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2.

Die Zeit ist schlecht, mit Sorgen trägt
Sich schon das junge Blut;
Doch wo ein Herz voll Freude schlägt,
Da ist die Zeit noch gut.


Gleich nach dem Mittagessen macht sich Maier auf den Weg, sich bei dieser Frau – Salzer vorzustellen und sich für die Stelle des gesuchten Hauslehrers in Vorschlag zu bringen.

Die ganze, genaue Adresse steht wohl auf dem Zettel, den man ihm in der Germania gegeben, aber er sucht und irrt geraume Weile durch das Gassengewirr dahin, zumal er keinen der ihm unverständlichen Gassen- und Straßennamen enträtseln kann.

Der hochweise Rat der Stadt Prag hat nämlich in erleuchteter Stunde einstmals den vaterlandsrettenden Beschluss gefasst: Prag ist eine tschechische Stadt, und die Aufschriften müssen auch tschechisch sein, damit man dies wenigstens daran merkt. Und dabei gibt es in Prag, in dieser tschechischen Stadt, deutsche Straßen- und Gassennamen, die sich nicht einmal ins Tschechische übersetzen lassen. … Es gibt Leute und Völker, denen eine Art Jungekuckuckstugend sozusagen ein Bedürfnis ist, und – Dankbarkeit wär' eine Zier, doch weiter kommt man, – ohne ihr.

Er geht daher einige Male irre und muss alle Augenblicke einen diensthabenden »Polypen« fragen, bis er sich endlich doch so weit oder vielmehr so nahe angefragt, dass er in der bezeichneten Gasse steht und nur mehr die Hausnummer zu suchen hat.

Ein wohlgepflegter Garten zwängt sich in die Häuserfront, ein zierliches Eisengitter mit vielfach vergoldeten Lanzenspitzen schließt ihn gen die Straße zu ab, und über der Eingangspforte steht die gesuchte Hausnummer in knallroten Ziffern auf weißem Grunde: 23.

Also hier!

Er langt nach dem Drücker der Pforte, aber das Türlein geht nicht auf. So tippt er dann an einem daneben befindlichen elektrischen Drücker, und bald darauf erscheint ein dienstbarer Geist, fragt nach Begehr und Wollen und meldet sodann, dass die gnädige Frau erst in etwa einer Stunde zu sprechen sein dürfte. Er möchte daher um diese Zeit wieder vorsprechen.

So geht er denn derweilen etwas spazieren und will Entdeckungsreisen machen in die Stadt, die ihm eine terra incognita ist. Vorsichtshalber merkt er aber genau auf, wo er hin schlendert und wohin er wieder zurück muss, denn aufs Suchen von Straßennamen kann sich da ein Deutscher nicht verlassen.

Um ihn her wogt und pulset das Leben der Großstadt, Lastwagen ächzen schwerfällig dahin, leichte Kutschen rollen dazwischen durch, und Leute hasten hin und wider und reche, schwatzen und schreien, und er ist auch ein Mensch und versteht von alledem nicht eine Silbe.

Unwillkürlich fällt ihm ein, was er als kleiner Bub in der Schule gehört und gelernt vom Turmbaue zu Babel und der Verwirrung der Sprachen, und ebenso unwillkürlich ruft diese Erinnerung andere Erinnerungen aus derselben Zeit in seinem Sinnen wach, und er hängt diesen nach …

Ja, dieselbe Zeit! Wie ein taufrischer Maienmorgen deucht sie ihn: Kein Wölkchen am Himmel und alles lauter Licht und Sonnenschein, die ganze Welt voll Blumen und Blüten und an jedem Grashälmchen ein in allen Farben schillernder und funkelnder Edelstein … Ja, diese Zeit! Wenn oftmals einer sie wieder zurückrufen könnte! Aber sie vergeht und schwindet dahin wie der Tau auf Gas und Geblume, und dann – ja, dann kommen halt andere Zeiten. Auch ihm ist sie entschwunden wie ein seliger Traum, und als er noch lange nicht daran gedacht, dass eine andere Zeit auch kommen könne, ist unversehens der Tod in die niedrige Stube seines Vaterhauses getreten, hat den Vater aufs Totenbett geworfen und ihn mit rauer Hand aufgerüttelt aus dem sich nur langsam und unvermerkt verflüchten wollenden Traume: Melcher, jetzt fängt ein ander Liedel an.

Sie sind herumgestanden um die Leiche des Vaters, die Mutter, er und die kleineren Schwestern und haben gejammert und geflennt und dazwischen selbst dem Herrgott Vorwürfe gemacht, warum er es zugelassen, dass gerade ihr Vater hat sterben müssen. Aber das Flennen hat nichts genutzt, und das Jammern und die Vorwürfe haben nichts geändert. Am dritten Tage nachher sind die Leute gekommen und haben den Vater in eine schmale, lange Truhe gelegt und fortgetragen in den Freithof.

Es ist aber auch ein Vetter aus Wien gekommen, der eine hohe Anstellung hat haben sollen, wie die Leute selmal gesagt, und der hat sie und die Mutter getröstet nach Kräften. Aber welcher Trost vermag zu solcher Zeit zu verfangen? Man ha ihn reden lassen und sich gedacht, dass all der Trost nichts zu ändern vermöge an dem Unglücke und dass all die schönen Reden lediglich für den Augenblick berechnet sind.

Aber wie dieser Vetter fort ist, hat er zur Mutter gesagt: »Nani, weißt was? Den Buben da, den Melcher, den schickst mir im Herbste, wo die Schulen angehen; er soll etwas lernen, wo er auch einmal rechtschaffen unter die Arme greifen kann. Wir haben keine Kinder, und ein paar Jährlein werden wir den Kunden schon füttern können.

Selbstverständlich wird einer so ein Bübel füttern können, der eine hohe Anstellung und keine Kinder hat.

Als der Herbst gekommen, hat ihm die Mutter seine Habseligkeiten in ein kleines Holzkofferchen gepackt und vom Frächter auf die Eisenbahn liefern lassen, die so ein vier, fünf Stunden weiter im Lande drunten auf glattem Schienengeleise dahinläuft. Des andern Tages in aller Frühe sind sie all zwei dem Koffer nachgegangen zur Bahn. Einen Haselstecken hat sie ihm in die Hand gegeben, mit Weihbrunn hat sie ihn besprengt, und aufgetragen hat sie ihm den ganzen Weg über, er solle ja recht brav sein und gut tun, damit sie sich einmal auf ihn verlassen könnten, und dann hat er sich dem dampfenden und schnaufenden Wagen anvertraut und ist hinausgefahren in die Fremde.

Als es Nacht geworden und der Wagen noch nicht in der Wienerstadt gewesen beim Vetter, hat er verstohlen und heimlich geweint, und dann ist er eingeschlafen und hat von der Wiener Stadt geträumt, und die Räder des Wagens haben ihm ihr einförmiges Schlummerlied gesungen dazu: tatata – ta, tatata – ta.

Als es Licht geworden, sind sie über die Donau gefahren, und er ist erschrocken und hat gemeint, sie hätten sich verfahren und wären schon bei irgendeinem wildfremden Meere angelangt. Und dann sind sie allmählich nach Wien gekommen; nicht auf einmal, ganz allmählich. Immer dichter sind die Häuser geworden und immer höher und höher, und dann hat es auf einmal geheißen: Aussteigen! Alles aussteigen!

Wohin nun und den Vetter suchen in diesen vielen, vielen Häusern? Hier in Prag wenn es gewesen wäre, hier hätte er sich unmöglich zurechtfinden können, und es hätte sich auch keiner seiner angenommen und ihm suchen helfen.

Aber all zwei, er und ein graubärtiger Herr, der sich seiner liebevoll angenommen, als er so dagestanden und schüchtern gefragt, wo wohl der Vetter wäre, sie all zwei haben den Vetter, der so und so heißt und im Ministerium ist, bald gefunden gehabt.

Da hat es sich wohl herausgestellt, dass der Vetter eigentlich nur Torwartel ist, aber dies in einem solchen Hause zu sein, bedeutet auch schon etwas Großes und Hohes. Auch ist es ihm den ersten Augenblick so vorgekommen, als ob man ob seiner Ankunft nicht sonderlich freudig überrascht wäre, aber was hilft und nutzt solches Bemerken?

Die schönste Zeit ist für ihn vorbei gewesen, und das Türchen des Paradieses der Kindheit ist hinter ihm eingeklinkt.

Ein paar Tage nachher hat ihn der Vetter Torwartel bei der Hand genommen und ihn in eine Studierschule geführt, über deren Tor »K.k Gymnasium« zu lesen gewesen, hat dem Direktor geklagt, in welchem Falle er sich befände und was einer mit so armer Freundschaft für Kreuz und Sorgen hätte und welche Opfer er bringen müsse, und dann ist er, der Melcher, als Student eingeschrieben worden.

Er ist in die Studierschule gegangen Tag für Tag, hat mensa, terra und agricola dekliniern und laudare, monere, legere und audire konjugieren gelernt und zwei Jahre darauf sich mit σοφία, άνθρωποσ und λύω geplagt und mit einer schon längst verblichenen sonderbaren Zeitform, so der Aorist geheißen, und wenn die Ferien gekommen sind, hat er ein schönes Zeugnis bekommen.

So ist er von Stufe zu Stufe und von Klasse zu Klasse gestiegen, und schon in der dritten hat der Vetter geraten und gedrängt, er möge sich um Nachhilfestunden umschauen, damit er etwas verdienen und zu seinem Lebensunterhalte beisteuern könne, denn kein Mensch könne von Rechts wegen von ihm, dem Vetter, verlangen, dass er anderer Leute Kinder ausstudieren lasse.

So hat er sich dann um Nachhilfestunden umgesehen und mit den eigenen Arbeiten und den Arbeiten und Aufgaben anderer geplagt und geschunden, bis er die Matura hinter sich und die Wahl vor sich gehabt, was er nun werden sollte.

Die Mutter hat geraten er solle Pfarrer werden, dieweil solches ein gar hoher Beruf wäre und sie und allenfalls auch die beiden Schwestern einmal Unterschlupf finden könnten bei ihm; aber andere Leute haben auch wieder anders geraten und vorgestellt, welch armseliges Leben beispielsweise so ein Kaplan führen müsse, da seine paar Groschen Gehalt bei Weitem nicht reichten, und der in seiner Abhängigkeit vom Pfarrer und mitunter auch noch von anderen Leuten gar schlimm daran sei. Und dann … wie halt einer gerät und wird! Es gäbe Pfarrer, bei denen auch Mutter und Schwestern keinen Unterschlupf fänden … Was er, der Melcher, so am liebsten werden wollte? … Ihm, wenn es nachginge, er möchte am liebsten Arzt werden. Soll auch nicht das schlechteste Geschäft sein, so es einer recht verstände, und es könne auch ein gottgefälliger Beruf sein, den kranken und leidenden Menschen beizustehen und zu helfen nach Kräften und Vermögen nach dem Beispiele des Herrn, der auch die Kranken geheilet.

So sollt' er halt nach seinem Willen tun, dieweil ein aufgezwungener Beruf mitunter ein gar arger Beruf wäre. …

Und als die Schwalben wieder einmal zur Abreise gerüstet, ist er auf die Universität gezogen und hat sich dort als Hörer der Medizin immatrikulieren lassen; doch hat solches an den bisherigen Verhältnissen kein Merkliches geändert. Er hat nach wie vor gelernt und Nachhilfestunden gegeben und in letzter Zeit einen recht hübschen Posten innegehabt, bis die Familie nach Brünn verzogen. Er hätte wohl Lust gehabt, irgendeiner Studentenverbindung beizutreten, aber der Vetter Torwartel hat alleweg abgeraten und Gründe ins Treffen geführt, die ihm nicht wegzureden gewesen. Diese farbentragenden Studenten wäre in ganz gefährliches »Korps«, seit sie dies im Achtundvierziger Jahre bewiesen; sie lebten nur von Suff, Völlerei und Hochverrat, und solches sei nicht gerne gesehen bei den Herrn im Ministerium. Er, der Vetter, hinge gewissermaßen von deren Wohlwollen ab, und er, der Melcher, möge daher so viel Rücksicht auf ihn nehmen, solche Schnacksen bleiben zu lassen.

So hat er denn dies »Schnacksen« bleiben lassen und ist ein ganz gewöhnlicher »Finke« geblieben. Er hat die verschiedensten Collega gehört, seine Stunden gegeben und ist ab und zu abends mit dem Vetter sittsam und ruhig ins nächste Gasthaus gegangen, allwo man am Stammtische mit einigen gleichgesinnten Unterbeamten die Ereignisse des Tages in höchst wichtiger und überlegener Weise besprochen und dann wieder züchtig heimgegangen. Die erste Zeit hat er wohl mitunter Sehnsucht und Verlangen empfunden nach dem eigentlichen jungfrohen Studentenleben, aber er hat sich bezwungen und sich in die Unabänderlichkeit gefügt. Er hätte vielleicht auch den Doktor gemacht, ohne jemals einen Schritt über das wohlabgesteckte Geleise getan zu haben, wenn – die beiden Leutchen länger gelebt hätten.

Um Ostern herum hat sich die Base einmal niedergelegt, da sie unwohl geworden, und am vierten Tage ist sie eine Leiche gewesen, und kurze Zeit darauf ist ihr auch der Vetter nach in die Ewigkeit. Man hat ihm nicht viel angemerkt, dass er sich so arg gegrämt über den herben, harten Verlust, dazu war er der Mann zu »gesetzt«, aber im Geheimen hat es ihm doch am Herzen genagt und gebissen, bis der Lebensfaden entzwei gewesen.

Was nun?

Überdies ist auch die Herrschaft, bei der er Stunden gegeben, am Anfange der Ferien nach Brünn übersiedelt, und er hat sich kurzer Hand vorgenommen: er übersiedelt auch. Es kann einem jungen Manne nicht schaden, wenn er einmal einen andern Ort sieht und andere Lehrer reden hört, und zum Durchschlagen wird's wohl überall sein.

Ja, so wandeln sich die Zeiten, und der Mensch muss sich einer jeden anzubequemen wissen und in trüben Stunden sich mit kommenden heiteren trösten.

Es ist ja übrigens noch gar nichts verhaut. In Wien hätte er sich um eine neue Stunde umsehen müssen, und hier hat er auch schon eine so viel wie in der Tasche; denn wenn es halbwegs zu tun und auszukommen ist, nimmt er sie. …

Er sieht nach der Uhr und schlendert wieder zurück.

Das Gartentürchen ist wieder verschlossen – es scheint überhaupt immer verschlossen zu sein – und auf sein Läuten kommt ein Dienstmädchen herbei und führt ihn in ein Wartezimmerchen.

»Wen darf ich der gnädigen Frau melden?« fragt es wichtig.

»Mediziner Maier«, bescheidet er. »Ich kann leider keine Karte abgeben, weil ich augenblicklich keine habe, aber ich käm von wegen der Hauslehrerstelle.«

»Schön! Bitte, einen Augenblick zu warten!«

Und es huscht durch eine Tür davon, und als es wieder zum Vorschein kommt, machte es einen Knicks und sagt: »Die gnädige Frau lässt bitten!«

Er geht ins gewiesene Zimmer und stellt sich vor. »In der Germania hat man mir …«

»Schön«, unterbricht sie ihn. »Und da kommen Sie wohl von wegen der Erzieherstelle?«

»Ja.«

»Sind Sie Mediziner?«

»Ja. Habe bereits acht Semester in Wien absolviert.«

»In Wien? Und nun wollen Sie Ihre Studien wahrscheinlich in Prag beenden?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Bitte, Platz zu nehmen.«

Er lässt sich etwas steif und unbeholfen auf einen der gepolsterten Sessel nieder und hört zu, wie sie den Knabenerzogen und beschäftigt zu haben wünscht, dass es ihr unumgänglich notwendig erscheint, dass das leibliche Wohl desselben ebenfalls und stetig im Auge zu behalten und alles u

Unzuträgliche und Schädliche sorgfältig von ihm abzuhalten sei. Der Knabe wäre recht schwächlich, aber für das Honorar von sechzig Gulden im Monat, das sie auslegen wolle, können gewiss der Hauslehrer und auch der Mediziner das Ihrige gewissenhaft tun.

Sechzig Gulden im Monat! Ihm schwindelt und er wähnt, gewiss nicht recht gehört zu haben. Gewiss hat sie sechzehn gesagt, und er hat das andere verstanden … »Sechzehn?« fragt er etwas unschlüssig.

»Sechzig«, wiederholt sie mit Nachdruck.

»Das … dürfte aber doch zu viel sein«, stellt er verlegen vor.

»Was heißt zu viel?« sagt sie geringschätzig. »Ich biete Ihnen dies Honorar«, erklärt sie und weidet sich augenscheinlich an seiner Verlegenheit und der Verblüffung ob des Angebotes.

»Und … wie viel Stunden wünschen gnädige Frau täglich, das heißt für den Knaben?«

»Eine, höchstens anderthalb. Ich denke, vorläufig dürfte dies mehr als genug sein für das schwächliche Kind … Selbstverständlich erlaube ich mir aber zu erwarten, dass Sie sich dem Honorare entsprechend die erforderliche Mühe geben werden und auch in gesundheitlicher Beziehung ein stetes Augenmerk auf den Jungen haben wollen.«

»Selbstverständlich, gnädige Frau … dürfte ich den Knaben vielleicht sehen?«

»Gewiss.« Sie klingelt dem Mädchen, und dieses holt den Knaben herbei. Maier schrickt schier zusammen, als er dessen ansichtig wird. Eine lang aufgeschossene, kraft- und marklose Gestalt mit müden, abgespannten Gesichtszügen, blassen Wangen und fast glanzlosen Augen, so bietet das Kind ein bedauernswertes Beispiel der Erfolge, welche eine verkehrte und absichtlich oder »standesgemäß« verzärtelte Erziehung zu erreichen imstande ist.

»Herr Maier wird künftig Dein Lehrer sein«, eröffnet Frau Salzer dem Buben. »Du musst ihm immer schön folgen und alles tun und machen, was er Dir sagt oder befiehlt. Es gereicht Dir gewiss alles zu Besten, und wenn Du einmal viel gelernt haben wirst, dann kannst Du auch eine bunte Mütze tragen wie die Herren Studenten, die Dir immer so gut gefallen. Und jetzt reiche Herrn Maier die Hand!« schafft sie, als der Knabe den fremden Menschen nahezu ganz teilnahmslos anstarrt. Der wird sein Lehrer, und dem soll er folgen! Na, das kann gut gehen.

»Wir wollen gute Freunde sein«, redet ihm Maier Mut zu. »Gelt? Zu gegebener Zeit auch ein bisschen spielen …«

»Spielen!« Etwas ungeduldig sieht er den Fremden an, und dabei flammt doch etwas auf in seinen Augen wie schwacher Freudenschimmer.

»Ja, auch spielen und dazwischen ein bisschen lernen, wie es halt kommt. Und wenn das Wetter nicht gar zu elend ist, gehen wir tagtäglich eine Zeit lang spazieren. Nicht wahr? O, wir werden uns ganz gut vertragen mitsammen. Und die Frau Mama wird die Güte haben, uns so etwas wie ein Turngerüste aufstellen zu lassen im Garten …«

»Halten Sie dies für notwendig?« fragt Frau Salzer mit eigentümlicher Betonung und gibt dem Mädchen einen Wink, den Knaben wieder fortzuführen.

»Es wird nicht schaden«, erklärt Maier. »Das Kind ist anscheinend sehr schwächlich, und meiner Ansicht nach kann es nur vorteilhaft und angezeigt sein, vorerst das Körperchen etwas zu kräftigen, ehe ihm geistige Arbeit und Anstrengung zugemutet werden kann, denn nur in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist.«

Frau Salzer betrachtet den jungen Mann ein Weilchen, als müsste sie erst überlegen, welchen Bescheid sie auf dies Ansinnen eigentlich geben solle. Der »Kerl« soll und will von ihr bezahlt sein, um das zu leisten, weswegen sie ihn aufnimmt, und derweilen zeigt er Lust, selbst vorzuschreiben, was um ihr Geld geschehen soll. Aber sie besinnt sich und stimmt stillschweigend zu. Was der Mensch eigentlich im Sinne hat?

»Gut!« nickt sie. Sie sollen vorläufig freie Hand haben in Bezug auf Art und Methode in der Erziehung des Knaben, Sie sind aber für allefallsige Missgriffe verantwortlich. Verstehen Sie? … Wann wollen Sie anfangen?«

»Wann es genehm ist: morgen, übermorgen oder in einer anderen Zeit.«

»Dann können Sie morgen beginnen.«

Sie steht auf, und auch Maier schnellt im nächsten Augenblicke empor und verabschiedet sich.

Als er vor dem Gartenpförtchen auf der Straße steht, fährt ihm mit einem Male durch den Sinn, dass diese Stellung trotz des hohen Lohnes nicht gerade die Beste sein möge. Wer weiß, wie die Gnädige diese oder jene seiner allenfallsigen Anordnungen auffasst und betrachtet? Für »allenfallsige Missgriffe« wird er gleich im Voraus verantwortlich gemacht. Ach was! So macht er halt keine solchen. Was geht ihn dieser Schatten von einem Menschen auch weiter an? Er fragt die gnädige Fau Mama jedes Mal, was er tun darf und was nicht; er gibt seine Stunden, erkundigt sich pflichtschuldigst nach dem werten Befinden des jungen Herrn und gibt ab und zu, wenn es erforderlich sein sollte, seinen Rat als Mediziner, so gut oder schlecht er es versteht. Mehr wird augenscheinlich gar nicht verlangt von ihm. Bis er die Rigorosen hinter sich und den Dr. vor sich hat, wird die Geschichte doch zum Aushalten sein.

So sinnt er, als er seiner Wohnung zuschreitet.

Unter dem Haustore begegnet ihm Frau Wawerl mit freud- und glückstrahlendem Gesichte.

»Jetzt hab' ich auch den Dritten schon«, lächelt sie.

»So?«

»Ja, Herr Köhler hat ihm die Wohnung empfehlen lassen. O, der Herr Köhler ist ein braver Mensch. Schade nur, dass er schon bald fertig wird und fort muss.«

»Ein ganz Neugebackener?«

»Wer?«

»Nun, dieser Dritte.«

»O nein. Er soll schon zwei Semester haben, hab' ich gehört, aber seine frühere Wohnung soll ihm nicht recht getaugt haben. Scheint ein recht lieber Herr zu sein, voll Faxen und Dummheiten …«

»Das ist recht …«

»Und … Herr … Maier: Haben Sie die Stelle bekommen?«

»Ja.«

»Na, sehen Sie also. In Prag verlässt unser Herrgott niemanden.«

»Nicht einmal einen Deutschen«, lacht er und steigt die Treppe hinauf. Aus der Bude des »Dritten« schallt das übermütige Lachen Köhlers, und er klopft an und steckt den Kopf durch die Türe.

»Heil!« lacht Köhler, als er ihn erblickt. »Siehste: Er ist erreicht; das Kollegium ist nun vollzählig … Die Herrn kennen sich nicht? Mediziner – Melcher – Maier! Merke Dir die Formel, Fuchs: 3 m! Ein altes Haus, aber noch ein ganz kommuner Finke … Philologe Hilarius Ritter, einer der faulsten Füchse, der sich nicht einmal aus dem Fuchsstalle herauszuarbeiten vermocht. Und … Leutchen, wenn ich bitten darf: Nur keine Förmlichkeiten und leeren Phrasen! Wir sind hier in einer Hürde zusammengepfercht und müssen und so gut mitsammen abfinden, als dies überhaupt geht. Reicht Euch kurzerhand die Vorderpfoten und … gesegnet sei der Bund! … Das wäre also auch erledigt«, atmet er in hochkomischem Ernste auf, als sich die beiden Zimmernachbarn die Hände gereicht und geschüttelt. »Und wie ist's Dir ergangen, Melcher?« fragt er nachher. »Angenommen worden in Gnaden?«

»Ich schulde Dir massenhaften Dank für Deine Bemühung. Wenn ich Dir irgendwie zu Gegendiensten …«

»Tacet!« unterbricht ihn Köhler, sichtlich unangenehm berührt von der Dankeszusicherung. »Wie viel?« fragt er nach kurzer Pause.

»Sechzig Gulden monatlich!«

»Sechzig – Gulden – monatlich!« pustet der Dickliche ihm höchsten Grade überrascht heraus. Der Kommilitone, der ihm die Adresse aufgeschrieben, hat etwas von zehn, fünfzehn Gulden gemutmaßt. Für einen ganz frisch eingetroffenen Finken unbekannter Herkunft wäre dies für den Anfang gut genug. jetzt redet der Mensch etwas daher von – sechzig Gulden. »Goldvieh! Du verfügst offenkundig über ein riesiges Schwein. Sechzig Gulden monatlich! So viel ist der schönste Fink in vier Monaten nicht wert. Ohne weitere Konsequenz: Bei euch daheim wachsen wohl riesige Kartoffel? Was? … Aber wir gönnen Dir die Sache neidlos und großmütig. Was, Ritter Kunz?”

»Ganz gewiss”, bestätigt der Dritte, ein mittelgroßer Bursche mit fast mädchenhaftem Gesichte, auffallend weißer Haut, rötlichem Haar und rotem Bartanfluge und ein paar tiefblauen Augen. »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, und wer nicht gezwungen ist, übernimmt ohnehin keinen solchen geistigen Ammendienst.«

»Jetzt gibt's aber keine Ausflucht mehr, kein langes Wann und Aber; jetzt wirst du Asgarde.«

»Jetzt meinetwegen«, willigt Maier mit freudestrahlenden Mienen ein.

»Heil Dir und Deinem Entschlusse. Die erfolggekrönte Keilerei wird natürlich solenn begossen. Wir reiten diesen Graufuchs gleich abends feierlichst vor …«

»Wer weiß, ob überhaupt recht viele dort sind«, zweifelt Ritter. »Der Budenzwang besteht zur Zeit noch nicht, und der Herr sollte gleich so eine Art großartigen Eindruck erhalten von unserer …«

»Gut! So gehen wir heute irgendwo anders hin … Weißt Du, wir bieten unserem Fremdling in der Pragerstadt mal etwas ganz Apartes. Hotel Schwapper!«

»Der Antrag ist nicht schlecht. Einstimmig angenommen.«

»Ich möchte mich doch nicht gern in ein langweiliges Hotel setzen«, wendet Maier gegen den Antrag ein. »Offen gestanden: Ich hab' eine riesige Freude in mir, dass ich monatlich sechzig Gulden bekommen soll und möchte diesen Tag daher mit einem gemütlichen, fröhlichen Abende beschließen.«

»Das kannst Du ungehindert«, lacht Köhler bedeutungsvoll. »Vertrau' Dich nur unserer weisen Führung an!«


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