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Die bange Nacht ist nun herum,
Wir reiten still, wir reiten stumm,
Wir reiten ins Verderben.
Wie weht so scharf der Morgenwind,
Frau Wirtin noch ein Glas geschwind …
Die Vertreter der Kontrahagen finden sich zur bestimmten Zeit im Café Continental ein. Es werden die üblichen Protokolle aufgenommen, und es wird eine Säbelmensur unter schweren Bedingungen vereinbart. Nur Hals- und Pulsschutz!
Schröder aber hat keine Ruhe und keinen Frieden daheim, trotzdem die beiden Damen weder um diese Bedingung noch um den eigentlichen Stand der Angelegenheit wissen. Immer und allzeit setzen sie ihm zu mit Vernunftgründen, mit Vorstellungen und Bitten, und immer und immer wieder beschwören sie ihn, sich, ihre Stütze und Hoffnung, ja in keine Gefahr zu bringen.
»Gefahr! Wie könnte dann von einer Gefahr die Rede sein?« sucht er zu beruhigen. »Ich bin doch schon hundertmal dabei gewesen, wenn zwei in die Mensur gestiegen sind, und ich weiß doch, wie es zugeht. Im ungünstigsten Falle könnte einer einen Schmiss verappliziert bekommen.«
»Michel, tu'es nicht!« bittet Lotte und streichelt dem Bruder über den kurzgeschorenen Kopf. »Ich bitte Dich: folge uns! Wenn Du wüsstest, welch' schreckliche Ahnung und Angst mich quält! Und schau: Wenn Dir etwas zustöße, wen hätte die Mutter in ihren alten Tagen und … bei wem könnte ich mich aufhalten?«
Es ist wahrhaftig zu dumm! Gerade dieser Angriff übt den meisten Erfolg und schlägt Bresche um Bresche in seinen Ansichten. Ja: Wen hätte die Mutter, die so viel Lieb und Sorgfalt für ihn aufgewendet und zeitlebens so viel Mühe und Arbeit mit ihm gehab, als er noch kleiner war, und die so viel Geld geopfert, um ihm die Zeit des Studiums so wenig mühevoll als möglich zu machen, in ihren alten, hilflosen Tagen als Trost und Stütze, und wen hätte Lotte, die arme Blinde, sonst auf der Welt, an den sie ihr hilfloses, elendes Leben klammern könnte wie die schwache Winde an den kräftigen Baum? Ihn, sonst niemanden. Von einem förmlichen Abgeschlachtet- oder Umgebrachtwerden bei einer Mensur zu reden oder auch nur zu denken, ist der größte Stumpfsinn, den es geben kann, aber es spielen im Leben bei den harmlosesten Angelegenheiten so viele Zufälligkeiten und scheinbar unbeachtenswerte Kleinigkeiten mit, dass einer bei jedem Tritte, den er tut, nicht vorsichtig genug sein kann. Und dann diese vergebliche Vorahnung irgendetwas Schlimmem, mit dem die Schwester geplagt sein soll! Wer weiß gewiss, ob sie nur so sagt und tut, um ihn von einer Mensur abzuhalten, oder ob es wirklich der Fall?
Über solche Sachen ist schon viel geredet, geschrieben und gestritten worden. Mit klarem, nüchterem und unbefangenem Sinnen und Verstande betrachtet, ist eine Ahnung oder Vorahnung kommender Dinge eine pure Unmöglichkeit, weil des Menschen Geist nur mit allerlei Mutmaßungen und Ratereien in das Reich der Zukunft zu dringen oder besser gesagt: vorgeblich zu dringen vermag, und weil ein für jedes Auge undurchdringlicher Vorhang die gegenwärtige Minute von der kommenden scheidet. Aber es gibt so viele Beispiele, die tatsächlich für eine Möglichkeit und ein tatsächliches Vorkommen solcher Vorahnungen sprechen.
Es fällt ihm ein, gelegentlich einmal irgendeine Schrift über dieses Thema aus reiner Neugier durchblättert zu haben; doch kann er sich nimmer entsinnen, wo und welche. Aber es fällt ihm über lauter Sinnen und Nachdenken ein, dass er darin von angeblich hervorragenden und geistig bedeutenden Leuten gelesen, denen Ähnliches entweder selbst vorgekommen sein soll oder die mehr oder minder unanfechtbares Zeugnis geben, dass ihnen solche Fälle tatsächlich vorgekommen.
Und dieses Sinnen, das Bitten und Flehen der armen Schwester, der Zwiespalt zwischen dem Gebote der Mutter und den Verpflichtungen gegenüber der Verbindung und seiner Stellung bringt ihn nach und nach in einen Zustand, der mit Nervosität mehr als den Namen gemeinsam hat.
Was soll er tun?
Wenn er das hätte vorausahnen können, wäre er gleich der Ferdinanda beigetreten, die prinzipiell nicht schlägt und wo einer also in solchem Falle durch das Prinzip, den Grundsatz der Verbindung, gedeckt ist.
Wenn er noch jetzt beiträte?
Er macht sich eines Tages auf den Weg und hält so von ungefähr Um- und Nachfrage, wie es bezüglich eines Über- und Eintrittes stünde. Dies und jenes wäre sein Fall, und er wäre persönlich keineswegs derjenige, der da etwa auskneifen wollte oder möchte, aber seine Mutter und seine Schwester redeten und bäten immer an ihm und ließen ihm keine Ruhe, und weil die Mutter alt und seine einzige Schwester blind sei, müsste er notgedrungener Weise dem Drängen und Bitten derselben nachgeben und sich zu diesem Schritte entschließen.
»Wir nähmen Sie selbstverständlich mit größtem Vergnügen auf«, bescheidet man ihn dort, »aber Sie werden begreifen, dass Sie schon von wegen der Honorigkeit früher eingegangener Verpflichtungen gerecht werden müssen. Steigen Sie halt hinein, und wenn die Geschichte vorüber ist und Sie die Kontrahage ausgetragen haben, springen Sie aus der Asgardia aus und suchen bei uns um Aufnahme nach!«
Der Bescheid ist nach jeder Richtung hin tadellos, aber Schröder ärgert sich doch darüber und zieht im Heimgehen ein recht großes Geheiß gewaltsam herbei.
So steigt er halt in die Mensur, wenn es nicht anders geht und gehen will. Und es geht nicht anders, weil er im Falles des Auskneifens c. i., das heißt: cum infamia – mit Spott und Schande – hinausgehängt, aus der Verbindung gestoßen würde, was auf seinen ferneren Lebensweg manchen Stein und manches Dorngestrüppe sammelte.
Bei den Burschenschaften und studentischen Vereinigungen gelten dreierlei Entlassungen. Man tritt entweder freiwillig aus, bringt in aller Form ein sogenanntes Aussprungsgesuch ein und bleibt fürderhin mit der Verbindung auf freundschaftlichem Fuße. Das ist die honorige Entlassung. Etwas zweifelhaft ist die Streichung wegen Lässigkeit, Lauheit und sonstiger Untugenden, die ein Erstreben und Erreichen der gemeinsamen, sonst ja ganz erstrebenswerten Ziele der Vereinigung nicht gestatten. Entehrend dagegen ist die dritte Art, die Entlassung cum infamia, die wegen gröblicher Vergehen oder solchen Handlungsweisen erfolgt, die auch im landläufigen bürgerlichen Sinne unehrenhaft sind und machen. Ein c. i. Gegangener findet überall Anstoß, beim Militär und in der bürgerlichen »besseren Gesellschaft«, und es mag dieser Zwang zum »Solidbleiben« oftmals recht gute Wirkung üben.
Die Entlassung c. i. wird daher auch wegen feigen Auskneifens verhängt, und es treffen einen solchen Ausgekniffenen und deswegen Entlassenen genau dieselben Folgen, als wenn er wer weiß was Schlechtes verbrochen.
Also: er, Schröder, muss in die Mensur steigen, ob er nun will oder nicht, will er sich für sein Leben lang in den verschiedensten Lagen unmöglich machen, und will er nicht als Ausgestoßener der ganzen »guten« Gesellschaft gelten und behandelt werden. Es gibt sonst keinen Ausweg. Da können und mögen nun die beiden Weiber sagen und reden, was sie wollen, und da kann es in seinem Herzen und in seiner Brust arbeiten und hin und wider wogen und wallen, wie es will.
Ah was! Da muss sich einer halt gewaltsam darüber hinwegsetzen, wenn es nicht anders geht. Seine Ruh' und seinen Frieden muss der Mensch haben, soll er in absehbarer Zeit nicht etwa mit seinen Sinnen, mit seinem Grübeln und seinem beständig nagenden und quälenden Zwiespalt, wie es weiland der ursprüngliche Rodensteiner mit seinen Dörfern gemacht; er versäuft alles. In diesem Falle das einzige Mittel:
Gersprenz ist hin!
Gersprenz ist fort!
Gersprenz, der fromme, der züchtige Ort,
Gersprenz ist veritrunken.
In denselben Tagen kommt einmal Ritters Alter, ein raubeschlagener Landbürgermeister, in Amtsgeschäften nach Prag, als den Sitz der höchsten Behörden des Landes und sieht den Herrn Filium mit einer noch ganz verheilten Schramme auf dem Kopfe.
»Was ist denn los?« erkundigt er sich angelegentlich und sorglich, als sie in Ritters Bude beisammensitzen, er und die drei Zimmerherren Frau Wawerls.
Ritter erzählt nun in ausführlicher und sogar etwas überschwänglicher und wichtigtuerischer Weise, wie sich die Sache zugetragen, dass der Überfall sogar in der Zeitung gestanden und dass bereits die Protokolle aufgenommen und alles seiner besten Wege gerichtet wäre. »Dem Kerl werd' ich den Hieb heimzahlen!« vermisst er sich.
»Dass die Gehässigkeiten und der ewige Nationalhass und Zorn kein Ende nehmen!« tadelt der Alte, der offenbar von einer Mensur keine blasse Ahnung hat. »Nicht zahlst es heim!« rät er darauf. »Es gehört sich nicht für eine studierenden Menschen, der einmal etwa Rechtes werden will, dass er so rauft wie unsere Knechte und Dorfburschen zur Kirchweihzeit.«
»Die Sache ist ganz anders«, erklärt Köhler, der das Missverständnis schon aus dem ersten Worte heraushört. »Es handelt sich da um gar kein Geraufe, wie Sie vielleicht glauben, sonder es wird die Angelegenheit unter ganz genau bestimmten und allgemein als feststehend anerkannten Regeln mit der blanken Waffe ausgetragen …«
»Mit – der Waffe?«
»Ja, mit Säbeln; also in ganz ritterlicher Weise.«
»Sooo?« dehnt er langmächtig heraus, und sein Gesicht wird merklich dunkler. »Was der Herr da nicht sagen! Und … und das hast Du im Sinne, Hilari?« fragt er den Jungen.
»Selbstverständlich.«
»Und … sel ist erlaubt … darf sein?«
»Ganz gewiss.«
»Höllteufel! Da gibt's ja also doch zweierlei Maßerei. Wenn einer dem andern ein Glasel auf den Kopf fallen lässt, wird er gestraft, wenn er sonst rauft, wieder gestraft und mit Recht gestraft, und … Nein, sag' ich«, donnert er gleich darauf heraus, als ob er ein halbes Dutzend widerhaariger und bockbeiniger Bauern in der Gemeindestube vor sich hätte, und seine Hand fällt schwer und gewichtig auf den Tisch nieder, als wollte sie das Gewischt dieses Verbotes noch verstärken.
»Aber Herr … Herr Bürgermeister!« sucht Köhler zu begütigen und zu überzeugen. »Sie scheinen die Sachlage vollständig zu verkennen. Der Herr Sohn muss nämlich unter den gegebenen Verhältnissen losgehen, wie man sagt, weil es die Honorigkeit, der Brauch und usus fordern …«
»Muss?« lacht der Alte in seiner gewohnten, rechthaberischen Weise auf. »Muss? Nein, meine Herren: unsereinem schwatzt man nicht so leicht etwas vor; unsereiner weiß und versteht auch ein bissel etwas …«
»Es ist doch so«, bestätigt Maier.
»Ich doch so? … Ja, wie wär' denn das gerade? Und mit Säbeln! Ich dank' schön, meine Herren … Wissen Sie, wie man mit Säbeln einander zurichten kann? Ich war Dragoner gewesen; mir braucht's niemand zu sagen … Mit Säbeln! … Aber ich sag' Ihnen nur so viel und nicht mehr: Nicht geschieht's. Wer hat Sorg' und Müh' und Auslagen gehabt mit ihm, wer hat sie noch, und wem fällt er zur ewigen Last, wenn er so zugedeckt wird, dass … dass … Wem denn, meine Herren? Mir, sonst niemandem. Und wenn ich nimmer lebe, der Gemeinde als Kostgeher, verstanden? Geben ihm die Herren etwas oder der Verein oder der Brauch, wenn er zum Krüppel geschlagen wird? Jetzt ist er so halbwegs aus dem Wasser und aus dem größten Moraste heraußen und hat Aussicht, dass er in ein paar Jährlein eine Anstellung kriegt als Professor, und da will er … da soll er und da müsst er mit Säbeln herum dreschen? … Kurz, dass mir die Geschicht' jetzt gar und aus ist! Und wie ich noch einen Muck davon höre, dass er mir die Dummheit anfangen will oder gar anfängt, keinen Tritt mehr in mein Haus und keinen Knopf Geld … Verstanden? Ich bin der Vater, und ich hab' derweil allweil noch zu reden. Verstanden?«
»Da hätt' er sollen auch gleich zuhauen.«
»Hab' ich ohnehin«, erklärt Ritter kleinlaut.
»Nachher ist's sowieso aus.«
»Durchaus nicht, Herr Bürgermeister. Sie können sich eben nicht in unsere Verhältnisse hinein denken.« So Maier.
»Beileib nicht.«
»Aber …«
»Da gibt's kein Aber mehr«, braust der Mann wieder auf. »Ich hab' geredet, und – aus ist die Schul'. Der Hilari darf mir das Stückel nicht anfangen, und er darf nicht. Dass Sie es wissen und dass Sie es auch wissen.«
»Ja … aber ich bitt' Sie, Herr Bürgermeister: wie kommen wir glatt über diese Angelegenheit hinweg?« fragt Köhler.
»Das geht mich nichts an. Ich habe das Meine geredet.«
Eine scheußlich dumme Sache! Wie kommt da Ritter, und wie kommt das Ansehen der Asgardia aus der ekligen Brühe?«
Es wird abends in aller Eile ge- und beraten, und endlich verfällt man auf den Gedanken, die Vertreter des Herrn Krschestan zu einer neuerlichen Zusammenkunft zu bitten. Man setzt dies ins Werk, schleppt den Alten mit und lässt ihn die protokollarische Erklärung abgeben, dass sein Sohn Filius nicht losgehen darf, dieweil er, der Alte, noch Macht und Gewalt hat über ihn und es nicht duldet und nicht angehen lässt. Auf dem Wege rät übrigens Köhler noch, neben der Erklärung noch mancherlei herauszukollern, was nicht gerade ins Protokoll gehört, der Geschichte aber mehr Schwung und Ansehen verleiht.
Für den also gezwungenen zurücktretenden Ritter will Hacker steigen …