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16.

Um lederne Ideen
Rauft man manch' heißen Kampf;
Es ist im Grund doch alles
Nur Nebel, Rauch und Dampf …

Die Luft in der Bude der Asgardia scheint eitel Blei zu sein, so drückt sie auf Jegliches der jungfrohen Gemüter. Es liegt etwas wie schwüle Gewitterstimmung, wie die Spannung eines unsichtbaren und unbekannten, aber doch in grauslichem Überflusse vorhandenen Elementes in der Luft. Wie an einem drückend schwülen Sommertage ist es, wo einem fast das Atmen schwer fällt, wo man ein reinigend und erfrischend Gewitter verhofft, erwünscht und doch wieder fürchtet.

Hacker und Färber sitzen bei einer Partie Schach beisammen und qualmen dichte Rauchwolken vor sich hin, und Träger steht am Fenster und blättert hastig und zwecklos in einem großen, dicken Buche herum und macht ein Gesicht, als hätte er seit drei Tagen sonst nichts zu sich genommen wie Essig, eitel Essig.

»Das ist ja kein Spiel«, ärgert sich Hacker. »Das ist lediglich zweckloses Herumschieben der Figuren. Und daran kann ich nicht das mindeste Interesse finden. Schach! wenn Du es nicht anders haben willst.«

»Nua!« macht es Färber. Chacun à son gout. Du bist gerade auch kein Muster in diesem Spiele, und heute ebenfalls schon gar nicht. Wart, ich werde Deinen Königsmördergelüsten abhelfen! Der Springer ist mein. Selbst Schach!«

Plötzlich klappt Träger das Buch geräuschvoll zu, und wirft es auf den Tisch.

»Zu dumm!« stößt er hart heraus. »Einfach zu dumm! … Mir ist augenblicklich so, dass ich der ganzen Welt den Hobel ausblasen könnte oder umgekehrt.«

»Zum größten Teile hat er dies Unglück selbst verschuldet«, redet Hacker. »Was säuft er all die Zeit herum, bis er seinen Arm bekommt und bekommen muss, wie einen schlottrigen Lämmerschwanz? In eine derartige Angelegenheit steigt man mit Verstand und gesunden Sinnen … Warum hab' ich den … den … Nein, dieses Menschen wegen breche ich mir meine Zunge nicht ab. Warum habe ich meinen Partner scheußlich abgestochen? Wie ich gut vorbereitet war. Ergo.«

»Der Kolarsch hat aber schon verdammt gut und elend hinterlistig geschlagen.«

»Scheußlich eklig ist und bleibt die Sache immerhin, betrachtet man sie von der oder jener Seite«, meint Färber. »Ein Auge ist keine Kleinigkeit, besonders wenn das andere überhaupt zu nicht viel taugt, und … und wenn man sozusagen ganz zwecklos darum kommt. Ich habe gewiss ganz anständig zähe Nerven, aber mir hat's gerade einen Stich durch und durch gegeben, wie ich den Hieb sehe und wie Schröder nach rückwärts zu taumeln anfängt … Brrr!«

»Man hätte ihn in dieser Verfassung nicht antreten lassen sollen.«

Da treten Köhler, Ritter und Breit ein.

»Heil!«

»Wie steht's?« fragt Träger hastig, ohne den Gruß zu erwidern.

»Das reinste Jammertal«, bescheidet Breit. »Das Herz tut einem weh, wenn man das mit ansehen und anhören muss … Kaum haben wir Schröder recht im Spital gehabt, kommt seine Mutter schon daher, die Ritter schonendst hat verständigen sollen … Wie ein Stück Holz ist die bedauernswerte Frau vor dem Bette ihres Sohnes zusammengesunken, als sie die ganze trostlose Geschichte vernommen – wie gerade ein Stück Holz. Und langmächtig hat sie nimmer zum Leben kommen wollen … Kruzitürken! Da heißt es schon Nerven haben oder aber auch gar keine, wie man will …«

»Und jetzt?«

»Jetzt haben wir sie eben wieder heimgebracht, aber sie ist fast von Sinnen vor lauter Leid undElend und geht händeringend herum wie eins, dem das letzte Restchen Verstand abhanden gekommen. Sie jammert nicht, sie redet nichts, aber …«

»Am meisten erbarmt mich die Lotte«, sagt Ritter. »Wie sie so gellend aufgeschrien hat: Meine Ahnung, meine Ahnung! Gerade durch Mark und Bein ist mir der Schrei gegangen. Und jetzt weint und weint sie, windet die Hände und schreit dazwischen wieder hell auf vor Schmerz und Leid …«

»Gut, dass sie ohnehin schon blind ist«, knurrt Köhler. »Allem Anscheine nach weinte sie sich jetzt blind! Kommt schließlich auf eins hinaus.«

»Ja, die Frau ist wirklich zu bedauern. Der kleinste Zufall noch, eine Kleinigkeit, die Schröder am andern Auge trifft, und sie hat zwei blinde Kinder, eins hilfloser als das andere.«

»Ein abscheuliches Elend.«

»Ja, wenn lediglich Schröders schwaches Auge zum Handkusse gekommen wäre!« brummt Ritter und geht mit langen Schritten auf und ab. »Das ist ohnehin keine zwei Sechser wert und hätte leichter entbehrt werden können. Aber das gesunde!«

»Ein Elend!«

Nach und nach rücken die andern auf die Bude, aber das gewohnte Leben und Treiben will sich nicht mit einstellen. Zwei Füchse suchen Paukzeug und Säbel aus dem Kasten und machen sich daran, die heute gesehenen Partien nachzuahmen, aber es gelingt ihnen nicht, und kein einziger der andern hat und zeigt Interesse für ihr Herumsäbeln.

Das Unglück Schröders beschäftigt alle, und keine Rede vermag sich aus den Geleisen dieses Themas hinauszuarbeiten.

Es ist wirklich wahr: Man hätte ihn nicht antreten lassen sollen; in dieser Verfassung entschieden nicht. Man hat gewusst, dass er die letzten Tage her nur mehr herumgesoffen und fast nicht nüchtern geworden, und man hat ihm den Morzaffen noch angemerkt, als man ihn in Paukwichs geworfen. In so einem Zustande haut einer um sich wie der berühmte rasende Roland, oder er wird gehaut, und man hat das erstere angenommen und verhofft und hätte Kolarsch ein paar saftiger Hiebe vergönnt. Derweilen ist es umgekehrt gekommen, und … so ein dummer Hieb! Es ist wirklich zu dumm.

Keiner aber weiß und mutmaßt den Grund, warum Schröder so herumgesoffen, und keiner hat die leiseste Ahnung, dass er seiner Schwester Vorahnung nimmer aus dem Kopfe gebracht und dass er mit dem Bewusstsein und nahezu mit der Überzeugung, dass er heute ein paar abbekommen werde, angetreten.

Als letzter kommt Maier auf die Bude, der sich die Mensur nicht mit ansehen gekonnt, weil er verhindert gewesen, und der geradewegs aus dem Krankenhause kommt, wo er der Operation eines mit einem bösen Sarkone Behafteten beiwohnen gemusst. Aber er bringt die Nachricht mit, dass Schröder wahrscheinlich in der Verzweiflung ob seiner durchaus nicht beneidenswerten Lage oder in einem Anfalle von Geistesgestörtheit in einem gerade unbewachten Augenblicke einen Selbstmordversuch unternommen hat. Er hätte schon während der Operation von dem Vorfalle erfahren, aber als er nachher zu ihm gekommen, wäre er schon wieder so weit gewesen, sich dieses Anfalles verwerflicher Seelenschwäche zu schämen …

»Wie steht's um ihn?« unterbricht ihn Werner.

»Wie kann es stehen? … Vorläufig ist keine Hoffnung auf Erhaltung des Auges, trotzdem man ihn damit zu trösten und ihm über den Anfang hinwegzuhelfen sucht.«

»Einen … Selbstmort … versucht!«

»Ja, ich wenn an seiner Stelle bin, mir ist vielleicht gar nicht anders, und es ist eine Frage, ob nicht etwa jeder von uns bei solchem Elende ein Augenblick der Schwäche übermannte … Die Schwester blind, die Mutter ihrer Stütze und ihres Trostes im Alter so viel wie beraubt und … man vielleicht in kürzerer oder längerer Zeit ebenso hilflos wie die Schwester …«

»Hör' auf!« rät Köhler. »Die ganze Jeremiade hat nun doch keinen Wert mehr.«

»Wenn man diesen Ausgang hätte vermuten können, hätte man auch seine Alte zu Protokoll gezerrt«, meint Färber. »Es würde sich schon einer gefunden haben, der dem Schlitzkrowoten den angetanen Schimpf rückgezahlt hätte.«

»Ja … die ganze Asgardia erklärt sich als … als …« kollert Kaltenberger geärgert heraus. »Ich weiß nicht, wie ich die Geschichte umschreiben soll.«

Geraum Zeit fällt nun kein Wort, und es ist so still in dem Raume, dass man die Atemzüge der Einzelnen hört … Es ist ein Unglück und ein Elend, betrachtet man es von der oder von jener Seite. Schröder steht in seinem letzten Semester, er hat für die Rigorosen und Prüfungen zu studieren und nach Ablegung derselben die Aussicht, eine Stelle als Supplent und später als Professor zu bekommen und – nun ist vielleicht das Ganze in Frage gestellt. Das gut Auge ist beim Kuckuck, und das noch verbleibende ist nicht viel wert, und es darf gut gehen, wenn es sich den bevorstehenden Mühen und Anstrengungen gewachsen zeigen soll. Wenn, dann ist ja vorläufig das Ärgste vorüber, und wenn kein anderes Unglück eintritt, kann er sich mit knapper Not schon durchs Leben schlagen. Wenn aber nicht?

Über diese Frage wagt sich keiner geflissentlich hinaus.

»Das reinste Blech«, urteilt Maier und tut einen tüchtigen Schluck. »Leute, ich habe genug von solchen Dingen …«

»Na, na!« macht es Breit.

»Mein vollster Ernst … Leben wir zur Zeit, als die sogenannten Gottesurteile in Brauch und Übung gewesen? Ist die Schröder angeworfene Beleidigung nun gesühnt? Ist der halbblinde Schröder nun kein patentdeutscher Hund mehr, und ist der Krowot für seine Anrempelung gezüchtigt und gestraft? Anwort! … Das reinste Blech, sage ich.«

»Mensch!« brummt Köhler etwas verlegen, da er auf dies Fragen keine zutreffenden Antworten findet und finden kann. »Mensch, Du rüttelst an … an den Grundpfeilern unserer Vereinigungen, an dem durch Jahrhunderte geübten und durch jahrhundertelange Übung geheiligten Brauche.«

»Nicht im Mindesten. Ich habe weder die Absicht noch die Macht, an einem derartigen Unsinn u rütteln, aber ich werde so frei sein, im Verlaufe der nächsten Tage mein Aussprungsgesuch einzureichen.«

»Melcher! … Hunn'! …«

»Ja, ich tu es. Ich hab's schon gesagt und nehme mein Wort nicht mehr zurück. Ich könnte mir an den Kragen fahren, dass ich auch so dumm gewesen, die Geschichte auch als eine … eine Tugend anzusehen, und dass ich Frau Schröder nicht gleich einen ganz anderen Rat gegeben habe.«

»Aber wer konnte denn so einen Ausgang voraussehen?« wendet Kaltenberger erregt ein. »Das ist heute schon fünfzigmal heraus gequatscht worden. Er kann den fürs Unglück? Und übrigens glaube ich, dass die Paukerei einen ganz anderen Ausgang genommen hätte, wenn Schröder nicht derart herum gesoffen hätte und mit vollem Verstande …«

»Ein Unsinn ist und bleibt der ganze Krempel, wendet man sich ihn so oder so«, unterbricht ihn Maier ebenfalls erregt. »Ich … Nein, ich habe meine Ansicht schon ausgesprochen, und … mich duldet es heute nimmer hier in dieser beängstigend schwülen Luft. Ich muss hinaus ins Freie … Heil!«

Er nimmt Hut und Stock und hastet davon.

Plan- und ziellos irrt er im Gewirre der Straßen und Gassen umher, zwängt sich durch das Gedränge der abendlichen Lustwandler und sinnt und grübelt vor sich hin, schilt und tadelt sich und macht sich die bittersten Vorwürfe … Was ist's jetzt mit dem armen Kommilitonen? Jahre emsiger Arbeit und zähen Fleißes liegen hinter ihm, eine alte Mutter hat jeden entbehrlichen Kreuzer für ihn und zu seiner Ausbildung geopfert und allweg ihre Hoffnung und ihre Hoffnungen in ihn gesetzt, er werde der Trost und das Licht ihrer alten Tage und der blinden, unglücklichen Schwester ein Hort und eine Stütze sein auf ihrem schweren Gange durch dieses Erdenleben, und nun … Kruzitürken und kein Ende! Das ist ein löblicher Brauch, einen von wegen der sogenannten wie ein Gummistrupfen dehnbaren Honorigkeit ins Unglück zu treiben!

Er will heimgehen, aber mittendrin fällt ihm ein, dass er den alles ebnenden Schlaf über solchen Gedanken und solchen Sinnen kaum finden dürfte, und er kehrt um und geht in die sogenannte »Giftküche«, wo zumeist nur Mediziner verkehren, die dem sonst tadel- und einwandlosen Lokale wahrscheinlich auch den Namen aufgeprägt haben dürften, und führt das Hinwegtäuschen über die anwidernde Wirklichkeit auf gewaltsamem Wege herbei.

*

Am andern Tag erkundigt sich Ritter, ob es angängig wäre, dem kranken Freunde einen Besuch abstatten zu können, und als dies erlaubt wird, macht er sich auf den Weg. Am Korridore trifft er einen noch ziemlich jungen und ganz und gar unscheinbaren Mann, der seit Kurzem erst als Professor für Augenheilkunde hier wirkt, dem aber ein gewaltiger Ruf vorausgeeilt. Und bei dem erkundigt er sich vorerst angelegentlich über den Stand der Dinge und über allenfalls vorhandene Hoffnungen.

»Das eine Auge ist vollständig und unrettbar verloren«, bescheidet der Professor. »Aber ich glaube, dass begründete Aussicht vorhanden ist, die Sehkraft des anderen, bisher schlechteren Auges so zu stärken, dass dem Manne der sehr bedauerliche Fall nicht besonders hinderlich sein dürfte in seinem ferneren Fortkommen.«

»Gott sei Dank!« atmet Ritter auf. »Das Unglück wäre sonst ein großartiges gewesen. Seine Schwester ist nämlich auch blind, und er ist ihre einzige Stütze und Hoffnung.«

»Ja, ich habe mir gestern noch davon erzählen lassen«, nickt der Professor. »Es ist überaus traurig, wenn es in einer Familie so arg kommt, aber … ich habe mir vorgenommen, die Dame einmal auf meine Privatklinik bitten zu lassen und die Sache in aller Ruhe und aller Gründlichkeit zu untersuchen. Vielleicht ließe sich doch irgendetwas machen …«

»Herr Professor worden damit …« hastet Ritter in freudiger Aufwallung heraus, bricht aber plötzlich und kurz ab.

»Nur nicht schon vorher Jubelhymnen anstimmen, Herr … Herr …!« dämpft der Professor diese überschwängliche und voreilige Hoffnungsfülle. »Zwischen Wollen und Erreichen liegt allemal noch eine ganz kleine Kleinigkeit: Das Gelingen … Guten Tag!« Und er geht seines Weges weiter.

Ritter aber fühlt etwas in seinem Brustkasten, als wären dort eine Unmenge rühriger Ameisen von starrem Winterschlafe erwacht und krabbelten und kröchen nun nach allen Richtungen auseinander und über einander.

Herrgott in Deinem Himmel! Das wenn wäre!

Schröder ist sichtlich gerührt, als der Freund und Kommilitone zu ihm kommt, ihn tröstet und ihm eitel frohe Hoffnung vorspiegelt, und als er auch noch von dem Vorhaben des jungen Professors erzählt und nahezu nochmals so viel als gewiss hinstellt, was dieser nur als möglich angedeutet, fliegt ein hoffnungsfreudiges Lächeln über das blasse, gramentstellte Gesicht des Kranken.

»Du, Ritter, das wenn wäre, was fragte ich nach meinem Auge?

»Der hat das Zeug dazu …«

Als die Besuchszeit abgelaufen und Ritter wieder auf der Gasse steht, fällt ihm plötzlich ein, dass er diese Botschaft seliger Hoffnung doch in erster Reihe dorthin tragen muss, wohin sie eigentlich gehört: zu Schröders Angehörigen.

Und als ob er wer weiß was versäumte, eilt er dahin, an dem ihm entgegen hastenden Menschengetriebe vorüber und nicht rechts, nicht links schauend. In der Nähe der Schröder'schen Wohnung rennt er an Maier an, der gerade seinen Zögling spazieren führen will.

»Ja, was ist denn in Dich gefahren?« staunt und wundert der. »Du kommst ja daher wie ein Amokläufer oder ein durchgegangenes Schnauferl.«

»Du bist es? Ja, weißt Du, ich habe mich eigentlich in so eine Art Aufregung hineingelaufen«, entschuldigt sich Ritter gewissermaßen. »Ich war bei Schröder und … weißt Du, der hat mir eigentlich eine Botschaft an seine Familie aufgetragen«, fügt er hinzu, um den Gang halbwegs zu rechtfertigen. »Der junge Professor, der erst zu Beginn dieses Semesters hergekommen ist, meint, es dürfte ihm gelingen, die Blindheit Fräulein Lottes zu heilen. Wie er heißt, weiß ich nicht.«

»So? Der? Na, da bin ich wirklich neugierig …«

»Das soll ich auch bei Schröders vermelden, hat er gesagt.«

Und er hastet weiter und hört nicht auf das Nachrufen Maiers, der ihm noch ans Herz legen möchte, des einmal erhaltenen Rates jetzt doppelt eingedenk zu sein.

Frau Schröder sitzt am Fenster, hält die Hände in den Schoß gefaltet und schaut mit ihren fast fleischrot geweinten Augen stier und ziellos durch die Scheiben, und Lotte lehnt eng an sie geschmiegt an ihr und atmet von Zeit zu Zeit schwer und tief auf. Keine der beiden redet ein Wörtlein, aber es mögen die gleichen Gedanken sein, die sie beschäftigen, und das gleiche, trübselige Sinnen mag sie beherrschen.

Als Ritter eintritt, wendet sich Frau Schröder nur ganz unmerklich mit dem Gesichte der Türe zu und sieht den Besucher fragend und sichtlich nicht sonderlich erbaut an. Sie kann keinen von all denen mehr leiden, die ihren Sohn ins Unglück geredet.

»Waren Sie vielleicht bei Michel, Herr Ritter?« fragt Lotte hastig. Sie hat ihn trotz seines eiligen Ganges am Tritte und dann am Anklopfen erkannt.

»Ja.«

»Bringen Sie vielleicht irgendeine Nachricht?« fragt Frau Schröder kühl.

»Gewiss, Frau Schröder, und zwar verhältnismäßig sehr gute Nachrichten«, versichert Ritter.

»Dann bitte sich zu setzen! Erzählen Sie!«

»Wie steht's mit Michel?« fragt Lotte ungeduldig. »Kann das Auge gerettet werden?«

Dumme Frage! Soll er gleich mit dem trockenen Nein herausrücken? Ach was! Solange der Trost vorhält, solange ist dem Menschen etwas leichter. Und die zweite Nachricht, die er zu bringen hat, dürfte sich entschieden als Grundlage für weitere Mitteilungen empfehlen.

»Die Professoren hegen die besten Hoffnungen«, umschreibt er. »Ich bin auf dem Korridor mit dem jungen Spezialisten für Augenkrankheiten, der erst vor einiger Zeit hergekommen ist, zusammengetroffen und habe ihn gleich interviewt. Es ist ihm, wie er sagte, gestern noch von Ihnen, Fräulein Lotte, erzählt worden, und er hat im Sinne, Sie zu untersuchen und wahrscheinlich zu heilen.«

»Mich?« dehnt Lotte fast enttäuscht heraus.

Über Frau Schröders gramverzerrte Gesichtszüge huscht es bei der Rede wie der Widerschein eines lichten Strahles. »Meinen Sie wirklich?« fragt sie hastig.

»Meinen! Was kann unsereiner meinen? Aber der Professor ist, so viel früher schon geredet worden, etwas wie eine gewaltige Autorität in diesem Fache, und wenn sich so einer nicht halbwegs sicher wüsste, glaube ich, nähme er sich nicht aus freien Stücken um so eine Sache an.«

»Das ist wohl wahr …« gibt sie zu, und ihre Stimme zittert merklich. »Lotte, dann gehen wir noch heute, suchen den Professor auf und bitten ihn …«

»Ich … gebe mich keiner täuschenden und trügerischen Hoffnung mehr hin«, meint Lotte darauf und müht sich, ihrer Stimme nicht anhören und anmerken zu lassen, wie schwer diese Erkenntnis auf ihrem jungen Leben lastet.

»Wer weiß?« widerredet Ritter fast zärtlich. »Ein Versuch, Fräulein Lotte! Was liegt daran? Und es könnte doch einmal gelingen. Dieser Professor soll in seinem Fache sehr tüchtig sein und schon manches schier Unmögliche geleistet und vollbracht haben.«

»Gehen wir!« drängt Frau Schröder.

»Wenn Sie erlauben, geleite ich Sie bis zu ihm«, trägt sich Ritter an.

»Wer weiß, ob er überhaupt anzutreffen ist?« stellt Lotte vor. »Vielleicht auch, dass er jetzt gerade keine Zeit hätte …«

»Das ist immerhin möglich«, gibt Ritter zu. »Aber wissen Sie was? Machen wir es so: Ich sage heute oder morgen noch dem Professor, dass Sie morgen im Sinne hätten, ihn zu besuchen; er möchte Ihnen die ihm dazu gelegenste Zeit angeben. Dann hole ich Sie ab. Nicht wahr?«

»Ja … Gott schicke endlich doch einmal Hilfe!« seufzt Frau Schröder und faltet die Hände wie zum Bittgebete.

Das Gespräch gerät ins Stocken, und Ritter empfiehlt sich und geht.

Als er aber die Stiege herunter stampft, fragt Lotte langsam und zage: »Meinst Du wirklich, Mutter, dass es für mich noch irgendeine Hilfe geben könnt? O … nur Dich wenn ich einmal sehen könnte, Dich und die Sonne, die manchmal so warm durchs Fenster scheint!«

»Kind, Du weißt, wie ich das ersehnte! Es könnte immerhin noch sein, trotzdem so viele schon all' ihre Kunst versucht; es ist nichts unmöglich … und dann …«

Sie bricht kurz ab und geht in die Küche, um einem hervorbrechenden Tränenstrom freien Lauf zu lassen.

Lotte aber lehnt sich zurück in die Fensternische und öffnet ihr Herz und ihr Sinnender schüchtern anschleichenden Hoffnung und malt sich in ihrer Weise aus, wie schön es sein würde, wenn sie sehen könnte, wirklich und wahrhaftig sehen wie die andern alle. Wie die Mutter sein würde, deren Gesicht und Körper sie nur vom Tasten kennt, und wie die Sonne, deren Wärme sie wohl spürt, deren Schein in ihren Augen auch eine Art blutroten Schimmer hervorzaubert, von der sie sich im Übrigen aber nicht die geringste Vorstellung machen kann? Wie Michel aussähe und seine Kommilitonen …, die Stadt, Wiesen und Felder und all' das, von dem man ihr schon so oft erzählt?

Wenn es der Himmel schickte, dass sie sehend würde! …

*

Maier hat sein Aussprungsgesuch eingebracht.

Es trifft sich aber, dass Ritter, Träger und Färber ungefähr denselben Gedanken bekommen haben, der nach diesem Vorfalle unbegreiflicher Weise geradezu in der Luft zu liegen scheint, und um Entlassung nachsuchen. Der erstere weiß ohnehin klipp und klar, wie sein Alter dieser Angelegenheit gegenübersteht, und die zwei andern haben mehr oder minder Ursache, etwas Ähnliches zu wähnen und einem möglicherweise eintretenden Falle bei Zeiten vorzubeugen.

Der weitere Bestand der Asgardia ist für den Fall, als dasselbe Gelüste noch etliche angehen sollte, fast gefährdet. Köhler geht auch in absehbarer Zeit ab, und vier oder fünf werden sich doch nicht etwa zusammensetzen wollen, drei Chargierte und ein oder zwei Füchse.

Man trommelt einen B. C. und A. C. Burschen-Convent und Allgemeinen-Convent. zusammen, aber es kommt fast niemand. Am folgenden Tage jedoch prangt die offizielle Einladung auf der Couleurtafel. Es handelt sich um eine sehr wichtige, dringende Angelegenheit.

So folgt man denn, aber die Asgardia hat ihr früheres Aussehen verloren. Das freud- und übermutprickelnde Gehaben ist bis auf ein schäbiges Restchen zusammengeschrumpft, und zumeist nur Leute mit ernsten Gesichtern sitzen um die Tafel. Man redet und widerredet hastig und teilweise sogar erregt und deutet heftig hin und wider.

»Wenn ich beleidigt werde, dann könnte und will ich von dem Sühnemittel auch verhoffen, dass durch es die Beleidigung wirklich gesühnt und dass der Beleidiger durch es auch gestraft werde«, redet Träger. »Aber das ist ein Widersinn, einfach ein Blech, wenn ich mir neben der Beleidigung auch noch eine Züchtigung und Strafe gefallen lassen soll und gegebenen Falles auch gefallen lassen muss. Da ist es doch weitaus vernünftiger, wenn ich auf diese sehr zweifelhafte Mittel von Vornherein verzichte und einfach zum Kadi gehe und den Missetäter verklage …«

»Dasselbe Blech«, brummt Ritter.

»Du steigst hinein!« knurrt Köhler. »Rede nicht in ein Fach, von dem Du absolut nichts verstehst. Was geht Dich unsere Juristerei an?«

»Na, gar zu stark darfst Du mit eurer Gerechtigkeit auch schon nicht renommieren«, kommt Hacker Ritter zu Hilfe. »Wenn nur das Zehnte wahr ist, was man so liest und hört, wie es bei euch im und am Lande zugeht, dann reicht es.«

»Kann ich dafür?«

»Ein Unsinn, einen speziellen Fall verallgemeinern zu wollen«, tadelt Kaltenberger. »Ein Zufall, ein Unglück, das einem auf der Gasse und sogar im eigenen Hause zustoßen kann! Die ältesten Leute können sich nicht erinnern, dass so etwas je vorgekommen wäre, und es können wieder fünfzig oder hundert Jahre vergehen, ohne dass sich annähernd Ähnliches ereignet …«

»Übrigens ist Schröder selbst nicht ohne Schuld«, unterbricht ihn Breit. »Wenn ich einen solchen Tag vor mir habe, trinke ich mir keine Nervenschwäche an …«

»Hat ihm jemand in sein Herz gesehen, in seine Gemütsecke? Vielleicht hat er dies nur getan, um über den Zwiespalt und Widerstreit zwischen Sohnespflicht und Honoritätsgebot wegzukommen, um zu …«

»Brauchst Du vielleicht ein Wörterbuch?«

»Mach' keine dummen Witze in ernster Zeit. Das Richtige ist es entschieden nicht, sage einer, wie er nun sagen will.«

»Ja, zum Teufel!« braust Köhler auf. »Soll denn gerade die Asgardia der Gipfel aller Vollkommenheit sein, nachdem alles Menschliche mehr oder minder unvollkommen, und kann sie dieses sein, nachdem sie euch zu ihren Mitgliedern zählt?«

»Selbst Mitglied.«

»Auf diese Weise kommen wir immer weiter auseinander …«

»Wir sollen aber beisammen bleiben.«

»Es ist ohnehin schon so viel, als dass die Asgardia flöten gegangen ist.«

So redet und schwatzt man durcheinander, bis der Erstchargierte den A. C. eröffnet und Zweck und Ziel desselben bekannt gibt: Die und jene wollen ausspringen; die Asgardia steht der Gefahr nahe, eingehen zu müssen, aber sie darf nicht in die Brüche gehen wie ein baufällig gewordenes Haus.

Darf nicht! Wer kann ein gewaltsam Auseinanderstreben hindern?

Da meldet sich Köhler, der alte Asgarde, zum Worte.

»Kommilitonen! Asgarden!« fängt er an. »Verschließet in ernster Stunde nicht ernstem Worte eure Ohren und eure Herzen, denkt und fühlt mit mir, und fühlt, was sich nicht so ohne Weiteres in dürre Worte fassen lässt … Wir sind Asgarden, und – wir wollen Asgarden bleiben. Ich war bei der Gründung dieser Vereinigung, und ich war einer der Wenigen, die gerade diesen Namen vorgeschlagen für den jungen Bund. Und warum? … Die Mythologie des germanischen Nordens bezeichnet mit dem Namen Asgard die Wohnung der Asen, eines Göttergeschlechtes, und man leitet den Namen dieses Geschlechtes mit Recht oder mit Unrecht von dem Wurzelworte Aus ab, im bildlichen Sinne genommen, als die Balken und Stützen des Weltgebäudes, der Weltordnung und besonders der sittlichen Weltordnung betrachten … Der sittlichen Weltordnung, meine Herren! Und wir haben diesen Namen gewählt, haben uns Ziele gesteckt, die in der Erreichung und in der Hochhaltung der sittlichen Weltordnung gipfeln, haben es jedem einzelnen zur moralischen Pflicht gemacht, nicht nur den Kopf mit Wissen vollzustopfen, sondern auch uns in jeglicher Tugend zu üben, haben uns zusammengeschlossen, um einen Hort zu haben, eine Pflegestatt für gemeinsames Streben nach diesen Zielen und gegenseitige Aneiferung und Stütze, und nicht zum Wenigsten eine stille Insel, wohin wir uns vor den Gefahren der Großstadt retten und flüchten können und retten sollen. Jeder von euch weiß, was ihm die Asgardia, unsere Vereinigung, geworden ist und ist, und – jetzt soll sie in die Brüche gehen? Der Glanz des Dreifarbes Schwarz-gold-rot soll verblassen und verlöschen? Das Band, das unsere Brust, unsere Herzen und unser gemeinsames Streben umspannt, soll zerreißen? Unmöglich … Ein Vorkommnis der letzten Tage hat den Anstoß hierzu gegeben, und ich gestehe offen, dass es sehr bedauerlich ist, dass solches hat vorkommen und sich ereignen können, dass vielleicht manches daraus entspringende und darauf basierende Bedenken gerechtfertigt erscheint, aber … wir dürfen nicht tasten und nicht tasten lassen an die Eigenheit unserer Verbindungen. Es ist erwähnt worden, dass seit Menschengedenken kein ähnlicher Fall sich ereignet und dass vielleicht hundert Jahre vergehen und vorüberziehen können, bis sich wieder ein solcher, gleich bedauerlicher Zufall ereignen kann … Was treibt euch also aus dem lieben, stillen, gastlichen Heime, aus der, einem wohl eingefreiteten Rosengärtlein gleichenden Verbindung, aus der Mitte der Kommilitonen und Freunde? Was heißt euch das ideale Band zerreißen? Ein anderer, der euch nicht oder der euch nur weniger kennte, möchte vielleicht wähnen, es wäre Feigheit, es wäre Furcht vor der Waffe, es wäre meinetwegen zu übertriebene Vorsorglichkeit; ich kenne euch, und nichts liegt mir ferner als solches Wähnen. Daher frage ich nochmals ganz verwundert: Was reißt euch fort aus unserer Mitte, aus dem Kreise der Freunde? … Beantworte sich jeder diese Frage selbst und in seiner Weise, betrachte jeder die Ziele der Verbindung, dies und jenes, und wenn er dann die richtige Antwort gefunden hat, dann sehe er sich noch einmal um in jedem Winkel des alten, lieben, rauchgeschwärzten Raumes, sehe die Kommilitonen der Reihe nach an, und wenn er es übers Herz bringt, das Asgardenband von seiner Brust zu reißen und zu gehen, dann … gehe er … Ich habe geredet.«

»Wacker, altes Haus!« nickt Kaltenberger. »Ein Spezielles! … Wer es übers Herz bringt, der gehe!«

Da hebt sich Maier und meldet sich zu Rede.

»Kommilitonen! Köhler, der alte Asgarde, hat geredet, dass ihm nicht leicht einer entgegnen und widerreden kann. Er hat uns halbe Abtrünnige an einer Stelle gepackt, wo uns das Fortgehen doppelt schwer gemacht wird …«

»Gut, dass Du kein Jurist wirst«, flüstert ihm Träger zu. »Du gäbest einen traurigen Verteidiger, der gleich alles schlankweg zusagte. Mit Schwung! Nego!«

»Er will bleiben … Er bleibt doch! … Heil ihm!«

»Köhler hat uns do von Weitem herum einer Tugend bezichtigt, die kaum einer von und besitzen dürfte, und wir müssen diese Zumutung ebenso entschieden als freundschaftlich zurückweisen. Nicht Feigheit oder übertriebene Vorsorglichkeit treibt uns aus der Asgardia, sondern Missfallen an einem sich selbst überlebt habenden und heute nicht mehr berechtigten, ja sogar verwerflichen Brauche … Köhler hat etwas von der sittlichen Vollkommenheit erwähnt, der entgegen zu streben eines der Ziele der Asgarden wäre. Gut. Ich brauche kein Wort zu verlieren über die herrlichen Ziele und die erzielten Erfolge der Burschenschaften und Verbindungen; ich frage aber: Gehe ich da den Pfad zur sittlichen Vollkommenheit, wenn ich dem Mit- und Nebenmenschen mit der Waffe in der Hand entgegentrete? Trage ich zur Erreichung oder zur Hebung der sittlichen Weltordnung bei, wenn ich die rohe Kraft sinnlos walten lasse, wenn ich vorsätzlich trachte, dem Körper meines Mitmenschen zu schaden, wenn ich es einem blinden Zufalle anheimstelle, meines Mitmenschen Gesundheit oder Leben oder die meines eigenen Leibes in Gefahr zu bringen? Ich glaube kaum, dass damit solchem Ziele zugestrebt wird, ich glaube und behaupte lieber das gerade Gegenteil … Ein Vorkommnis der letzten Tage hat einen lieben, werten Freund knapp an den Rand lebenslänglichen Unglückes geschleudert und so recht deutlich gezeigt, wie verwerflich der ganze Unsinn der Herumpaukerei ist. In einem speziellen Falle ist gesagt worden, der Vater, der Erhalter und Ernährer des Sohnes habe Rechte und mache diese Rechte geltend. Gut; es ist dagegen nicht das Mindeste einzuwenden. Das Kind, der Minderjährige haben Grund, Ursache und die Pflicht, sich dem Willen des Vaters oder der Mutter zu fügen, und der gute, einsichtsvolle und dankbare Sohn wird auch nach erlangter Großjährigkeit den Wunsch der Eltern achten und dem Raten oder Bitten derselben kein taubes Ohr entgegenhalten … Ein anderer Fall! Schröder hat eine alte Mutter, der er im Alter der Trost ihres Lebensabends sein soll, und er hat eine blinde, hilf- und stützelose Schwester, die seiner bedarf auf ihrem ganzen, ferneren Lebenswege, soll sie nicht in der Öde eines fremden Hauses ihr elend Leben noch elender verbringen. Er hat Pflichten, denen er sich unmöglich entziehen kann und … Lassen wir aber die schon zur Genüge erörterte Sache hiermit nur kurz und als Beweis erwähnt sein, und hoffen wir das Beste für Schröder und seine Angehörigen … Ein Dritter, und sei es wer immer, hat ein Leben vor sich liegen, ein Leben als Einzelindividuum, als Angehöriger einer Familie, eines Volkes und als Staatsbürger. Soll und darf er sich eines – wie die Herrn wohl alle zugeben werden – nur allzu dehnbaren Begriffes wegen in eine Gefahr begeben, wo ihn ein Zufall vorübergehend oder auch dauernd an der Gesundheit, an seinem ferneren Fortkommen schädigen kann? Hat er ein Recht, in unüberlegter Stunde sich oder einem andern, für den genau derselbe Fall und dieselben Voraussetzungen vorhanden, dieses Leben zu verschänden, sich einen Fehler, ein Leiden zuzuziehen, der oder das ihn unfähig macht, seine Pflichten gegen sich selbst, gegen seine Angehörigen und gegen sein Volk voll und ganz erfüllen zu können, der oder das ihn möglicherweise sogar den andern oder der Allgemeinheit zur Last und daher zum Gespötte werden lassen könnte? … Nein und immer nein!! Ich spreche es hier offen und aufrichtig, und ich hoffe, aus den meisten Herzen zu sprechen: Nein! Niemand von euch wird mir nachsagen können, ich wäre einer von der zagen Sorte, aber ernste Zeit erfordert ernstes Denken und ernste Rede … Ich springe wahrhaftig ungern aus, zumal es doch schon nimmer recht dafür steht, und ich bliebe von Herzen gerne Asgarde …«

»Heil Dir!« brummt Hacker.

» … Wie gesagt, ich bliebe und bleibe, wenn der Antrag, den ich in Folgendem stellen und begründen will, zum Beschlusse erhoben werden könnte. Die ernste Stunde zwingt zu ernster Betrachtung und zu ernstem Beschlusse … Ihr werdet alle zugeben müssen und zugeben, dass die von mir vorgebrachten Bedenken wider das leider übliche »Schlagen« berechtigt sind, und das Erkennen einer Wahrheit heischt deren Annahme … Es ist wohl ein alter, ehrwürdiger Brauch, gegen den wir hier zu Felde ziehen wollen und ziehen sollen, aber er ist veraltet, er hat sich überlebt; Zeiten, Menschen und deren Ansichten sind andere, mildere, humanere geworden, und wir, die freien Söhne einer freien Zeit fügen uns nicht einmal dem Brauche zum Knechte. Wir tun lediglich das, was wir für gut und recht erkennen, und wir lassen das, was wir für ungut und zumindest entbehrlich ansehen. Wir wollen uns in der Führung der Waffen üben, um in ernster Zeit gegebenen Falles gewappnet da zu stehen, aber wir halten es unser und unserer Gegner unwürdig, die Sühnung einer sogenannten Beleidigung einem so unzuverlässigen Sühnemittel anheimzustellen, wie es das Schlagen oder gar der Zweikampf ist. Wir wollen es unser und unserer Gegner für unwürdig erachten …«

»Der Effekt ist da! Brich ab, sonst schwächst Du nur den Eindruck und die Wirkung ab!« flüstert ihm der Erstchargierte zu.

Maier mag vielleicht selbst eine Ahnung davon haben und bricht kurz ab. »Ich glaube, ihr werdet mich verstehen, was ich gesagt habe und was ich sagen wollte, und wie ich mir die Asgardia, in der ich verbleiben könnte und würde, fürder denke.«

»Zu solchem Beginnen sind wir entschieden zu wenig Leute«, erklärt Kaltenberger.

»Wäre nicht übel!« widerredet Maier. »Wir sind und bleiben Asgarden und stehen auf dieser neuen Basis. Wen geht es an, wie wir uns stellen und wie wir uns unsere Verbindung schaffen wollen? Keinen Menschen.«

»Dann sind wir ebenso verfehmt wie die nichtschlagenden >katholischen< Ferdinanden.«

»Mit welchem Rechte? Und merkt nur auf, ob wir lange allein stehen werden! Alle gemäßigten Elemente werden sich entweder uns zugesellen oder Verbindungen auf der von uns gegebenen Basis gründen.«

»Wer weiß?«

»Zum Teufel! Dann stehen wir eben allein«, geht Träger in die Hitze. »Wir sind uns dann selbst genug, und wir brauchen durchaus keine Veranlagung zum sogenannten Herdevieh zu besitzen und zu zeigen. Ein Mann steht allweg auf dem Standpunkte, den er als den jeweils richtigen erkannt hat, und wenn er ganz allein stände in der weiten Welt, allein mit seiner Ansicht und seiner Überzeugung.«

»Dann werden uns die schlagenden Verbindungen erst recht anrempeln und uns alle Tage eine Mensur aufzwingen wollen.«

»Dass es dafür keine Hilfe gäbe? Zahlen nicht unsere Eltern genauso gut mit für die Besoldung derjenigen Faktoren, die zur Wahrung der Ordnung und zum Schutze des einzelnen zivilen oder akademischen Bürgers aufgestellt sind? Haben uns diese Faktoren nicht in unserer Ruhe zu sichern? Das wäre nicht übel!«

»Wer weiß?«

»Wer ist dafür, und wer dagegen?« fragt Breit, um endlich zu einem Ziele zu kommen.

Die Mehrzahl der anwesenden Asgarden erklärt sich für den Antrag, und es wird beschlossen, ein Komitee zur Ausarbeitung, beziehungsweise Umarbeitung der Satzungen im Sinne dieser weittragenden, reformatorischen Anträge einzusetzen.

Dieses hätte sich seiner Aufgabe in absehbarer Zeit zu entledigen und den Entwurf dem A. C. vorzulegen: eine »Asgardia«, wie sie bisher gewesen ist, die aber den Unsinn des »Schlagens« nimmer mitmacht und sich auch keine speziell konfessionelle Bezeichnung beilegt.

*

Und hat der Bursch nun ausstudiert,
So reiset er in patriam
Mit seinen Heften ausstaffiert,
Und heißt ein grundgelehrter Mann.

Eduard Köhler, beziehungsweise J. U. Dr. Eduard Köhler pustet wie eine Lastzugslokomotive und schimpft und zetert in allen Tonarten.

»Dir reinste Vivisektion! Jedes Weisheitskrümmchen wollen die Leute sehen und erschnuppern, das man möglicherweise in ihren Hörsälen aufgelesen haben könnte …«

»Haben sie in Dir etwelche entdeckt?« neckt Werner.

»Für Deine unzeitgemäße und respektlose Neugiert steigst Du einmal hinein! … Kerl, ich hätte selbst nicht geahnt und verhofft, dass so viel in mir steckt.«

»Bescheidenheit ist eine Zier, doch …«

»Pro pena eine Ganze! … Kinder, ich sage euch; Ihr habt keine blasse Ahnung, wie der Mensch zu guter oder unguter Letzt noch geschunden und malträtiert wird. Der Plunder hole alle Professoren mitsamt ihrer unbezähmbaren Neugier! Wenn man einen alten Droschkengaul so schinden würde, schrien die gesamten Tierschutzvereine in ganz Europa Zeter und Mordjo; beim vernünftigen Menschen ist das erlaubt … Wär' ich nun nicht schon ein wohl … ein … in aller Form graduierter Doktor, eine reputable Respektsperson, ich könnte und wollte schimpfen wie ein Rohrsperling. Wer weiß, ob Du Dir Deinen Doktor so ehrlich und so sauer verdient hast?« wendet er sich an Maier, der ebenfalls promoviert hat.

»Eine Erkältung habe ich gerade auch nicht bekommen«, lächelt der. »Sie haben mir anständig untergeheizt und warm gemacht. Wir Deutschen müssen uns unsere Sachen und Würden ehrlich verdienen, und unsere Professoren sehen strenge darauf, dass nicht etwa einer durchrutsche, der ein Quäntlein zu wenig weiß, wogegen, wie überall geredet wird, tschechischerseits die »Intelligenz« nur so fabrikmäßig hergestellt wird, um damit das ganze Land und das ganze Rich überschwemmen und überfluten und überall Tschechisierungsapostel hinsenden lassen zu können.«

»Traurig, aber wahr. Nun, weil nur wir zwei über den Rubikon sind! Die andern mögen sich auch nach Kräften durchplätschern … Du, Melcher: Seh' ich einem graduierten Menschen halbwegs ähnlich?«

»Es dürfte gerade der Entpuppungsprozess vor sich gehen.«

»Gewiss«, bestätige Färber Köhlers Frage. »Ein Doktor zweier Rechte, wie er im Buche steht; ein Doktor des Unrechts und einer des Rechtes.«

»Loki, sei so freundlich und ärgere mich nicht mehr! Ich möchte noch einen halbwegs guten Eindruck von Dir mit fortnehmen. Ich habe Dich nicht gebeten um Dein scharfsinniges Urteil, und im Übrigen solltest Du so gut erzogen sein, Würden und Alter nach Gebühr zu ehren.«

»Ad notam genommen.«

»Schade, dass Schröder nicht mit dabei sein kann!« meint Maier. »Zwei ganz frisch aus der Pfanne gehobene Doktoren auf der Bude! Wie der sich freuen würde!«

»Ja, was ist's denn mit den abgeänderten Satzungen?« fragt Träger. »Hat sich ein wohllöbliches Komitee überhaupt schon an die Arbeit gemacht?«

»Der Entwurf ist soweit fertig«, bescheidet Werner. »Vielleicht wird er morgen schon einer geneigten Begutachtung unterbreitet.«

»Kommt Schröder schon bald heraus?« fragt Hacker.

»In einigen Tagen.«

»Und wie steht's mit ihm?«

»Es ist doch besser gegangen, als es anfänglich das Aussehen gehabt. Die Professoren sagen, die Sehkraft des linken Auges hätte sich nun schon so gebessert, dass sie hinter der normalen kaum viel zurückbliebe. Für einen Neuphilologen soll er ziemlich genug sehen.«

»Na, Gott sei Dank!«

»Neugierig bin ich auf das Experiment mit seiner Schwester«, meint Breit. »Wenn die Operation nach Berechnung ausgefallen, dann hat dieser Farnbacher eine Leistung …«

»Geleistet«, ergänzt Hacker scherzend.

»Du steigst hinein!«

»Heute wird aber dem Rodensteiner eine Bierkarte nach Perosa geschickt«, sagt Kaltenberger und holt schon einen Bleistift aus der Tasche. »Zwei Doktoren! Ob ihn nicht doch noch eine Sehnsucht überkommt nach der rauchgefüllten Bude der Asgarden und er eines schönen Tages daher gestürmt kommt mit Koller und Kanonen?«

»Der nimmer«, widerredet Maier. »Er hat mir einmal so ziemlich alles erzählt, was ihn zu diesem Schritte gedrängt, und ich glaube, wenn einer einmal so weit gekommen mit sich, dass er diesen Pfad gesucht und gefunden als Lebensweg, der kehrt nimmer um.«

Da kommt Ritter daher mit hochrotem Gesichte und freudstrahlenden Augen, und während er Stock und Mantel an den Nagel hängt, trällert er eine Weise aus dem »Rattenfänger« vor sich hin.

»Ein fahrender Sänger
Von niemand gekannt,
Ein Rattenfänger
Durchzieh' ich das Land …«

»Vielleicht schon auf Geschäftsreisen?« neckt Hacker daraufhin, aber Ritter reagiert gar nicht darauf.

»Bier her!«

»Mensch, wo treibst denn Du herum, wo doch die Asgardia ein solches Freudenfest feiert?« tadelt Werner.

»Sie sieht.« Einem Jubelschrei gleicht diese Rede.

»Wer sieht? … Was sieht? … Wer sie?«

»Lotte … Schröder sieht.«

»Schon? … Wirklich? … Warst Du vielleicht irgendwo in der Nähe?«

»Ja, ich war mit Frau Schröder dort, als ihr die Binde abgenommen worden. Sie sieht, und alles ist außer sich vor Freude von vor hellem Entzücken. Rührend, sage ich euch. Wenn eins vor Freude geweint hätte, ich glaube, ich hätte auch so eine Anwandlung bekommen. Aber selbst Frau Schröder ist dies strenge untersagt worden, um der Tochter kein schädliches Beispiel zu geben. Nein, die Stunde werde ich mein Lebtag nicht vergessen … In hellem Staunen ist sie gesessen und hat nicht gewusst, wen oder war sie zuerst betrachten soll, und wer der oder jene ist. Nicht einmal die Mutter hat sie dem Sehen nach gekannt, den Bruder auch nicht, keines. Erst am Klange der Stimme hat sie sich die Leute zusammensuchen müssen. Und das Schauen! Das Schauen! … Nein, ich habe mich drücken müssen, ehe es zu dem in Voraussicht stehenden Freuden- und Gefühlsausbruche gekommen. … Bier her! Wo steckt denn so ein Kerl von einem Ganymed?«

»Bier her!« brüllt auch Köhler. »Verdammte Sauwirtschaft! Will man einen neugebackenen Doktor mit aller Gewalt und vorsätzlich zur Mumie eintrocknen lassen? … Wenn dieser Usus einreißen sollte: wir können ausziehen auch, verstanden?«

Die Stimmung hebt sich mählich, und viel trägt dazu auch das freudige Ereignis in der Familie bei, der in der letzten Zeit so schweres Unglück gedroht und gedräut. Vielleicht hat gerade der so bedauerliche Zwischenfall den Anstoß gegeben, dass Professor Farnbacher von Fräulein Lotte gehört und erfahren, die und deren Familie kaum jemals mehr einen Versuch nach dieser Richtung hin unternommen haben dürften. Man scherzt und lacht, man reibt einen solennen Salamander, und man freut sich der kurzen Zeit, die man noch mit den zwei scheidenden Kommilitonen in der anheimelnden Bude beisammen sitzt.

Als aber Ritter einmal hinausgeht, hastet ihm Maier nach.

»Weißt Du noch, was ich Dir einmal geraten habe?« erinnert er. … »Wegen Fräulein Lotte«, ergänzt er, als ihn Ritter nahezu verständnislos anstarrt.

»O ja, ganz gut«, nickt der. »Aber … weißt Du, Melcher, die Sache ist jetzt anders, ganz anders … ganz normal … Du, ich kann Dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin.«

»Das mag alles sein, aber … halte Deinen Versand kühl! Das Übel scheint in der Familie erblich zu sein oder so … etwas.«

»Prosaiker!« brummt Ritter verlegen. »Wir … wir werden ja sehen.«

In seinem Herzen aber wogt und wallt die Freude gleich einem im Talkessel liegenden Nebelgeschwade, das der Morgenwind aufrüttelt und aufstört und das die erste Röte der aufgehenden Sonne mit rosenrotem Glast überstrahlt. …

Drinnen in der Bude steigt ein Kantus.

»Bemooster Bursche zieh' ich aus,
Behüt' Dich Gott, Philisterhaus!
Zur alten Heimat geh' ich ein,
Muss selber nun Philister sein …

Ihr Brüder drängt Euch um mich her!
Macht mir mein leichtes Herz nicht schwer!
Auf frischem Ross, mit frohem Sang
Geleitet mich den Weg entlang …«

Darauf hält Breit den Abschiedssprech, und die zwei abgehenden Kommilitonen versichern, stets in den Bahnen wandeln zu wollen, die sie als Asgarden als die rechten und richtigen kenne und übern gelernt: Ehre, Freiheit und Volk! Sie reden dies und jenes, was man eben in der Abschiedsstunde schon redet, und dann setzt man sich wieder enge zusammen und hält es, wie es die alten Deutschen gehalten, als sie noch an den Ufern des Rheines gelegen.

Als man endlich aber einmal aufbricht, hat Köhler eine etwas schwerere Zunge, als es für einen zünftigen Juristen mitunter wünschenswert ist.

»Sauwirtschaft!« brummt er im währenden Heimgehen für und vor sich hin. »Es ist elend ledern ein … eingerichtet, dass selbst so … eine Zeit ein Ende nehmen muss. Aber … Strich darunter!« Und er fährt mit seinem Stocke durch die Luft, als wollte er damit diesen Strich ziehen, der eine fröhliche Studentenzeit abschließen soll. »Summa Summarum: ein Doktor, und – was die Hauptsache ist – ein selbständiger Mensch, der nun seinem Herrn Stiefpapa kaum mehr um einen der notdürftig und … mühsam erheirateten Groschen wird kommen müssen … Man hat's eben nicht leicht; aber … schön war's, Melcher, gelt schön war es, scheußlich schön … Und … noch ein Heil der Asgardia, ein … Heil der gesamten deutschen Studentenschaft in Prag, unserer Gardewacht am Moldaustrande!« …

Am Morgenhimmel steigt der erste Lichtschein des kommenden Tages empor über das Häusermeer der Stadt.

Und über den Hradschin zieht eine Sternschnuppe in trägem Fluge …

*


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