ist das Steinchen weggeräumt, sprudelt der Bronnen aus der dunklen Erde, hell und klar und ein Labsal für alle, die sein Wasser kosten; ein Talent schlummert und schläft in manchem und harrt des Weckrufes, und der nichtigste und leidlichste Umstand kann diesen bringen und die Gottesgabe auslösen zur Entfaltung ihrer vollen Kräfte.
Im Anfange hat er seine von schwarzgalligem Pessimismus strotzenden Verse nur aufs Papier gebracht, um sein Herz zu erleichtern und sich in stiller Einsamkeit daran erfreuen zu können. Allmählich aber hat er sich zu etwas ruhigerer Auffassung der Lage aufgerafft, und plötzlich einmal ist der Wunsch in seinem Kopfe aufgedämmert: Wenn dies Geisteskinder gedruckt wären!
Da ist ja schließlich leicht zu helfen. Deswegen sind die Redaktionen und Redakteure auf der Welt, und beide müssen froh sein, wenn sie etwas zugesandt erhalten.
Er hat daraufhin hier und dort angeklopft und seine Geisteskindlein wohlverpackt vorgestellt, aber … es muss eine scheußliche Schlamperei herrschen in so einer Redaktion. Manche der geehrten Schriftleitungen sind ihrer Angabe nach mit Manuskripten, besonders mit lyrischen Sachen überhäuft, so dass sie für Jahre keinen weiteren Bedarf haben, manche müssen aus demselben Grunde nur augenblicklich und mit größtem Bedauern ablehnen, und manche gar tun die Sache einfach mit ein paar beißenden Witzen und Wendungen im Briefkaste ab.
Aber endlich hat es ihm doch geglückt; der »Hausfreund« bringt das ihm übersandte Gedicht …
Das Belegblatt, das er bekommen, hat er wohl fünfundzwanzigmal hintereinander durchgelesen. Eine Freude hat mit einem Gusse sein Herz erfüllt, dass er gemeint, er könne ihrem Wogen und Wellen die Brustwandung auf die Dauer gar nicht widerstehen und es müsse einmal zu knacken und zu brechen anfangen im Gerippe des Brustkorbes, wie wenn gärender Most die Reifen des Fasses sprenget.
Und an diesem Tage wähnt er die ganze Welt von eitel Morgenrot und Sonnengold überstrahlt, selbst die kaltnüchternen Wände des Hörsaales.
Trotzdem aber fühlt und spürt er das unheimliche Stechen und Zwicken in seiner Brust, und von Zeit zu Zeit taucht in seinem Erinnern ein zauberhaft schönes Mädchenbildnis auf und strebt seine Freude zu verdrängen.
Die Sache muss eine andere Wendung nehmen, geht es nun so oder so. Und wenn es sich partout nicht anders machen lassen sollte, so geht er eben mit Beginn des nächsten Semesters irgendwo anders hin. Es gibt ja gottlob mehr Hochschulen, an denen einer seinen Studien obliegen kann, und … andere Städtchen, andere Mädchen. Da muss sich einer eben ganz auf den Boden des Realismus stellen, wenn er mit anderen Mitteln gegen seine Ideale nicht aufzukommen vermag. Und … das wird er auch tun.
Er will einmal nach dieser Richtung hin Ruhe bekommen.
Ruhe! Ja, wenn er wenigstens die Freude an seinem Erstlingserfolge ungeschmälert und unverbittert genießen könnte!
Eine Weile schlendert er ziel- und planlos durch die Gassen und Straßen der Stadt dahin, bleibt ab und zu vor einer Auslage stehen oder grübelt, was er wohl heute anfangen werde, um diesen denkwürdigen Tag gebührend zu feiern.
Er kommt in die Nähe des Kreuzherrnstübels, gegenüber dem Westportale des Klementinums, einer vollständig fensterlosen Bude mit gutem Bier und größter Einfachheit, und es zieht ihn hinein, seine Freude mit einem guten Tropfen zu begießen. Im eigentlichen Ausschankstübchen sitzen Arbeiter und lärmen und schreien in ihrer lebhaften Weise, und im »Extrastübel« hocken einige Spieß- und Pfahlbürger und politisieren, dass es nur so eine Art hat. An einem der kleinen Tischchen haben sich ein paar Finken versammelt, und ganz hinten in der Ecke sitzt Oskar Winter, der Rodensteiner, führt da hier gebräuchliche Krügel aus weißem Milchglase fleißig zum Munde und stiert dazwischen in einer Weise vor sich hin, die man sowohl für tiefes Sinnen als auch für gedankenloses Vorsichhinbrüten nehmen und ansehen könnte.
Ritter sieht ihn nicht gleich und will sich schon zu den Finken setzen, deren er einige aus dem Hörsaale kennt, aber da ruft ihn der Rodensteiner.
»Kunz! Kunz! Verraubrittertes Luder! Da kommt man her!«
Und Ritter kommt hin zu ihm, schlägt aber gleich vor, die Herren gegenseitig vorzustellen, um eine etwas größere Korona zusammen zu bringen.
»Meinetwegen«, knurrt Winter und rührt sich nicht von seinem Platze.
Ritter stellt die Finken und Winter in aller Form vor, und dann setzt man sich zusammen, das heißt, in die Ecke, in der der Rodensteiner sumpft. Man ist bald bekannt und befreundet, das Bier ist gut, und die Späße und Witze sprühen, und der Rodensteiner verfügt über eine gehörige Menge krenbeißenden Galgenhumores, dessen jedes Wort zündet. Und so trinkt, scherzt und lacht man dahin, bis der Wirt die Bude sperren muss nach kreuzherrlichem Auftrage und die Gäste ganz moralisch sachte an die Luft gesetzt werden.
Was nun? Heimgehen?
»Ich hab' meine richtige Bettschwere noch nicht«, erklärt der Rodensteiner.
»Mensch, Du bist ja auf dem besten Wege, Deinem Namenspatron alle Ehre zu machen«, entsetzt sich Ritter fast.
»Geht Dich gar nichts an«, knurrt der Rodensteiner. »Chacun à son goût. Man ist so schön beisammen, und es ist gar noch nicht einmal Mitternacht. Was soll man anfangen?«
»Zum Schwapper!« rät einer der Finken.
»Wird kein Platz sein.«
»So meinetwegen irgendwo anders hin.«
»Ich weiß eine Bude, die gerade wie geschaffen ist zum Sumpfen«, erklärt ein anderer Finke.
»Also: Man los!«
Und sie setzen sich unter der Führerschaft dieses budenkundigen Finken in Bewegung.
»Ich ginge schon am liebsten heim«, meint Ritter, da sich der Rodensteiner etwas gewichtig an seinen Arm hängt. »Morgen braucht man im Kolleg wieder all seine fünf Zwetschgen …«
»Unsinn! … Übrigens … wenn Du willst, ich … ich komme auch ohne Dich auf meine Rechnung.«
»Mensch, Dich beißt etwas«, mutmaßt Ritter gelinde.
»Meinst Du?« lacht Winter hart und rau auf. »Und was wär' es, wenn mich etwas beißen würde? Wen ginge es etwas an?
Und sollt' ich auch dereinst
Noch in der Hölle wimmern,
So hat sich doch kein Mensch,
Kein Mensch darum zu kümmern.
… Aber Du hast ganz richtig bemorken, Füchslein: Mich beißt etwas«, gesteht er nach einem Weilchen. »Und abscheulich beißt und drückt es mich, und ich kann's nicht losbringen und kann mit meinem Dickschädel nicht darüber hinwegkommen … Gelt, das ist dumm, wenn ein ausgewachsener Christenmensch noch nicht vernünftiger ist«, lacht er nachher bitter. »So sumpft man halt. Was liegt denn daran?«
Ritter sinnt ein Weilchen nach einer Deutung dieser Reden und klopft gelegentlich noch ein Weniges an den Busch, aber Winter verrät nichts weiter.
Man findet die Bude, zecht, schwatzt, lacht und singt, und als Köhler frühmorgens erwacht, hört er auf der Stiege Gepolter, Lärm und Fluchen.
Was ist denn da schon los in aller Herrgottsfrühe?
Er zieht sich in aller Eile an und summt dabei das erstbeste Liedchen, das ihm zu dieser Gelegenheit passend dünkt:
»Es regt sich was im Odenwald, rum, plum plum,
Und durch die Wipfel hallt's und schallt, rum, plum, plum
Der Rodenstein, der Rodenstein zieht um, zieht um.«
Auch Maier fährt aus der Bude und streckt gleich dem total bekohlten Ritter die Hand entgegen, um ihm über die letzten Stufen der Stiege heraufzuhelfen.
»Na, was ist denn los mit Dir? … Herrgott ist der Kerl geladen! Wie ein Heuwagen … Na, reich' mir die Hand, mein Leben … Tu' die Pfote her! So! Und … hops! Jetzt stehst Du wenigstens auf ebenem Terrain.«
Derweil kommt auch der Dicke heraus und schlägt gleich die Hände zusammen vor Staunen und Verwundern.
»Füchslein, Du machst Dich«, lacht er hell auf, als er den Zimmernachbar wie einen steifen Besenstiel an der Wand lehnen sieht. »Das nenne ich gründliches Quellenstudium. Wo bist Du denn gewesen?«
»Mmm!« macht es Ritter, und das ist ein genügend deutliches Zeichen, dass er sich heute auf keine weitläufigen Erörterungen einlassen will.
»Poeta cornutus …«